Die Weisheit des Lebens
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
Die Weisheit des Lebens
Wir vergessen so leicht, daß unsere streng lineare, vom Entwicklungsgedanken bestimmte Zeitvorstellung, die anscheinend durch die Ergebnisse der Geologie, Paläontologie und Kulturgeschichte gestützt wird, etwas dem modernen Menschen Eigentümliches ist. Selbst die Griechen zur Zeit Platos und Aristoteles', die unserer Art des Denkens und Fühlens und unserer lebendigen Überlieferung doch weit näher stehen als die Hindus, teilten diese Vorstellung nicht. In der Tat scheint erst Augustin diesen modernen Begriff von der Zeit gefaßt zu haben. Aber auch seine Anschauung formte sich erst stufenweise im Widerstand gegen die vorher regierende Vorstellung.
Die Augustinian Society hat eine Veröffentlichung von Erich Frank herausgegeben (E. Frank, Saint Augustine and Greek Thought, The Augustinian Society, Cambridge, Mass., 1942, The Havard Cooperative Society, siehe Seite 9-10), in welcher dargelegt wird, daß sowohl Aristoteles wie Plato des Glaubens waren, jede Kunst und Wissenschaft habe sich viele Male zu ihrem Gipfel entwickelt und sei dann wieder untergegangen. »Diese Philosophen«, äußert sich Frank, »waren überzeugt, daß selbst ihre eigenen Ideen nur die Wiederentdeckung von Gedanken darstellten, die den Philosophen vorhergegangener Epochen schon bekannt waren.« Diese Überzeugung entspricht genau der indischen Überlieferung einer ewigen Philosophie, einer alterslosen Weisheit, welche durch den Zyklus der Epochen enthüllt und wieder enthüllt, wiederhergestellt, verloren und wiederhergestellt wird. »Das Leben der Menschen«, erklärt Frank, »war für Augustin nicht lediglich ein Naturvorgang. Es war ein einzigartiges, unwiederholbares Phänomen; es besaß eine individuelle Geschichte, in der alles, was vorging, neu und noch niemals dagewesen war. Eine solche Anschauung der Geschichte war den griechischen Philosophen unbekannt.