Tradition

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Tradition (von lat. tradere „hinüber-geben“ bzw. traditio „Übergabe, Auslieferung, Überlieferung“) bezeichnet die Weitergabe (das Tradere) von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen u. a. oder das Weitergegebene selbst (das Traditum, z. B. Gepflogenheiten, Konventionen, Bräuche oder Sitten). Tradition geschieht innerhalb einer Gruppe oder zwischen Generationen und kann mündlich oder schriftlich über Erziehung oder spielerisches Nachahmen erfolgen. Die soziale Gruppe wird dadurch zur Kultur. Weiterzugeben sind jene Verhaltens- und Handlungsmuster, die im Unterschied zu Instinkten nicht angeboren sind. Dazu gehören einfache Handlungsmuster wie der Gebrauch von Werkzeugen oder komplexe wie die Sprache. Die Fähigkeit zur Tradition und damit die Grundlage für Kulturbildung beginnt bei Tieren (vgl. Krähen, Schimpansen) und kann im Bereich der menschlichen Kulturbildung umfangreiche religiös-sittliche, politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Systeme erreichen, die durch ein kompliziertes Bildungssystem weitergegeben werden.

Zwei Hauptbedeutungen

Die Redeweise „Es ist Tradition, dass …“ bezieht sich in der Regel auf das Überlieferte (traditum), häufig im Sinne von „Es ist seit langer Zeit üblich, dass …“. Umgangssprachlich seltener wird mit „Tradition“ der Überlieferungsvorgang an sich (tradere) bezeichnet. Zur Unterscheidung wird im Deutschen manchmal von „Tradition“ im Sinne von traditum und „Tradierung“ entsprechend dem tradere gesprochen. Diese Unterscheidung verweist auf zwei Hauptbedeutungen von Tradition:

  1. als kulturelles Erbe und
  2. als Tradierung.

Forschungen zum Begriff und zum Verhältnis der beiden Hauptbedeutungen fallen in den Bereich der Traditionstheorie.

Tradition im Sinne eines kulturellen Erbes

Traditionelles Dreschen mit dem Dreschflegel

Unter Tradition wird in der Regel die Überlieferung der Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten sowie der Sitten und Gebräuche einer Kultur oder einer Gruppe verstanden. Tradition ist in dieser Hinsicht das kulturelle Erbe, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Wissenschaftliches Wissen und handwerkliches Können gehören ebenso dazu, wie Rituale, künstlerische Gestaltungsauffassungen, moralische Regeln und Speiseregeln. Traditionen im Sinne von Brauchtum und kulturellem Erbe begegnen beispielsweise bei Hochzeiten, Dorffesten und im Zusammenhang mit kirchlichen Feiertagen. Auch Alltagsgesten bei Begrüßung und Verabschiedung sind Brauchtumstraditionen. Die Ethnologie untersucht, wie solches Brauchtum konkret entsteht und tradiert wird.

Neben hochkulturellen Inhalten werden zuweilen auch nur temporär gültige Üblichkeiten als Tradition bezeichnet. In diesem Sinne wird der Ausdruck „traditionell“ gebraucht; es ist das Übliche und Gewohnte. Der eher bildungssprachliche Ausdruck „traditional“ wird dagegen auf die hochkulturellen Inhalte bezogen.

Tradition im Sinne von Tradierung

Seltener bezeichnet Tradition die Tradierung, also den Prozess der Überlieferung selbst, auch wenn in systematischer Hinsicht der Traditionsprozess die Grundlage für die Tradition als kulturelles Erbe bildet. Die ältere Traditionstheorie hat den Traditionsprozess als einen Vorgang beschrieben, bei dem ein Tradent einem Empfänger etwas überliefert. Neuere Ansätze kritisieren diese Auffassung als zu starke Vereinfachung. So wie das schlichte Sender-Empfänger-Modell in der Kommunikationstheorie tatsächliche Kommunikation unsachgemäß beschreibt, ist das vergleichbare Tradent-Empfänger-Modell unzulänglich. Die Entdeckung des Subjekts in der Neuzeit macht es nach dieser Auffassung nötig, eine Wechselbeziehung anzunehmen, wie es beispielsweise der Kultursoziologe Stuart Hall für das Sender-Empfänger-Modell vorgeschlagen hat. Der vormalige "Empfänger" wird als aktiver Teil von Traditionsprozessen verstanden (Tradent-Akzipient-Modell)[1].

Traditionstheorien in den Kultur- und Geisteswissenschaften

Traditionstheorien gibt es in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen: In der Ethnologie, der Volkskunde, der Soziologie, der Philosophie, der Theologie, der Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft. Dabei konzentrieren sich die einzelnen Wissenschaften jeweils auf Teilaspekte des Phänomens Tradition. Bislang liegt kein Ansatz für eine systematisch entwickelte Traditionstheorie vor.

Soziologie

Da Tradition zu den Grundlagen des sozialen Lebens und Handels gehört, hat sich insbesondere die Soziologie mit dem Phänomen Tradition befasst. Robert Spaemann sieht im Französischen Traditionalismus gar eine der Wurzeln der Soziologie selbst.[2] In jedem Fall hat die soziologische Auseinandersetzung mit der Tradition die geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen insgesamt geprägt. Insbesondere Max Webers Verständnis von Tradition als einem von vier Grundtypen sozialen Handelns ist wirkungsgeschichtlich kaum zu unterschätzen. Weber grenzt die Orientierung an Tradition von der zweck- und wertrationalen Orientierung des Handelns ab.[3] Er greift damit ein Traditionsverständnis auf, das am Ende des 19. Jahrhunderts vorrationale Tradition und rational orientierte Moderne gegenüberstellt. Diese Gegenüberstellung ist auch die Folge einer kritischen Abwendung vom Traditionsverständnis des Traditionalismus.

Neben seinem Versuch, den Traditionsbegriff mit vier Grundtypen sozialen Handelns greifbar zu machen, formuliert Weber gleichsam eine Theorie der politischen Herrschaft, wobei er zwischen charismatischer, rationaler, legaler und traditioneller Herrschaft unterschied.[4] Hierbei knüpfte er den Begriff der Tradition eng an eine herrschende Einzelperson, die über einen von ihm abhängigen Verwaltungsstab verfügt. Merkmal der auf Tradition beruhenden Herrschaft sei Weber zufolge, dass die politische Ordnung primär auf überliefertes Wissen beruhe, auf persönlichen Gehorsam basiere und - im Gegensatz zur charismatischen Herrschaft - einen alltäglichen Charakter habe.[4]

Das Traditionsverständnis von Max Weber ist aber nur bedingt geeignet, das Phänomen der Überlieferung und Übernahme zwischen den Generationen und den Einfluss auf die Bildung sozialer Gruppen angemessen zu beschreiben. Allein die Gegenüberstellung von vorrationaler Tradition und rationaler Moderne greift nicht. Wäre es so, dass der Modernisierungsprozess das Überkommene allmählich abstreifen würde, müsste dieses Phänomen weltweit auch zu beschreiben sein. Tatsächlich bietet der Modernisierungsprozess aber ein differenziertes Bild: Zum Teil werden Traditionen von modernen Entwicklungen und Auffassungen abgelöst (Traditionsabbruch), zum Teil geraten Moderne und Tradition in einen unüberwindbaren Konflikt (Traditionalismus, Fundamentalismus), zum Teil bestehen Tradition und Moderne konfliktlos nebeneinander oder ergänzen sich sogar (Alternativmedizin). Wie wenig sich die Begriffe ausschließen, zeigt sich aber insbesondere daran, dass Modernität selbst zu einer neuen "großen Tradition"[5] geworden ist. Statt Tradition als vormodern zu betrachten, was zu kurz greifen würde, gilt es darum, die soziale Funktion der Tradition auch in modernen und post-modernen Gesellschaften zu beschreiben. Für Anthony Giddens besteht diese Funktion darin, das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft zu organisieren.[6]

Für die soziologische Analyse des Phänomens Tradition bieten sich drei Aspekte an: 1. formal, 2. inhaltlich und 3. strukturell. In formaler Hinsicht ist Tradition abhängig vom Prozess der Tradierung. Inhalte, die nicht tradiert wurden bzw. werden, mögen kulturhistorisch interessant sein, sind aber soziologisch uninteressant für die Betrachtung von Tradition. Inhaltlich zeichnen sich Traditionen durch eine besondere Wertschätzung oder einen besonderen Anspruch aufgrund der Vergangeheitsorientierung aus. Strukturell ist Tradition auf Wiederholung, Weitergabe und Ritualisierung angelegt. In der Perspektive dieser drei Aspekte wird deutlich, wie Tradition kulturelle Leitmuster (guiding patterns) ausbildet und so die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und diese beeinflusst.[7].

Ethnologie

Die ethnologische Forschung konzentriert sich auf die Untersuchung und Beschreibung von konkreten Überlieferungsbeständen in verschiedenen Kulturen. Dazu bedienen sich Ethnologen in der Regel der soziologischen Begriffsbildung; ein originär ethologischer Traditionsbegriff liegt nicht vor. Besondere Bedeutung kommt in den Untersuchungen neben Brauchtum und Riten der Erzählkultur zu: Mündlich überlieferte Geschichte (oral history) sowie Märchen und Mythen gehören in allen Kulturen zu den prägensten Elementen von Gruppen.

So waren auf den Gesellschaftsinseln die Arioi als Angehörige eines Geheimbundes Hüter und Weiterträger der Tradition. In einer Gesellschaft, die keine Schrift kannte, war es wichtig, die religiösen Texte durch ständige Rezitation öffentlich zu verkünden, zu bewahren und zu verbreiten.

Geschichtswissenschaft

Auch die Geschichtswissenschaft versteht unter dem Begriff Tradition alles, was von Begebenheiten in irgendeiner Form überliefert worden ist und durch menschliche Auffassung hindurchgegangen und wiedergegeben ist.

In den vergangenen Jahren sind so genannte „erfundene Traditionen“ (invented traditions, vergleiche Eric Hobsbawm), die zur Legitimierung bestimmter Dinge und Handlungsweisen dienen sollen, zunehmend ins Blickfeld der Historiker gekommen. Die Entdeckung erfundener Traditionen verweist darauf, dass alle Tradition in hohem Maße sozial konstruiert ist. Was wie überliefert wird, ist deutlich auch davon beeinflusst, wie sich eine Generation den folgenden präsentiert.

Philosophie

In der philosophischen Diskussion spielt der Traditionsbegriff kaum eine Rolle. Selbst in etablierten Handbüchern zur Philosophie fehlt häufig eine Erörterung des Themas und eine Analyse des Begriffs. Der Philosoph Karl Popper sah die Entwicklung einer Traditionstheorie vor allem als Aufgabe der Soziologie, nicht der Philosophie. Insofern wird in der Regel auf soziologische oder sozialanthropologische Begriffsklärungen zurück gegriffen. Dennoch haben sich einige Philosophen wie Josef Pieper, die so genannte Ritter-Schule und Alasdair MacIntyre mit der Theorie der Tradition befasst. Pieper hat vor allem die Verbindung von mittelalterlicher Philosophie und Katholizismus in den Blick genommen. Die Ritter-Schule hat Tradition vor allem wegen der geschichtlichen Einbettung allen kulturellen Lebens diskutiert. MacIntyre hat als Kommunitarist auf die Notwendigkeit traditionaler und regional gültiger Maßstäbe für die gegenwärtige Ethik und Politik verwiesen.

Rechtswissenschaft

In der antiken Rechtssprache (Römisches Recht) war Tradition (traditio) der Übergabeakt einer (beweglichen) Sache zum Beispiel bei der Vererbung und beim Kauf. Daher auch die noch heute manchmal begegnende Verwendung von Tradition als Auslieferung (vergleiche englisch: trade).

Auch im heutigen deutschen Zivilrecht ist zur rechtsgeschäftlichen Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache grundsätzlich neben der dinglichen Einigung die Übergabe der Sache erforderlich, es gilt also das Traditionsprinzip. Jedoch wird das Traditionsprinzip häufig durchbrochen, indem die Übergabe durch eines der gesetzlich vorgesehenen Übergabesurrogate ersetzt wird (z. B. Vereinbarung eines Besitzkonstitutes oder Abtretung des Herausgabeanspruchs).

In der modernen Rechtswissenschaft bezeichnet Traditionstheorie einen bestimmten Ansatz zur Abgrenzung des öffentlichen Rechts vom Privatrecht. Die Traditionstheorie bezeichnet danach die Auffassung, dass bestimmte Rechtsgebiete traditionell dem öffentlichen Recht zugeordnet werden. Dazu gehören zum Beispiel Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Polizei-, des Ordnungs- und des Verwaltungsrechtes.
Neben der Traditionstheorie gibt es als weitere Abgrenzungstheorien die Interessentheorie, die Subordinationstheorie (auch: Subjektstheorie) und die Sonderrechtstheorie (auch: modifizierte Subjektstheorie).

Im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften ist eine der rechtswissenschaftlichen Bedeutung nahe liegende Verwendung gebräuchlich, wenn die Übertragungen von Grundbesitz an Klöster und ihre Beurkundung als Tradition bezeichnet wird (vgl. Traditionsbuch)

Tradition und Religion

  1. K. Dittmann: Tradition und kritisches Verfahren (Online-Fassung, Kapitel 12 von Tradition und Verfahren) (27-08-2007), ISBN 3-8334-0945-2
  2. Robert Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L.G.A. de Bonald, ISBN 3-608-91921-X
  3. Max Weber: Soziologische Grundbegriffe, § 2 Bestimmungsgründe sozialen Handelns: "Das streng traditionale Handeln steht ... ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man 'sinnhaft' orientiertes Handeln überhaupt nennen kann."
  4. 4,0 4,1 Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation. Kronstadt 2007, S. 27 ff., ISBN 3-929848-49-X.
  5. S.N. Eisenstadt: Tradition, Wandel und Modernität (1979), S. 227, ISBN 3-518-57901-0
  6. Anthony Giddens: Tradition in der post-traditionalen Gesellschaft, Soziale Welt 44/1993, S. 445-485.
  7. Edward Shils: Tradition, S. 32.