Kausalität
Der Kausalititsbegriff
Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.
Die im vorigen Kapitel aufgeworfenen Probleme finden ihre Lösung in der metaphysischen Naturlehre des Vedanta, der zufolge die Welt nicht etwas von Brahman Verschiedenes und aufser ihm Vorhandenes, sondern als mit Brahman iden¬tisch, als das in der Daseinsform der Natur auftretende Brah¬man selbst erkannt wird. Die Identität beider bedeutet dabei nicht, dais Brahman gleich der Welt, sondern nur, dafs die Welt gleich dem Brahman ist (p. 431,13). Näher betrachtet verhalten sich Brahman und Welt wie Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung aber sind ihrem innern Wesen nach identisch. So gründet sich die Identitätslehre unserer Autoren auf eine Untersuchung des Kausalitätsbegriffes, und es ändert an diesem Verhältnisse nichts, dais in dem uns vorliegenden Werke zuerst 2,1,14 die Lehre der Identität von Brahman und Welt mit vorwiegend theologischer Begründung, und so¬dann 2,1,15-20 gleichsam als ein Korollarium derselben der Beweis der innern Identität von Ursache und Wirkung auf¬tritt. Die logische Ordnung ist vielmehr umgekehrt: aus der Identität der Ursache und der Wirkung folgt die Identität des Brahman und der Welt, wie dies nicht nur in der Natur der Sache liegt, sondern auch am Schlusse des ganzen Ab-schnittes ausdrücklich ausgesprochen wird; p. 471,2: „Somit „ist die Wirkung mit der Ursache identisch, und folglich Walaç ca), da die ganze Welt eine Wirkung des Brahman ist, „sind auch sie identisch." — Demgemäfs lassen wir zuerst die Untersuchung über den Kausalitätsbegriff und dann die aufsie sich gründende Identitätslehre folgen. Vorher aber haben wir noch folgendes zu bemerken.
So natürlich es dem Menschen ist, das Verhältnis des Ansichseienden und der Erscheinungswelt unter dem Gesichts-punkte der Kausalität aufzufassen und demgemäfs Gott als Ursache, die Welt als Wirkung zu betrachten, — so irrig ist doch diese Meinung. Denn die Kausalität, welche nirgendwo anders ihre Wurzel hat, als in der Organisation unseres Er¬kenntnisvermögens, ist das Band, welches alle Phänomene der Erscheinungswelt untereinander verbindet, nicht aber die Erscheinungswelt mit dem, was durch sie erscheint. Denn zwischen Ansichseiendem und Erscheinungswelt besteht nicht Kausalität, sondern Identität: die Welt ist das „Ding an sich", wie es sich in den Formen unserer Erkenntnis abzeichnet. — Diese Wahrheit hat der Vedanta richtig ergriffen, kann sich aber von dem alten Irrtume, Gott als Ursache der Welt zu betrachten, nicht losmachen und sucht nun beides dadurch zu versöhnen, dais er den Begriff der Kausalität zu dem der Identität umdeutet. Zu diesem Zwecke fafst er den Begriff der Kausalität zu weit, indem er in ihr nicht nur das Band der Veränderungen, welche allein die Qualitäten, Formen und Zustände der Substanz betreffen, sondern auch das Band zwischen Substanz und Qualitäten, sowie zwischen Substanz und Substanz erkennt. Das Beharren der Substanz bildet das Hauptargument bei seinen Erörterungen, die wir jetzt in der Reihenfolge, wie wir sie p. 456-471 vorfinden, dem Leser vor Augur führen wollen.
Die Ursache besteht in der Wirkung fort.
Nur indem die Ursache fortbesteht, wird die Wirkung wahrgenommen, nicht, wenn jene nicht fortbesteht. So be¬steht der Ton fort im Gefäfse, die Fäden im Gewebe. Bei Dingen, welche verschieden sind, ist die Wahrnehmbarkeit des einen nicht durch das Bestehen des andern bedingt: ein Pferd z. B. kann wahrgenommen werden auch ohne dais eine Kuh vorhanden ist. Folglich sind Ursache und Wirkung nicht verschieden (p. 456,12).
Die Wirkung besteht schon vor ihrem Entstehen, nämlich als Ursache
Wenn es heifst: „dieses war zu Anfang seiend" (S. 248), so liegt darin, dafs dieses, nämlich die Welt, schon vor ihrem Ursprunge da war und zwar in der Gestalt der Ursache, des Seienden. Da, wo etwas nicht seinem Wesen nach schon vor-handen ist, kann es auch nicht entstehen: aus Sand kann kein 01 geprefst werden. Wenn aber die Wirkung schon vor ihrem Entstehen mit der Ursache identisch war, so bleibt sie es auch nach demselben. Wie Brahman nie etwas anderes ist als das Seiende, so ist auch die Welt nie etwas anderes als das Seiende. Das Seiende aber ist sich selbst gleich (p. 459).
Worin sich die Wirkung vor und nach ihrem Ursprunge unterscheidet?
Zwar sagt die Schrift auch: „dieses war zu Anfang nicht-seiend" (S. 139). Aber dieses Nichtsein ist kein absolutes, sondern bedeutet nur eine Verschiedenheit der Eigenschaften (dharma). Wie die Wirkung jetzt besteht in ihrer Eigen¬schaft als entfaltet in Namen und Gestalten, so bestand sie vor ihrem Ursprunge in ihrer Eigenschaft als nicht entfaltet in Namen und Gestalten; sie existierte, als die nämliche, in Gestalt ihrer Ursache (p. 460,2).
Die Wirkung liegt in der Ursache präformiert
Nur aus Milch, nicht aus Ton, entsteht die sauere Milch, nur aus Ton, nicht aus Milch, das Gefäfs. Dies könnte nicht sein, wenn die Wirkung vor dem Ursprunge nichts wäre; vielmehr müfste dann aus allem alles entstehen können. Jetzt aber liegt in der Ursache ein gewisses Über-sich-hinaus-weisen (kaçcid atiçayah) auf die bestimmte Wirkung hin, so der Milch auf die sauere Milch, des Tones auf die Gefäfse; und dieses verbietet, die Wirkung vor dem Ursprunge als nicht¬seiend zu betrachten. Jede Ursache nämlich hat ihre eigen¬tümliche Kraft (çakti), und diese Kraft bringt die bestimmte Wirkung und keine andere hervor; somit darf man Ursache und Wirkung, Substanz und Qualitäten nicht als verschieden, etwa wie Pferd und Ochs, sondern man mufs sie als wesens¬gleich betrachten (p. 461,3-462,0.
Hieran schliefst sich zunächst p. 462,5-464,8 eine, wohl gegen Kanâda gerichtete, Kritik der Auffassung der Kausalität als eines Înhärenzverhältnisses, welche, wie die meisten pole¬mischen Auslassungen des Werkes, mehr von Interesse für die bekämpften Lehren als für das Vedântasystem ist.
Die Tätigkeit des Entstehens mufs ein Subjekt haben.
Wäre die Wirkung vor ihrem Entstehen nicht, so würde die Tätigkeit des Entstehens ohne Täter und also ohne Sub¬jekt (nirâtraka) sein. Jede Tätigkeit aber mufs notwendig einen Täter haben. Wenn nun das Gefäfs entsteht, wer ist bei dieser Handlung der Täter, wenn nicht das Gefäfs selbst? — Etwa der Töpfer? Dann würde eben der Töpfer bei ihr entstehen und nicht das Gefäfs. — Oder meint ihr, die Wirkung entstehe und empfange ein Selbst, nachdem sie vorher mit dem Sein der Ursache verbunden gewesen? — Aber Verbindung kann nur zwischen zwei Seienden, nicht zwischen einem Seienden und einem Nichtseienden stattfinden. — Und ebenso undenkbar ist die Grenze, die ihr dem Nichtsein der Wirkung durch den Moment des Entstehens setzt: denn. nur ein Seiendes, nicht ein Nichtseiendes kann eine Grenze haben. — Und durch keine Tätigkeit kann das Nichtsein der Wirkung seiend gemacht werden, so wenig wie der Sohn der Unfruchtbaren durch irgend ein Bemühen seiend werden kann (p. 464,8-466,7).
Die Tätigkeit des Bewirken ist nicht überflüssig.
Aber wenn die Wirkung schon vor ihrem Ursprunge ebenso gut wie die Ursache seiend und mit ihr identisch war, so be¬darf sie doch, zu ihrem Entstehen, ebenso wenig wie die Ur¬sache selbst eines Bewirkers? — Doch nicht! Seine Aufgabe ist, die Ursache zur Gestalt der Wirkung umzustellen; wiewohl festzuhalten ist, dafs auch die Gestalt der Wirkung schon im Wesen der Ursache liegt, denn was kein Selbst hat, das kann, wie wir sahen, auch kein solches erlangen. — Übrigens wird ein Ding durch Verschiedenheit des Aussehens nicht anders: Devadatta bleibt der nämliche wenn er die Arme aus¬streckt und wenn er sie zusammenschlägt (p. 466,7-467,7).
Allgemeinheit der Identität von Ursache und Wirkung.
Wollt ihr die Identität von Ursache und Wirkung nur von dem gelten lassen, was durch Entstehen und Vergehen nicht alteriert wird, so bestreiten wir das: denn auch die Milch geht vor unsern Augen in sauere Milch über. Auch ist das Ent¬stehen, wie bei dem Hervorgehen der Pflanze aus dem Samen, nur ein durch Anhäufung gleichartiger Partikeln bedingtes Sichtbarwerden eines schon vorher Vorhandenen, und ebenso das Vergehen ein blofses Unsichtbarwerden durch Schwinden eben dieser Partikeln. Wäre hierin ein Lbergehen vom Nicht¬sein zum Sein, vom Sein zum Nichtsein zu erkennen, so würde der Embryo ein anderer sein als der nachherige Mensch, der Jüngling ein anderer als der Greis, zu dem er wird, und der Vater von jenem brauchte nicht auch der Vater von diesem zu sein (p. 467,7-468,4).
Die Tätigkeit des Bewirkers mufs ein Objekt haben.
Wäre die Wirkung vor dem Ursprunge nichtseiend, so würde die auf sie bezügliche Tätigkeit des Bewirkers ohne Objekt sein, wie Schwerthiebe in die Luft geführt. Oder soll ihr Objekt nicht die Wirkung, sondern die sie inhärierend habende Ursache sein? Dann wäre das Objekt ein anderes und somit würde auch das Resultat ein anderes sein. Oder soll die Wirkung ein Hinausreichen der Ursache, der sie in-häriert, über sich selbst sein? Dann wäre die Wirkung schon da und brauchte nicht erst bewirkt zu werden (p. 468,4-9).
Resultat
„Es steht also so, dafs die Substanzen selbst, z. B. die „Milch, durch das Dasein als sauere Milch usw. fortbestehen „und dabei den Namen der Wirkung annehmen, und dafs man „sich nicht denken kann, dafs die Wirkung von der Ursache „verschieden sei, auch nicht, wenn man hundert Jahre darüber „grübelte. Und da es die Wurzelursache ist, welche bis zur „letzten Wirkung hin in Gestalt dieser und jener Wirkung „wie ein Schauspieler in allen möglichen Rollen auftritt, so „ist damit logisch erwiesen, dafs die Wirkung vor ihrem „Ursprunge seiend und mit der Ursache identisch ist" (p. 468,10-469,1). Hieran schliefsen sich, p. 469, noch andere, theologische Argumente an.
Erläuternde Beispiele
1) Solange ein Tuch zusammengerollt ist, sieht man ihm nicht an, ob es ein Tuch oder sonst etwas ist, und wenn man es ihm auch ansieht, so erkennt man doch nicht seine be¬stimmte Länge und Breite; wird es aber aufgerollt, so sieht man was es ist und wie lang und breit es ist: wie hier das zusammengerollte und das aufgerollte Tuch identisch sind, so ist es auch die Ursache und die Wirkung (p. 470,1-10; die Worte 470,7-9 scheinen eine Interpolation zu sein).
2) Wie das Einatmen und Ausatmen, wenn .man den Atem anhält, nur in der Gestalt der Ursache (des präna, Leben, Odem) fortexistieren und als Wirkung nur das Leben, nicht aber die Muskelbewegungen des Atmens hervorbringen, läfst man aber dem Atmen wieder freien Lauf, aufser dem Leben auch die Muskelbewegungen, und wie die genannten Lebens¬hauche von dem Leben (prdna), dessen Verzweigungen sie sind, nicht verschieden sind, indem das Wesen beider in der Animierung (samiranam) besteht, so ist auch die Wirkung nicht verschieden von der Ursache (p. 470,12-471,2).