Hinduistische Literatur
Hinduistische Literatur - eine Einführung.
Die Ursprünge des Yoga liegen im Dunkeln, weil es die Quellenlage nicht erlaubt, zuverlässige Aussagen zu machen. Gerne würde man ihn auf die Indus-Kultur (2600-1900 v. Chr.) zurückführen und eine auf Siegeln eingeritzte Figur als Yogī oder Gott Śiva interpretieren, aber da sich die Indus-Schrift bislang einer wissenschaftlich haltbaren Entzifferung entzieht, kann man nur wenig über die damaligen Vorstellungen sagen.
Die Indo-Arier dagegen, die seit ca. 1500 v. Chr. in das Indusgebiet einwanderten, verfaßten zahlreiche Texte, zunächst über priesterliche, dann aber auch sonstige Belange, aus denen man Rückschlüsse auf die Entwicklung des Yoga ziehen kann. Einige wichtige Textgruppen sind in diesem Abschnitt aufgeführt. Die fett gedruckten Begriffe sollte man lernen.
Veda (Śruti), ca. 1500-500 v. Chr.
Veda bedeutet 'Wissen,' auch śruti genannt, 'das Hören, die geoffenbarten Texte', die als nicht von Menschen gemacht (apauruṣeya) angesehen werden. Es handelt sich dabei um die ältesten erhaltenen indoeuropäischen Texte, abgefaßt in vedischem Sanskrit durch Mitglieder des Priesterstandes. Der Veda wurde und wird teilweise noch heute mündlich weitergegeben, eine Verschriftlichung fand wahrscheinlich erst zur Zeit der Moghuls (1526-1857 n. Chr.) statt. Es gibt vier Vedas, die jeweils einer anderen Priestergruppe mit unterschiedlichen Pflichten bei den Opferritualen zugehören:
- Ṛgveda (Aussprache Rigveda): 'das Wissen, das in den Versen, ṛc, besteht,'
Sammlung von 1028 Hymnen an vielerlei Gottheiten, verfaßt von verschiedenen Weisen (ṛṣi-s, m.).
- Sāmaveda: 'das Wissen, das in den Melodien, sāman, besteht,' die Lieder sind
hauptsächlich die des Ṛgveda, nur ca. 75 sind neu.
- Yajurveda (Aussprache Yadschurveda): 'das Wissen, das in den Opfersprüchen,
yajus, besteht,' enthält auch Abschnitte in Prosa.
- Atharvaveda: 'Wissen der Atharvans,' einer bestimmten Priestergruppe, enthält
teils ähnliche Hymnen wie der Ṛgveda, teils Zaubersprüche für alle Lebenslagen.
Jeder Veda besteht aus vier Teilen, die, grob gesehen, einer historischen Abfolge entsprechen und sich gelegentlich auch überschneiden:
- Saṃhitā-s: 'Zusammenstellungen, Sammlungen.'
- Brāhmaṇa-s: Ritualwissen, Erklärungen (nicht Beschreibungen) der Opferhandlungen.
- Ᾱraṇyaka-s: 'zur Wildnis gehörig,' wie Brāhmaṇas, zu solchen Opfern, die magisch
so gefährlich sind, daß man die Texte nur in der Wildnis (araṇya) rezitieren kann.
- Upaniṣad-s: von upa-ni-ṣad, 'sich in die Nähe( eines Lehrers) setzen,' wohl gebraucht
im Sinn von 'esoterischem Wissen.' Sie werden auch Vedānta, Ende des Veda genannt (s. 2.14). Vedisch sind ca. 15 Upaniṣads, es gibt allerdings rund 200, deren Abfassung teilweise bis ins 2. Jt. n. Chr. reicht.
Smṛti (ab ca. 500 v.Chr.)
Als smṛti, 'Erinnerung,' bezeichnet man nachvedische Gesetzestexte, die im Gegensatz zur śruti als von Menschen gemacht angesehen werden. Die älteren Gesetzestexte sind in sūtra-Form verfaßt, in möglichst kurzen, prägnanten Sätzen (Leitfäden'), wie u.a. auch Abhandlungen zum Ritual und später zur Philosophie (s. 2.15). Jüngere smṛti-s sind in Versform. Teilweise werden auch Epos und Purāṇas zur smṛti gerechnet. Die Anerkennung der Autorität von śruti und smṛti gilt als eine der Voraussetzungen des Hinduseins.
Itihāsa (iti ha āsa: 'so ist es gewesen,' Geschichte)
Der Begriff bezieht sich auf die beiden großen Epen Indiens, deren literarische Anfänge ins 4. Jh. v. Chr. zurückreichen. Sie haben über zwei Jahrtausende Religion, Kunst und Literatur Süd- und Südostasiens geprägt. Ihr Ursprung liegt im Milieu der Kriegerkaste, zentrales Thema ist der dharma, richtiges Verhalten.
- Mahābhārata: Geschichte der verfeindeten Vettern Kaurava und Pāṇḍava, umrankt
von zahlreichen Erzählungen, philosophischen Abhandlungen (wie z.B. Bhagavadgītā) etc. Nach traditioneller Auffassung ist der Weise Vyāsa der Verfasser.
- Rāmāyaṇa: Geschichte des Prinzen Rāma, seiner Frau Sītā und ihrer Wiedergewinnung
aus der Gefangenschaft beim Dämonen Rāvaṇa. Als Verfasser gilt Vālmīki. Purāṇa ('alt,' 'das Alte'), seit ca. 4. Jh. n. Chr. Die Purāṇas enthalten Mythen zu Entstehen und Vergehen der Welt, Königsgenealogien, Legenden, Abhandlungen zu Recht, Kunst, Medizin etc. Oft steht eine bestimmte Gottheit im Mittelpunkt des Werks. Nach traditioneller Zählung gibt es 18 Haupt- und eine große Anzahl Nebenpurāṇas. Besonders wichtig sind das Mārkaṇḍeya-Purāṇa mit dem Mythos Durgās als Dämonentöterin, und das Bhāgavatapurāṇa mit Geschichen von Kṛṣṇas Kindheit und Jugend in der heute autoritativsten Fassung. 2.14.3 Sektarische Literatur Ᾱgamas, Tantras, seit 3. Jh. bzw. seit 9. Jh. n. Chr. Die Begriffe Ᾱgama und Tantra sind oft austauschbar, allerdings liegt der Schwerpunkt der Ᾱgamas auf eher äußerlicher Verehrung von Gottheiten, Tempelbau, Weihung von Götterfiguren, Festen usw., während in den Tantras meist Aspekte persönlicher Praxis behandelt werden, insbes. auch Kuṇḍalinīyoga. Hierher gehören die Texte der śivaitischen Nāth-Yogīs, die u.a. die Grundlagen für den heutigen Haṭhayoga legten. Darunter sind besonders wichtig: 1) Siddhasiddhāntapaddhati, Gorakṣanātha/Gorakhnāth zugeschrieben (ca. 1000- 1250), Grundlagenwerk zum Nāth- bzw. Kuṇḍalinī-yoga. 2) Gorakṣaśataka Gorakṣanātha zugeschrieben (ca. 1200-1250) 3) Haṭhayogapradīpikā von Svātmārāma Yogin (ca. 1350-1400) 4) Gheraṇḍasaṃhitā (ca. 1650-1700) 5) Śivasaṃhitā (ca. 1650-1700) 6) Ṣaṭcakranirūpaṇa von Pūrṇānanda (ca. 1600-1700), eine der ausführlichsten Beschreibungen der sechs cakras. Ungefähr im 10. Jh. entstand das Yogavāsiṣṭha, in dem die praktische Seite des Yoga in sieben Bhūmikās gefaßt ist (s. 2.13). Zwischen 1200 und 1600 liegt die Entstehungszeit der Yoga-Upaniṣads, die vorwiegend Spezialthemen des Kuṇḍalinī- und Haṭhayoga behandeln. 2.14.4 Literatur in modernen Sprachen Seit dem 6. Jh. n. Chr. in Südindien, verstärkt seit dem 13. Jh. in Mittel- und Nordindien, gewannen die Volkssprachen literarische Bedeutung. Dies war oft den sog. Dichterheiligen zu verdanken, die mit ihren Liedern für das Aufblühen einer landesübergreifenden Frömmigkeit auch innerhalb solcher Bevölkerungsschichten sorgten, die keinen Zugang zu Sanskrit hatten. Seit der Kolonialzeit kam eine Fülle von vorwiegend englischen Übersetzungen aus dem Sanskrit und anderen indischen Sprachen in den Westen, und selbständige Werke indischer Schriftsteller in Englisch entstanden. 3 2.14.5 Zur Geschichte des Yoga Was Yoga anbelangt, so enthalten die vedischen Texte wenig, was den späteren Übungsmethoden vergleichbar wäre. Wohl aber kannte man im Ṛgveda veränderte Bewußtseinszustände und Visionen, die man mit Hilfe von tapas (Hitze, Askese) und dem Saft der haluzinogenen Somapflanze zu erreichen trachtete. Ziel war nicht Erlösung, sondern dichterische Fähigkeit, Macht, Ruhm, Reichtum u.ä. In den Upaniṣads entwickelte sich die Idee, daß Erkenntnis von ātman bzw. brahman das einzig Erstrebenswerte und durch Entsagung, Zügelung der Sinne (yoga), Atemübungen, Innenschau und samādhi zu erreichen sei. Ähnliche Vorläufer des achtgliedrigen Yoga des Patañjali (s. 2.15) finden sich auch im Mahābhārata, wo in der Bhagavadgītā zusätzlich Jñāna-, Karma- und Bhaktiyoga (Yoga des Wissens, Handelns und der Hingabe) eingeführt werden. Im indischen Mittelalter traten die Nāth-yogīs hervor. Ihr Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich vom Yoga des Patañjali: während es in den Yogasũtras um die Trennung von Geist und Materie durch Disziplinierung des Denkens geht, streben die Nāths nach Einheit von Geist und Materie (Śiva und Śakti) mit Hilfe von Kuṇḍalinī- bzw. Haṭhayoga. Die Gründer der Nāth-Schule, Matsyendranāth und Gorakhnāth, sind in vielen Legenden (sogar buddhistischen) als Wundertäter in der Volksreligiosität Indiens und Nepals verankert. Auch in Liedern und sonstigen Texten mittelalterlicher Dichterheiliger ist der Einfluß der Nāths sichtbar. Einer der Nationalheiligen Maharashtras, Jñāndev (13. Jh.), selbst ein Nāthyogī, schildert z.B. im 6. Kapitel seines berühmten Bhagavadgītā- Kommentars ausführlichst den Aufstieg der Kuṇḍalinī. Auch das Werk des nordindischen Dichters Kabīr (15. Jh.), dessen Lieder bis heute in ganz Indien bekannt sind, enthält Nāth-Vorstellungen und Begriffe. Während Vivekānanda in seinem Buch über Rājayoga (1896) den Haṭhayoga als spirituell nutzlos bezeichnet, gelangte dieser in Indien zu ungeahnten Ehren seit Zeiten des Freiheitskampfes als einheimisches System der Körperertüchtig. Veröffentlichungen wie Iyengars 'Light on Yoga' oder Yogānandas 'Autobiography of a Yogi' trugen zur Globalisierung des Yoga bei. Quellen: Alter, J.S., Yoga in Modern India, Princeton University Press 2004 (bes. Kap. 5). Bhagavadgītā: translated by Alladi Mahadev Sastry, Madras (Samata Books) 1977 [=1901]. 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