Indische Geschichten

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Sinnbilder

Artikel von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Weisheit Indiens. Märchen und Sinnbilder" 1938 im L.C. Wittich Verlag in Darmstadt erschienen.

Die Geschichte vom „Großen Bruder" steht (wie unter den folgenden „Leise doch! Leise ...." und „Ein Gang um Wasser") in Swami Vivekanandas Gesammelten Schriften, zwischen zahllosen Speeches und Addresses, Lectures und Briefen, die sieben Bände füllen und sich an Indien, Europa und Amerika wenden, wie sie Vivekanandas leidenschaftliche Apostelfahrten für seinen Lehrer Shri Ramakrishna von 1893 bis zu seinem frühen Tode 19o2 begleiten. Aber diese Geschichte ist gewiß nicht von ihm erdacht, — dergleichen denkt sich nicht einer neu aus, — sowenig Vivekananda mit seiner Verbreitung indischer Gotteslehre etwas anderes sein wollte als ein für seine Zeit und alle Erdteile abgestimmter Laut indisch-überindischer Ewigkeit. Er kann die kleine Geschichte von Ramakrishna in dessen Einsiedelei an der Ganga gehört haben oder auf einer Pilgerfahrt seiner Wanderjahre, die ihn vom Himalaya bis an die Südspitze Indiens führten und mit Heiligen und Lehrern, Einsiedlern und Pilgern zusammenbrachten, aber auch mit vielerlei Volk in wim-melnden Dörfern und auf einsamen Wegen, das seine Seele von solchen Erzählungen nährt.

Man darf dergleichen Sinnbilder nach literarischem Brauch von der Antike her Parabeln nennen, — zugleich sind es Volkserzählungen. Ein enger Lebensumkreis umgrenzt sie : das Dorf vom Dschungel umsponnen, ein kurzer Weg zur Arbeit in Garten und Feld, ein kurzer Weg zum Morgenbad im Fluß, nahe zur Hand das Spinnrad, das immer schnurrt und kümmerlichen Ertrag bringt, nahe beieinander hocken die strohgedeckten Kegelhütten des Dorfes, und schon der Weg dorthin ist weit für Mutter und Sohn. Ein eintöniger Alltag, unterbrochen durch Familien-und Kalenderfeste, Mangel und Knappheit jahraus, jahrein : ein abgeschiedenes, fast zeitloses Dasein; Geschichte kann mit ihrem Waffenlärm darüber hereinbrechen und es zerstampfen aber kaum verändern. Die Verhältnisse bleiben sich im ganzen über Jahrtausende gleich; was sich die Leute erzählen, bleibt sich treu. Aber die Zeit schleift es ab mit ihrem Fluß, wie der Bach die Kieseln in seinem Bett: Schließlich wird etwas ganz Einfaches daraus, aber vollkommen schön und rund und von einer Glätte der Fläche, die den Fingern schmeichelt.

Solche Volkserzählungen schöpfen aus dem Eigensten der in sich einigen beschränkten Lebensgemeinschaft; immer inmitten der Wirklichkeit, die sie in ihrem kleinen Spiegel fangen, bleiben sie in sich klar und verdunkeln nicht wie hohe Mythen, wenn sie aus weiten Räumen in die Enge bei Spinnrad und Dorfbrunnen niedersinken und von Weltgeschehen und Weltsichten künden, zu denen der bäuerliche Tag nicht hinblickt. Ihre Wirklichkeit — die sie weltweit erzählenswert macht — ist innerlicher Art; die vertraute Not, die stillen Freuden des Tages reichen nur das bißchen an greifbarem äußeren Stoff her, dessen die bescheidenste Erzählung bedarf, um ihr Seelenhaftes in Fleisch zu kleiden. Diese innerliche Wirklichkeit im zarten Kelch enger Verhältnisse ist weltweit und uralt wie das Reich der Seele; der „Große Bruder" ist eine seelenbewegende Gestalt voll unauflöslicher Bedeutung wie Vater, Mutter und Schwester.

Er ist das bewunderte, beneidete Vorbild des kleineren Geschwisters: zu sein wie er, zu können, zu dürfen was er kann, ist eine ständige Besessenheit des aufsteigenden Lebens, das in seine reifere Form hineinwachsen will und sie in ihm greifbar vor sich sieht. Er ist dem Vater nahe, aber doch nicht durch den Abstand der Generation, den Abgrund zwischen Erzeuger und Gezeugtem vom Kleineren getrennt: ein Wunschbild ohne den Schauer der väterlichen Hoheit und des Fremden und Anderen in der Nähe des Bluts.

Er ist das größere Ich des kleinen Bruders, die bewunderte Idealgestalt: „mein großer Bruder kann alles", er ist auch der Helfer und Retter, mit dessen rächendem Dazwischentreten sich drohen läßt, wenn man sich bedroht sieht. Er ist der Einweihende, weil er vieles vormachen kann, was man können möchte; er hat schon Zugang zu verschlossenen, geheimnisreichen Lebensgebieten und bewegt sich in ihnen als Meister. Als voranschreitender Gesandter der Lebensgeheimnisse nimmt er den Kleineren bei der Hand und führt ihn ein in die Wunder des Lebens, an denen man sich erfüllen kann.

Für die Mutter aber ist er die Miniatur des Vaters und Gatten, das idyllisch verkleinerte, verklärte Abbild des Männlichen, das sie zur Frau und Mutter machte: das Männliche in der Knospe, noch nicht persönlich abgegrenzt, noch mit dem Schimmer der Unendlichkeit, dem Traum aller Möglichkeiten des Wachsenden umschleiert. Dieser kleine Mann, in dem das Männliche sich schon zauberhaft ankündigt, indes er ganz das leibliche Geschöpf der Mutter ist, war vom ersten Augenblick seines Daseins an, noch ehe er ans Licht trat, ganz der Mutter zu eigen; der Gatte-Vater aber kommt aus einem Leben, daran die Frau keinen Anteil hat. „Wie warst du, ehe ich dich traf? als du noch klein warst?" Diesen unerfüllbaren Wunsch nach Besitz des ganzen Mannes im Gefühl der liebenden Frau erfüllt der Sohn an Stelle des Gatten, wenn die Männlichkeit ein erstes, noch zartes Licht über ihn wirft.

Es gehört zum Wesen einer religiös-sakramentalen Kultur, die aus mythischen Elementen lebt wie die indische, daß sie ein Pantheon urtümlicher Gestalten mit sprechenden Gebärden besitzt. Im unwillkürlichen Aufsteigen, im gemeinsamen Ausbilden und Verehren der urtümlichen Gestalt des „großen Bruders" finden die Witwe und ihr Sohn Ergänzung und glückliche Ausgewogenheit unbegriffener Herzenswünsche: die mittlere Gestalt des großen Bruders, Züge von Vater und Gatten, Sohn und Bruder in sich verschmelzend, ergänzt die Verlassenheit von Witwe und Waise, — es bedarf nur ihrer, um Trauer und Enge des Lebens zu verklären. Sie ist mehr als eine unwillkürliche, glückliche Erfindung der Mutter, um das Kind zu beruhigen, mehr als eine beglückende Einbildung des Kindes, dessen Phantasie danach langt und in liebebedürftiger Hartnäckigkeit ein Spiel daraus bildet, das Mutter und Kind beherrscht und als ein zartes Geheimnis verbindet, — im Grunde spricht der Gott durch diese Maske des großen Bruders. Er offenbart sich in dieser Gestalt, die ganz Krischnas Erscheinung als Hirtenknabe ist — Vischnus jüngste Heilandsgestalt unter Menschen, — wie das Kind Krischna auf dem Hausaltar für die Mutter in eins schmilzt mit dem kindlich kleinen Sohn Gopala.

Die Mutter befiehlt den kleinen Sohn, der sich im Dschungel fürchtet, dem Schutz des großen Bruders und formt dessen Züge nach dem Bilde des jugendlichen Gottes, Krischnas, des Hirtenknaben, der das Sehnen der Hirtenmädchen und -frauen mit seinem Gesang und Flötenspiel weckt, des tänzerischen Seelenführers zu den Einweihungen des Eros und der Hingabe der liebenden Seele an den Allgott Vischnu, der sich in ihn verleibt hat, um die Menschen zu begnaden. „O du Knabe, du Kind, du allmächtiger Gott" jauchzt ihm der indische Mythos entgegen: mit den Worten, in denen „Ariadne auf Naxos" den jugendlichen Dionysos feiert, und wie dieser Ariadne aus Verlassenheit und Wittum, Trauer und Todesstarre zum Leben erweckt, erblüht Gopalas Mutter unter dem zarten Strahlen der von ihr selbst heraufbeschworenen Gottesgestalt. Sie heilt sich selbst und heilt ihr Kind von Kummer und Einsamkeit mit einer recht indischen Form, das Göttliche zu rufen und mit ihm umzugehen. Die Gottesgestalt Krischnas als des großen Bruders verbindet die Volkserzählung mit dem Mythos; durch ihren kaum ange sprochenen mythischen Hintergrund und große Gebärden, die sich zuweilen dunkelnd und leuchtend aus ihm lösen, sind diese kleinen Geschichten volkstümlich konzentrierte, kristallisierte Spätformen der großen Opern epischer Mythen : Drogenform mythischen Wissens für den Hausgebrauch bäuerlich-kindlicher Massen. Ihr enges Leben gibt nur knappen Formen Raum, aber aus ihrer Dichtigkeit saugt es sich die Süße, deren es als Wegzehrung in seiner Armseligkeit bedarf. Der alte große Schatz mythischen Wissens um Urbilder der Herzenstiefe und was sie über die Seele vermögen, filtriert in diesen Geschichten mit vielen in sich gesättigten Tropfen in den Alltag des Volks. Manche unter ihnen, wie „Der Liebende" und „Stufen" könnten ebensogut in der persischen Mystik stehen, bei Saadi oder Dschelal ed din Rumi, aber alle hier erzählten finden sich in den„Teachings of Ramakrishna” wie sein Orden sie als Erbauungsbuch herausgegeben hat.

Ramakrishna wurde 1833 in einem Dorfe Bengalens geboren und endete seine Laufbahn als Heiliger und Lehrer 1886 zu Dakshineshvar an der unteren Ganga. Er war nach indischen Begriffen ungebildet: ein Kind des Volks, kein sanskritkundiger Pandit, und blieb als Heiliger und Lehrer ein Mann des Volkes. Die Parabeln und Geschichten, die er gesprächsweis brauchte und in seine Lehrreden verflocht, sind nicht seine Erfindung; sie liefen als Volksgut um. Sie leben im Schatten der Dorfbäume, wo man in mondhellen Nächten nach des Tages Glut beisammenhockt, sie wandern durch die Basare und über die Karawanenstraßen, sind an der Ganga zu Haus wie im Süden Indiens; viele von ihnen könnten so gut in Samarkand und Bokhara erzählt werden, wie in Teheran oder Beirut und anderen Orten mit klingenden Namen, aus denen schöne Teppiche in geduldiger Arbeit kommen, oder wo überall die Geschichten aus Tausend und einer Nacht spielen — kleine Geschichten mit großen Hintergründen, sind sie niemandes Schöpfung und gehören allen, wie Mythen und Bräuche. Ihre bescheidene Form ist eine der schönsten unter allen Arten zu erzählen und wandert so weite Wege wie ihr Sinn: diese volkstümlichen Parabeln haben ihre späten künstlich-schlichten Ebenbilder in den „Prosagedichten" Baudelaires und Oskar Wildes.

Das Geschichtliche spielt keine Rolle in ihnen, auch wo das Anekdotisch-Witzige ihm Raum gewähren könnte; sie wehren die weltgeschichtliche Größe ab, auch wenn sie den Riesenschatten Akbars beschwören; das Volk, das sie sich erzählt, hat keinen Anteil an sieghaft angehäufter Macht. Die Seele, die sich an ihnen nährt, kennt die Vergänglichkeit prunkender Throne und gewaltiger Gebärden und vergißt nicht, daß greifbare Stärke, sichtbare Macht nur auf Zeit das Gefäß der wirklichen Kräfte sein können.

Solche Geschichten haben Freude an Pointen, bedürfen ihrer aber nicht; manche von ihnen sind in ihrer sinnbildhaften Einfachheit so tief, daß sie gar keine Pointe brauchen (wie die Geschichte vom „guten Geruch"), — darin gleichen sie Menschen, die in der Gesellschaft nicht durch Witze und Worte glänzen, aber ohne Brillianz durch ihr bloßes Dasein wirken: in ihrer von sich selber gewitternden Ruhe selber ein wohlgelungener Witz der Natur.

Die meisten dieser Geschichten sind lehrhaft, darum handeln sie von der Torheit der Menschen. Der Wanderer unterm Wunschbaum begreift nicht, was ihm eigentlich geschieht: daß er unversehens aus der alltäglichen Sphäre in eine magisch-wunderbare geraten ist, wo jeder Wunsch, jede Seelenregung, Wirklichkeit und Macht ist. Er wandert durch die glühende Öde und sehnt sich nach dem kühlen Schatten eines Baumes: da steht der Baum vor ihm; aber alles was ihm unter seiner Schattenkrone geschieht und wohltut, sagt ihm nicht, daß er in ein unheimliches, gefährliches Bereich geraten ist, so freundlich wunscherfüllend es ihn tängt. Er begreift nicht, daß er jetzt selbst den seltsamen Gesetzen untersteht, deren wunderbare Wohltaten er empfängt; er nimmt sie als Überraschungen hin, läßt sie sich gefallen, aber sie wirken nichts an ihm. Er merkt nicht, daß er, dieser Wunder gewürdigt, unversehens in eine von Kräften durchwirkte Tabu-Sphäre geraten ist, in ein „Temenos" dämonischer Mächte, einen Zauberhain, dessen Schatten frommen Schauer fordert. Bäume sind für Indien alte segenspendende wunschgewährende Gottheiten; ein Dankgebet für ihre Huld sollte sich dem Wanderer auf die Lippen drängen. Übermächte sind, auch wo sie wohl-tätig wirken, keineswegs geheuer, sie erfordern ein Zeremoniell des Umgangs, daß man an ihrer Schwelle die Schuhe ausziehe, in ihrem Bannkreis behutsam sei und auf sich selber achte, — Vorsicht ist geboten, wo sie walten.