Vishnu als Besieger der Schlange

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Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 3: Die Wächter des Lebens

Teil 4: Vishnu als Besieger der Schlange

Nachdem wir bereits Vishnu als den menschengestaltigen Widerpart der kosmischen Schlange betrachtet haben, gilt es jetzt, eine wichtige Reihe mythologischer Episoden vor Augen zu rufen, in denen er in der Rolle des Besiegers der Schlangenkraft erscheint.

Ein ziemlich isolierter Mythos, außer Zusammenhang mit den großen Zyklen der Inkarnationen Vishnus, ist der von der Befreiung des Elefanten (Bhagavata Purana, VIII, 2-3). Eine plastische Darstellung des Gescheh¬nisses befindet sich in einem Relief des Dasha-Avatär-Tempels zu Deogarh (Art 110). Ein herrlicher Elefant hat sich auf der Suche nach seiner Nahrung aus Lotosstengeln und -wurzeln zu tief in das feuchte Element hineingewagt, und die Schlangen der Tiefe haben ihn ergriffen und gefesselt. Das riesige Tier kämpfte ver¬geblich, bis es endlich die Hilfe des hohen Gottes anruft. Vishnu auf Garuda sitzend ist eben erschienen. Sein Eingreifen ist gar nicht erforderlich, denn seine Gegenwart genügt. Der mächtige Schlangenkönig zusammen mit seiner Königin unterwirft sich. Die Schlangen verneigen sich mit gefalteten Händen vor dem Herrn und Herrscher des Alls und liefern ihm ihre Beute aus. Die Füße des Elefanten sind noch in die unheimlichen Windungen ver¬wickelt. In diesem Denkmal der klassischen Guptaperiode (4. bis 6. Jahrhundert n. Chr.) hat der Vogel Garuda etwas von einem Engel, während Vishnu mit einem Diadem gekrönt ist und vier Arme besitzt. Ein breiter entwickelter Mythos ist der von der dritten Inkar¬nation oder des dritten Avatars, Vishnus Erscheinung in Gestalt eines Ebers 12. In diesem Fall ist die Erzählung von der Besiegung der Schlangenkraft in den großen Zyklus des universellen Evo¬lutionsvorganges eingefügt. Das Ereignis soll sich am Anfang des gegenwärtigen Kalpas vollzogen haben und wird als »Schöpfung durch den Eber« bezeichnet. Die Erde ist eben entstanden; die Weltkulissen für das wunder¬bare Drama der Entwicklung sind aufgestellt. Auf der festen Ober¬fläche werden nun Geschöpfe mit warmem Blut erscheinen, und aus diesen mag sich die Geschichte der Menschheit entfalten. Wie 1i Bhagavata Purâna, VIII, 2-3. 11 Visnu Purâna, I, 4. 88

ein Lotos auf der ruhigen Fläche eines Sees oder wie das mensch¬liche Bewußtsein auf der Dunkelheit des Unbewußten, ruht die Erde nun frisch und schön auf den Wassern des kosmischen Ab¬grundes. Aber der Lauf der Weltentwicklung ist Rückschlägen unter¬worfen. Nach indischer Auffassung wird er durch sich wieder¬holende Krisen bezeichnet, welche die Dazwischenkunft des Höch¬sten Gottes erfordern. Es gibt nämlich einen ewig drohenden Gegenstrom, der dem Entwicklungsstreben widersteht und von Zeit zu Zeit das schon Geformte aufhält, verschlingt und zurück¬nimmt. Diese Kraft wird in der klassischen Hindumythologie unter der Gestalt der machtvollen Riesenschlange des Weltenabgrundes geschaut 19. So kam es, daß gleich am Beginn des gegenwärtigen Zeitentages die neu hervorgeblühte Erde plötzlich von der Ober¬fläche des kosmischen Meeres in seine unterste Tiefe herabgeris-sen wurde. In diesem kritischen Zeitpunkt nahm Vishnu die Gestalt eines riesigen Ebers an. Als Warmblüter gehört der Eber der Erdsphäre an, aber er treibt sich gern in Sümpfen herum und ist darum mit dem feuchten Element vertraut. In dieser Gestalt taucht Vishnu in das kosmische Meer. Nachdem er den großen Schlangenkönig überwältigt und niedergetreten hatte, bis der Feind mit gefalteten Händen endlich seine Gnade anrief, umschlang der Höchste, in dieser Tiergestalt verkörperte Gott den lieblichen Leib der noch sehr jugendlichen Mutter Erde mit seinen Armen und brachte sie wieder zur Oberfläche des Meeres herauf, während sie sich an seinem Hauer festhielt. In Wirklichkeit ist Vishnu als das verkörperte Absolute nicht im Widerspruch mit dem Schlangenprinzip des Wassers. Dennoch muß in symbolischen Episoden wie dieser der Gott der Schlange 13 Wir glauben hier Heinrich Zimmer zu folgen, wenn wir an dieser Stelle an die Midgardschlange in der nordischen Mythologie erinnern, welche die Erde drohend umgibt, stets bereit, ihre Geschöpfe und das All selbst zu ver¬schlingen. — Anmerkung des tYbersetzers. 89

entgegentreten. Sie muß in Schach gehalten werden, weil sie die weitere Entwicklung des Alls gefährdet. Sie verkörpert wohl die allenthaltende Substanz Vishnus, aber auf einer primitiven Diffe¬renzierungsebene. Wenn sie sich jenseits der ihr gesetzten Grenzen in einem späteren Stadium des kosmischen Zyklus betätigt, droht sie die Welt in den ungeformten bewußtseinslosen Zustand der Anfänge zurückzuwerfen. Zu jener Zeit gab es noch kein All, nur die Nacht und den unermeßlichen Schlaf des unendlichen Meeres. Vishnu begegnete diesem rückschrittlichen Streben seiner eigenen Substanz, indem er Gestalt annahm und die Rolle des Weltschöp¬fers und -erhalters spielt — in der vorliegenden Episode in der warmblütigen Tiergestalt eines Ebers. Das Geschehnis wird großartig in einem Relief aus Udayagiri, Gwalior, 440 n. Chr., geschildert (Art 109). Die himmlischen Wesen, die hier die Taten des heldischen Ebers betrachten, sind in regelmäßigen Reihen angeordnet nach der Art alter mesopotami-scher Muster, wie Hieroglyphen oder Keilschrift, ein erstaunlicher, bis jetzt unerklärter Umstand. Tatsächlich hat noch niemand bis jetzt auch nur ein Erstaunen geäußert über das Erscheinen dieser strengen, ornamentalen, offensichtlich sehr stark von den Hiero¬glyphen des nahöstlichen Altertums beeinflußten Komposition in¬mitten der völlig abweichenden Formen des klassischen Hindustils. Ein drittes Eingreifen Vishnus als Gegner und Besieger des Schlangenprinzips wird in Verbindung mit der Lebensgeschichte seiner volkstümlichsten Inkarnation als Krishna erzählt. Der Be¬richt steht in der Vishnu-Puräna 14, und da er voller hochbedeut¬samer Mythenmotive ist, lohnt es sich wohl, ihn ausführlicher zu betrachten. Der Bericht wird eröffnet mit einer Überschau der Umstände von Krishnas Eintritt in die Welt 15. Wie gewöhnlich haben die Titanen oder Dämonen einen Sieg über die Götter gewonnen, weshalb eine 1t Visnu PurAna, V, 7. 15 Ebenda, V. 1-4. 90

rettende Inkarnation geboren werden muß, um das Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen. Dieser spezielle Fall der wieder¬kehrenden Krisis soll sich am Ende des dem unseren vorangehen¬den Yuga ereignet haben, also am Schluß des Dväpara-Yuga, das 3102 v. Chr. aufhörte 1e. Eine Rasse von Dämonen war plötzlich auf der ganzen Erde erschienen, entthronte die Götter und er¬richtete eine Herrschaft des Schreckens, der Ungerechtigkeit und der Gesetzlosigkeit. Der Lebensvorgang des Kosmos selbst war in Gefahr. Die Göttin Erde, erdrückt von der gräßlichen Last, konnte endlich die Qual nicht länger tragen. So stieg sie zum Gipfel des Meruberges herauf, dem Mittelberg und der Achse des Alls, und erlangte als Bittstellerin Zutritt zu der Versammlung der Götter. Die Göttin Erde warf sich vor Brahma und den Himmlischen nieder. »Der Gott des Feuers ist der väterliche Beschützer des Goldes«, sagte sie, »und der Sonnengott ist der Beschützer der Kühe. Mein väterlicher Beschützer ist Vishnu. Er wird von der ganzen Welt verehrt. Ihr Herrscher, über dem Reich der sterblichen Wesen haust eine Schar von Dämonen. Tag und Nacht ist Geheul in den Städten und das Land steht in Flammen. Gipfel der Schlechtigkeit, zu zahl¬los, um sie zu nennen, Dämonen in allen Yugas durch ihre Bosheit berühmt, wurden in den Familien mächtiger Könige wiedergeboren und führen ohne Widerstand ihre unerträglichen Taten aus. Selbst Kälanemi, der abscheuliche Teufel, der früher einmal von Vishnu erschlagen wurde, ist zurückgekehrt. Und jetzt ist er Kamsa, der Sohn des Königs Ugrasena. Mein Leib ist so von Freveln be¬schwert, daß ich sie nicht länger ertragen kann; sie zerreißen meine Sehnen. Ihr Mächtigen, rettet mich, kommt, helft oder ich werde vernichtet zur Tiefe des Abgrunds stürzen.« Brahma hörte sie an, und die Götter drängten ihn, die Göttin zu erlösen. Doch Brahms sprach: »Ihr Himmlischen, ich, Shiva und Ihr, wir und alle Wesen sind 3e Vgl. pp. 19-20. 91

nicht mehr als ein Teil Vishnus. Wir wissen, daß die Manifesta¬tionen von Vishnus grenzenloser Substanz von ewig wechselnden Gezeiten bewegt werden. Gewaltsamkeit und Schwäche wechseln mit Gesetz und Stärke ab; da ist ein ewiges Zunehmen und Abnehmen seiner Gnade. Darum laßt uns zu den Küsten des Milch¬meers gehen, das die Wohnung Vishnus ist, und dort ihm, dem Höchsten Wesen, demutsvoll Beschwerde und Bitte der Erde mit¬teilen. Denn wie wir so oft gesehen haben ist Vishnu stets willig, ein kleines Teilchen seines Wesens in die Welt hinunterzusenden, in diese Welt, die nur eine Manifestation seines Spieles ist. So hat er Mal für Mal den gesetzmäßigen Lauf des Weltentages wieder¬hergestellt.« Zusammen mit der Erde und allen Göttern begab sich Brahmä darum zu Vishnu. Sich vor ihm neigend, dessen Wahrzeichen Garuda, der Sonnenvogel ist, sammelte Brahmä sein Gemüt in Meditation und pries das Höchste Wesen. »Anbetung Vishnu mit seinen Milliarden von Gestalten und Waffen, seinen vielfältigen Gesichtern und Füßen! Anbetung dem Unendlichen, der gleicherweise die Offenbarung, die Erhaltung und die Auflösung des Alls ist! Du bist geheimnisvoller als alles was der Sinn erfassen kann; Du bist unermeßlich in Deinem innersten Wesen; Du bist die Wurzel von allem; Du bringst den Geist hervor, diesen ersten Stoff, aus dem sich Sprache und Sinne erhoben und erheben. O, Du Höchster von Allen, habe Erbarmen! Hier, in Dir ihre Zuflucht suchend, naht die Erde. Du Ende ohne Ende, Du An¬fang ohne Anfang, endliche Zuflucht aller Wesen, die Göttin bittet Dich, sie von ihrer Last zu erlösen. Erdentsprossene Dämonen er¬schüttern ihre felsigen Sehnen. Indra, ich selbst und alle Götter erflehen Ratschlag und Anweisung von Dir. Sage uns, o Herr und Kern unserer Unsterblichkeit, sage uns, was wir tun sollen.« Vishnu riß sich zwei Haare aus seinem Haupt, ein helles und ein dunkles, und wandte sich dann an die Versammlung am Strande: »Diese zwei Haare aus meinem Haupt sollen zur Erde herabsteigen und ihre Last fortnehmen. Auch alle Götter sollen zu 92

ihr niedersteigen, jeder mit einem Teil seines Wesens und die Erde durch die Besiegung der Dämonen befreien. Es lebt eine Prinzessin Devaki, die Frau des Vasudeva, und sie ist wie eine Göttin unter den Menschen. Dieses dunkle Haar aus meinem Haupt wird die achte Frucht ihres Leibes werden. Ich werde in sie niedersteigen und von ihr geboren werden, um wiederum den Dämon Kälanemi, in seiner gegenwärtigen Inkarnation Kamsa genannt, zu töten.« Vishnu verschwand und die Götter, auf die Knie fallend, ver¬ehrten den Unsichtbaren. Dann stiegen alle vom Gipfel des Berges Meru herab. Die Haare wurden ein Bruderpaar von heldischen Errettern. Das schwarze Haar wurde zu Krishna; das helle wurde als Krish-nas älterer und schwächerer Halbbruder Balaräma geboren. Seine Mutter war eine andere Frau Vasudevas, namens Rohini. Kamsa versuchte die beiden zu töten, aber sie wurden durch wunderbare Vorfälle gerettet und verbrachten unter einem Stamm von Kuh¬hirten ihre Kindheit in Verborgenheit vor dem Verfolger. Hier, zwischen den Kindern dieser guten und einfachen Leute hüteten sie die Herden und spielten in Wald und Feld. So verbrachten sie eine Reihe idyllischer Jahre, die zu einem Lieblingsthema des Hindumythos und hinduistischer Kontemplationen geworden sind. Der Zyklus der Knabentaten, der sich mit dieser Periode verbindet, ist eines der reizendsten Stücke aus den Mythologien aller Völker. Der kleine Heiland verblüffte und erstaunte die Kuhhirten immer wieder mit spielerischen wunderbaren Taten, die außer allem Ver¬hältnis zu seiner Gestalt als Kind standen. Nie aber enthüllte er ihnen seine Göttlichkeit. Zuletzt, weil sie diese Vorfälle als be¬denkliche Vorzeichen eines Erdbebens oder anderer drohender Übel mißverstanden, begab sich die ganze Gemeinschaft mit Kind und Kegel in Sicherheit, und zwar in den mächtigen Vrindävana-Wald am Ufer des heiligen Yamunä, gerade gegenüber von Kamsas Hauptstadt Mathurä 1P. Hier bauten sie ein halbmondförmiges 17 Jetzt Brindaban, am Zumna, gegenüber Muttra. Hier befindet sich ein bedeutender Mittelpunkt der Vishnu-Krishna-Verehrung. 93

Lager von Wagen und Zäunen, ließen ihre Herden weiden, ihre Kinder spielen und führten ihre zeitlose Lebensweise fort. Krishna, ihr göttliches Mündel, betrachtete mit Vergnügen die neuen Um¬gebungen, segnete gnädig den Forst und schenkte den Kühen Wohlergehen. Obgleich die erbarmungslose Hitze des Sommers auf ihrer Höhe stand, brachten die Weiden sogleich frisches Gras hervor, als wäre man in der Regenzeit. Es schickt sich für einen übermenschlichen Erlöser, wenn er von einer irdischen Mutter geboren ist, sich der Umgebung, die er als Wohnung gewählt hat, anzupassen. Allem Anschein nach ist er ebenso in die Maya verstrickt wie jeder andere. Aber dann enthüllt eine übermenschliche Tat oder Gebärde plötzlich sein über¬natürliches Wesen. So war es mit Krishna im Vrindàvana-Wald. Und auf solche Weise geschah es, daß er selbst als Knabe einen ge¬wissen Schlangenkönig des Namens Käliya, der die Wasser des Flusses nahe seiner Hütte bewohnte, bekämpfte und überwand. Krishna und sein Bruder Rama spielten zwischen den Kuh¬pferchen und zogen die Kälbchen auf. Sie durchstreiften die Wild¬nis, machten sich Kränze aus Gras und Blättern und flochten Guirlanden aus wilden Blumen. Sie verfertigten sich Blätter¬trommeln, und Krishna blies die Flöte. Lachend und scherzend sprangen sie unter den großen Bäumen herum, manchmal allein, manchmal zusammen, machmal mit einem Gefolge anderer Jungen. Krishna, der abenteuernde siebenjährige Knabe kam zu diesem gefährlichen Ort und blickte neugierig in die Tiefe. »Hier wohnt der böse Käliya«, dachte er. »Gift ist seine Waffe. Ich habe ihn schon unterworfen 18. Wenn ich ihn erlöst habe, wird er im weiten Ozean verschwinden. Durch diesen Kaliya ist der ganze Yamunä von hier bis zur Mündung unrein geworden; weder Mensch noch Vieh kann seinen Durst in diesen Wassern stillen. Darum werde ich diesen Schlangenkönig besiegen und die Einwohner des Lan¬des von ihrer beständigen Furcht befreien. Um sie glücklich und ie Eine Anspielung auf den bevorstehenden Kampf. 94

froh zu machen und die Argen zu bestrafen, die auf den Pfaden des Übels wandeln, stieg ich ja in die Welt hinab. Darum will ich auf diesen breitästigen Baum klettern, der sich über das Wasser neigt, und hinabspringen.« Der Knabe gürtete seine Lenden, stieg auf den Baum und sprang mit einem großen Satz in die Tiefe. Der Stoß erschütterte den Abgrund, die flammenden Wasser spritzten hoch in die Bäume des Ufers und setzten sie in Brand. Das Firmament schien zu glühen. Dann schlug Krishna mit seinen Handflächen auf das Wasser, und der Schlangenkönig, von dem ungewöhnlichen Lärm herausgefordert, erschien, seine Augen rot vor Zorn, während die Blasen seiner Hauben von grimmem Gifte zuckten. Schwärme roter Schlangenkrieger umgaben ihn, und Hunderte von Schlangen¬königinnen und Schlangenmädchen bildeten sein Gefolge. Die ge¬schmeidigen Leiber, mit glänzenden Perlenbändern geschmückt, funkelten, als sie in wogenden Verschlingungen heraufkamen und ihre unzähligen Häupter erhoben. Sie bespuckten Krishna mit ihren gifttriefenden Mäulern und schlossen seine Glieder in ihre Windungen ein. Eine kleine Gruppe Kuhhirten, die schreckerfüllt in der Nähe stand, sah Krishna untätig und bewußtlos in den Schlangen¬schwarm verstrickt versinken. Entsetzt eilten sie heim. »In einem Anfall von Wahnsinn«, schrien sie, »ist Krishna in die Höhle Käliyas gesprungen. Der Schlangenkönig verschlingt ihn. Helft! Rasch ! « Die Kuhhirten eilten zum Ufer, von ihren Frauen und Kindern gefolgt. »Weh uns, was hast Du getan!« schluchzten die Frauen, als sie zwischen den Bäumen entlangstolperten. Balaräma wies den Weg und zeigte den Leuten, wie Krishna machtlos am Grund des Wassers lag, von den Leibern der Un¬geheuer umschlungen. Nanda und Yashodä, des Knaben Pflege¬eltern, standen entsetzt, als sie das Antlitz ihres Kindes erblickten. Die anderen zuschauenden Frauen brachen in verzweifeltes Jam¬mern und Weinen aus. »Wir werden alle zu Dir in den Abgrund 95

Käliyas springen«, schrien sie. »Denn wie sollen wir ohne Dich, unseren lieblichen Knaben, zu den Kuhhürden zurückkehren! Was ist der Tag ohne Sonne, die Nacht ohne Mond; was sind Kühe ohne Milch und was sind unsere Hütten ohne Krishna?« Balaräma sah seine Pflegemutter Yashodä in Ohnmacht fallen und Nanda mit gebrochenem Herzen in den Strom starren, worauf er aus seinem geheimen Wissen um Krishnas göttliche Natur die¬sen anredete: »Göttlicher Herr der Götter, warum stellst Du diese menschliche Gebrechlichkeit zur Schau?« sagte er und sah mit durchdringendem Blick zu ihm hinunter. »Bist Du Dir Deines gött¬lichen Wesens nicht bewußt? Du bist der Nabel des Alls, der Trä¬ger der Götter, der Schöpfer, Zerstörer und Wächter der Welten. Das All ist Dein Leib. Sieh, diese hier, die seit unserem Hinabstieg zu den Menschen unsere Verwandten sind, die Kuhhirten und ihre Frauen, sind überwältigt von Verzweiflung. Hab Mitleid mit ihnen. Du hast das Kind und den Knaben gespielt ; Du hast die mensch¬liche Schwäche dargestellt. Entfalte nun Deine unbegrenzte Macht; erhebe Dich und besiege den mächtigen Feind!« Laut ertönten diese Worte in Krishnas Ohren und erinnerten ihn an sein wahres Wesen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht; langsam öffneten sich seine Augen. Seine Arme regten sich; seine Hände begannen auf die Schlangenwindungen, die ihn verstrick¬ten, loszuschlagen. Mit plötzlichem Ausbruch befreite er seine Glieder von der Umschlingung der Ungeheuer und setzte empor-springend seinen Fuß auf den Schlangenkönig. Nun hob er die Knie und begann einen Tanz auf dem mächtigen Haupt. Immer, wenn das Ungeheuer seinen Nacken zu heben versuchte, trat ihn der göttliche Knabe nieder. Dies geschah immer wieder und wieder bis endlich die Schlange schwach wurde und in Ohnmacht fiel. Krishna fuhr fort zu tanzen bis der große König Blut spuckte und steif wie ein Stock dalag. Als die entsetzten Königinnen ihren Herrn mit zerschlagenem und blutigem Haupt daliegen sahen, flehten sie Krishna folgender¬maßen an: »Göttlicher Meister der Götter, Höchster Herrscher 96

des Alls, wir erkennen Dich jetzt! Wer ist würdig, Deine weltüber¬steigende Größe zu preisen? Sei gnädig und verschone das Leben dieses unseres Königs!« (Art C 10) . Der erschöpfte Kaliya erholte sich ein wenig bei diesem Gebet und bat mit stockender Stimme den Sieger: »Ich bin nur meiner Natur gefolgt. Wie Du mich voller Stärke geschaffen hast und mir Gift verliehen, so habe ich gehandelt. Hätte ich mich anders ver¬halten, würde ich die von Dir für jedes Geschöpf entsprechend seiner Art gegebenen Gesetze verletzt haben. Ich würde das Ge¬setz des Alls und damit meine Bestrafung herausgefordert haben. Jetzt aber, selbst als Du mich schlugst, hast Du mich mit dem göttlichen Segen, der Berührung Deiner Hände, begnadet. Meine Kraft ist gebrochen, mein Gift aufgezehrt; verschone mein Leben und sage mir, was ich tun soll.« Voller Gnade erwiderte Krishna: »Von nun an sollst Du nicht mehr in den Wassern des Yamunä wohnen, sondern in der Weite des Ozeans. Geh! Mehr noch, ich verheiße Dir, daß Garuda, der goldene Sonnenvogel, Erzfeind aller Schlangen und mein Tragtier durch die Weite des Alls, Dich, der meine Berührung erfuhr, für immer verschonen soll.« Der Schlangenkönig neigte sich und zog sich mit seinem Volk zum Ozean zurück. Die Kuhhirten umarmten Krishna, den so wunderbar ins Dasein Zurückgekehrten. Tränen über seinem Haupt vergießend bejubelten sie seine Tat, die dem Wasser des Flusses seine wohltätigen Eigenschaften zurückgegeben hatte. Gepriesen von den Kuhhirten, bejubelt von den Frauen und Mädchen, die ihn in schmeichelnder Schar umgaben, kehrte Krishna, der jugend¬liche Held, die Inkarnation des Allerhöchsten, zum Lager und den Kühen zurück. Diese ungemein volkstümliche und oft wiederholte Erzählung ist mit mannigfachem Sinn beladen und kann von einer ganzen Anzahl von Gesichtspunkten aus gedeutet werden. Religions¬geschichtlich gesehen wurde eine örtliche Naturgottheit, ein im Yamunäfluß wohnender Dämon, der Geist des Wassers, eine zor 97

rige, schwer zu versöhnende Macht, besiegt und vertrieben; ein primitiver Schlangenkult wird von der Verehrung eines menschen-gestaltigen göttlichen Erlösers überlagert. Durch Krishna als Zwischenstufe wurde der spezielle Kult eines örtlichen Dämons mit der weit verbreiteten allgemeinen Verehrung Vishnus, des Höch¬sten Wesens, verschmolzen und so in einen Zusammenhang von höherer symbolischer Bedeutung eingefügt, der Ahnungen und Vorstellungen von allgemeiner Gültigkeit enthält. Griechische Mythologie und Religionsgeschichte verzeichnen in Apollons Sieg über den erdgebundenen Schlangenherrn Delphis ein ähnliches Geschehnis. Dieser Python sandte durch einen Spalt des Felsens seine Offenbarungen hinauf; eine Priesterin, die Pythia, atmete die starken Dämpfe ein und wurde so inspiriert, Stimme der geheimnisvoll unverständlichen Äußerungen zu werden: dies war das Orakel von Delphi. Aber dann forderte der große Gott Apollon den Drachendämon heraus, erschlug ihn und nahm seinen Sitz ein. In der Folge war Delphi das Heiligtum des menschen-gestaltigen Olympiers, eines Gottes, der in Beziehung zur solaren Macht und für Erleuchtung, Weisheit, Mäßigung und Harmonie stand. Ein höheres, himmlisches Prinzip hatte die erdhafte Gewalt ersetzt — und dennoch war diese nicht völlig ausgelöscht. Die Prie¬sterin behielt ihre alte Rolle, und die wohltätige Macht der Erde sprach weiter zu den Menschen; das delphische Orakel fuhr in seiner Tätigkeit fort. Nur war jetzt der Herr und Eigentümer des Heiligtums nicht länger ein primitiver Erddämon, sondern ein Olympier: Apollon als pythischer Gott. Ähnlich wurde Käliya von Krishna vertrieben. In diesem Fall wurde der Dämon nicht getötet; er wurde nur gezwungen, seine Macht abzulegen und sich nach dem entfernten Meer zurückzu¬ziehen, so daß das Idyll menschlichen Lebens, wie es die Lager¬feuer der K,:hhirten malen, nicht von der Lohe seines Giftes be¬droht wird. Krishna spielt hier eher die Rolle eines Vermittlers als eines Vernichters. Er befreite die Menschheit von einer Drohung, einer Gefahr, indem er sich auf die Seite des Lebens gegen den 98

tötenden Atem der Schlange stellte und erkannte doch gleichzeitig auch das Recht der zerstörenden Gewalten an. Denn die giftige Schlange war ebenso gut eine Manifestation des Höchsten Wesens wie die frommen Kuhhirten. Sie war Offenbarung eines der dunk¬leren Aspekte von Gottes Wesen, der allhervorbringenden, ur¬anfänglichen göttlichen Substanz entstiegen. Es konnte sich nicht darum handeln, die Macht, welche den Menschen völlig negativ erschien, ein für alle Mal auszuschließen. Krishna bewirkte nur eine Art Grenzregelung, einen das Gleichgewicht wieder herstellen¬den Urteilsspruch zwischen Dämonen und Menschen. Zum besten des menschlichen Reiches wurde Käliya in eine entferntere Sphäre versetzt, wobei ihm aber erlaubt wurde, sowohl in seiner Natur wie in seiner Macht unverändert zu bleiben. Hätte man ihn ver¬wandelt, erlöst oder auf andere Weise ausgeschaltet, so wäre das Widerspiel zwischen menschlichen und dämonischen, produktiven und zerstörerischen Energien unterbrochen worden — eine Mög¬lichkeit, die nicht in der Absicht des Höchsten Wesens lag. Vishnus Rolle als Erhalter der Welt verlangt dieses Handeln als Vermittler oder mäßigende Gewalt zwischen den entgegengesetz¬ten Energien, die im Lebensprozeß des Universums aktiv sind. Er hindert den übermächtigen Stoß der zerstörenden, unterbrechen¬den Kräfte. Dies tut er, indem er in dem einen oder anderen seiner Avatars in das All hinabsteigt und die furchtbaren Kräfte, die mit allgemeiner Vernichtung drohen, zügelt und unterwirft, so schlie߬lich ein wirksames Gleichgewicht von Gegensätzen wieder her¬stellend. Doch als das Höchste Wesen, die allenthaltende Substanz, kann er sich grundsätzlich von den Dämonen des Wasserreiches nicht abscheiden. Ist doch Shesha, die kosmische Schlange, eine seiner Hauptmanifestationen. Darum dürfen wir nicht überrascht sein, wenn Krishna, Vishnus menschlicher Avatar und der Be¬sieger Kâliyas, mit den typischen Attributen der Schlangengenien dargestellt wird. Ein schönes Beispiel für die Verbindung Krishnas mit dem Nagasymbol finden wir in einer Bronzefigur aus Bengalen, im Pâla 99

Stil der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. gearbeitet. Die Gottheit hat vier Arme und hält den Diskus (cakra, sudarsana) und die eiserne Keule (kaumodaki). Vishnus zwei Königinnen stehen zu beiden Seiten: Shri-Lakshmi, die Göttin irdischen Wohl¬stands, und ihre Nebenbuhlerin Sarasvati, die Beschützerin der Rede, des Gesanges und der Weisheit 19. Sie sind Rivalinnen, wie es zwei Frauen eines Mannes sein müssen. Man sagt, daß immer wenn eine von ihnen einem Menschen ihre Gaben verleiht, die andere fortbleibt: die Weisen sind nicht reich und die Reichen sind nicht weise. Doch zu Vishnus Füßen unterwerfen sich die beiden zum Zusammenwirken ihres Gegensatzes. Der Reiz des jugend¬lichen inkarnierten Gottes verschmilzt hier mit der Erhabenheit des kosmischen Wesens. Der menschliche Aspekt enthüllt den Krishna, für den die Herzen aller Frauen und Mädchen in Liebe entbrannten, während der Jahre seines Kindheitsidylls unter den Kuhhirten sowohl wie später an den Höfen fürstlicher Geschlech¬ter. Auf der anderen Seite vertritt das Nàgasymbol, den Hinter¬grund bildend, jene göttliche Natur, welche der Held und Erlöser vor denen verbarg, die er durch seine menschliche Gegenwart er¬freute und durch seine Taten erstaunte. Dieses Symbol ist das Zeichen für sein wahres Wesen, für den Geist, der in seiner menschlichen Maske atmete. Denn der menschliche Avatar ist eine Verschmelzung der Gegensätze. Auch wir sind eine solche Ver¬schmelzung, obgleich unserer Doppelnatur ungewahr: wir sind zugleich das unbegrenzte, keiner Bedingung unterworfene göttliche Selbst und die dieses verhüllenden Eigenschaften der Persönlich¬keitserfahrung und des Ichbewußtseins. Bei Krishnas Halbbruder Balaräma ist der Nâgacharakter stark betont. Er ist eine menschliche Verkörperung und eine Teil 10 Sarasvati (der Fluß Saraswati) steht auch in Beziehung zu Brahma, welcher die Inkarnation der Weisheit und der Offenbarung ist; gewöhnlich freilich ist Brahmiis Gattin SAvitri, die menschengestaltige Verkörperung eines bestimmten heiligen Gebetes aus der Rig Veda, das Initiation verleiht. Dieses Gebet ruft die göttliche Energie auf und bittet sie, in die Seele ein¬zutreten und von ihr Besitz zu nehmen. 100

inkarnation von Shesha selbst. Diese Eigenschaft tritt besonders in der Erzählung von seinem Ende hervor. Dort wird er beschrie¬ben, wie er tief in Gedanken unter einem Baum am Ufer des Ozeans sitzt, woraufhin eine große Schlange aus seinem Mund kriecht und den menschlichen Leib des Held-Erlösers leblos zurückläßt. Es ist seine Sheshanatur, seine geheime Lebensessenz, die so in die Tiefe der Wasser zurückgeht. Während sie in gigantischen Wellen¬bewegungen ihren Weg nimmt, singen Schlangen ihren Ruhm. Der Ozean selbst erhebt sich in Gestalt eines mächtigen Schlangen¬königs, den erhabenen Gast, sein eigenes göttliches Selbst, die Schlange des All-Wassers zu begrüßen. Die Schlangenessenz des göttlichen Helden wandert zurück in die Formlosigkeit des Ab¬grundes, zurück in sich selbst, nachdem sie die Augenblicksrolle eines Begleiters und Helfers eines menschlichen Avatars er¬füllt hat. In den Mythologien des Westens sind ähnliche Vorwürfe zu finden, aber der Gegensatz wird hier nicht gelöst. Der halbgött¬liche Heros Herakles, Sohn des Himmelsvaters Zeus und so ein Teil der himmlischen Energien, ist ein erbarmungsloser Feind der Schlangen auf der Erde. Als Kind würgt er die Schlangen, welche die alte Erdgöttin Hera in seine Wiege schickt. Später besiegt er die Hydra, ein fast unbesiegliches, zerstörerisches Ungeheuer — die blinde Lebenskraft, die für jedes Haupt, das ihr vom Leib ge¬trennt wird, sieben neue hervorwachsen läßt. Auch Christus zertritt den Kopf der Schlange, obgleich er als Opfer ihres Bisses fällt.

Im Westen werden die Held-Erlöser, die vom Himmel herab¬steigen, um ein neues Zeitalter auf Erden zu eröffnen, als Verkörperung eines spirituellen und moralischen Prinzips betrachtet, das der blinden, tierhaften Lebenskraft der »Schlange« überlegen ist. Im Gegensatz dazu sind in Indien die Schlange und der Heiland zwei Grundmanifestationen der einen, allenthaltenden, göttlichen Substanz. Und diese Substanz kann mit keiner ihrer polarisierten, sich als Gegensatz gegenüberstehenden Aspekte uneinig sein; in ihr sind die beiden versöhnt und vorausgesetzt.

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
1.1 Vishnus Maya
1.2 Die Wasser des Daseins
1.3 Die Wasser des Nichtseins
1.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
1.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
1.2 Gottheiten und ihre Träger
1.3 Schlange und Vogel
1.4 Vishnu als Besieger der Schlange

Literatur

Seminar

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