Indisches Kultbild und klassische Kunst
Aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 19 ff.
"Unser Wissen um indische Kunst wächst unablässig: Verschüttetes wird, wenn auch nur mählich und verstreut, zutage gefördert, und was von alten wie jüngeren Denkmalen sich des Lichts der Sonne freut, wird von einer immer größeren Schar begeisterter Liebhaber aufgenommen und der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Die inhaltliche Bestimmung der Stücke wird genauer, das Verständnis ihres stilistischen Details verfeinert sich und spinnt das Netz geschichtlicher Beziehungen, die ihre Masse ordnen, immer enger.
Zugleich wird unter denen, die sich mit indischer Kunst beschäftigen, eine Geste der Vertrautheit mit ihrem Stil und Wesen üblich, wie sie uns vor Denkmalen, die zum Erbe unserer eigenen Kultur gehören, gemäß sein mag, — angesichts dieser Zeugen einer anderen Welt bleibt sie einstweilen verwunderlich. Denn was wir zum Beispiel über das Wesen eines Haupttypus indischer Kunst, über das Kultbild, wissen: über seine Absicht und seinen mütterlichen Boden, ist bislang sehr wenig und reicht nicht hin, das Eigentümliche der Empfindung zu erklären, die uns befällt, wenn wir vor diese Erscheinungen, die einzig in ihrer Art sind, treten.
Man kann viel über indische Kunst hören und lesen und erfährt dabei auch vieles. Abgesehen von der unerläßlichen, rein ikonographischen Arbeit, die ihre inhaltlichen Bezüge klärt und damit den Grund zu aller weiteren Betrachtung legt, hat hier Stilanalyse, ästhetisch wertende Betrachtung und unmittelbare Ergriffenheit ein weites Feld gefunden. Aber wenn man ihre vielfältigen Äußerungen durchläuft, sucht man im ganzen vergeblich nach einer Antwort darauf, warum eine so vornehme Erscheinung indischer Kunst, wie das indische Kultbild, in seinem allgemeinsten formalen Habitus so ist, wie es ist, warum es uns — jenseits landschaftlicher Schranken Vorder- und Hinterindiens, des Nordens wie des Südens — mit einem ganz eigentümlichen Gestus begegnet, vor dem wir immer wieder in ebenso elementarer Ergriffenheit wie befangener Scheu stehen.
Zwischen ihm und uns liegt es wie eine Schwelle, die zu überschreiten uns keine Füße gewachsen sind. Das Wissen um Namen und Bedeutung der hohen Wesen, die in ihm Gestalt werden, genügt augenscheinlich nicht, um uns jene Nähe und jene Vertrautheit mit ihnen zu verschaffen, die uns mit den großen Erscheinungen unseres eigenen künstlerischen Erbes verbindet. Wir fühlen: es hat mit ihrer eigentümlichen Form eine besondere Bewandtnis, zu deren Klärung ein Wissen um die Weltanschauungslehren, aus denen sie erwachsen, und die Symbolik ihrer Haltungen, ihrer Embleme und ihrer legendaren Situation allein nicht ausreicht.
Nehmen wir diese geistigen Bezüge in uns auf, so werden wir zwar wissender um die Bedeutung dieser Bilder, ihr Geistiges wird uns verständlich, aber ihr Sinnliches: ihre formale Erscheinung und Wirkung, die in gewissem Umfange als Ausdruck eines Geistigen auch eine geistige Deutung zulassen, behalten einen ganz elementaren ungelösten Rest, der eben jene Spannung der Distanz zwischen uns und diesen Gebilden bedeutet. Diese Spannung wirklich überwinden hieße wohl aus unserer westlichen modernen Haut fahren, aber insofern wir liebende Betrachter dieser Zeugen einer anderen Welt sind, ist es uns aufgegeben, wenigstens begreifend diese Spannung zu lösen: zu klären, was mit uns geschieht, wenn wir ihnen gegenübertreten, und warum dann immer mit uns geschehen muß, was mit uns geschieht.
Die Frage, die diese Spannung uns auferlegt, geht nicht um den besonderen Inhalt und den zeitlich wie landschaftlich bestimmten Stil einzelner dieser Kultbilder. Das Wissen um diese beiden Dinge gehört zuden notwendigen Voraussetzungen oder zur fruchtbaren Detailkenntnis, aber die Antwort, die aus diesem Wissen kommen kann, ist teils zu allgemein, teils zu speziell, als daß sie unsere Spannung lösen könnte.
Sie gilt zum Beispiel in gleicher Weise von den großen Relieffolgen der indischen Götter- und Buddhalegende wie vom Kultbild, die doch in anderer Weise zu uns sprechen, als dieses. Eben daß es Kultbilder sind, vor die wir treten, bezeichnet die Richtung, in der die Lösung unserer Spannung liegen kann. Sie sind ja keine selbstgenugsamen Gebilde, kein reiner Ausdruck einer religiösen Weltanschauung, die unser Wissen sich zu eigen machen kann; sie sind zweckbestimmte Glieder eines seelisch-sakralen Prozesses. Es ist uns gewiß versagt, ihn zu üben, aber wenn wir ihn unserem Geiste vorführen könnten, mag es uns gelingen, die ganz eigentümliche Funktion jener Gebilde, die uns als selbstgenügsame Schönheit und als geistiges Symbol fasziniert haben, zu umschreiben und aus dieser ihrer Funktion heraus zu begreifen, warum sie sind, wie sie sind.
Diese Empfindung schmerzlicher Spannung und liebenden Befremdens angesichts des indischen Kultbildes ist bei uns freilich nicht ganz so allgemein verbreitet, wie es vielleicht natürlich wäre. Die augenblickliche Beschäftigung mit indischer Kunst befindet sich immer noch im Stadium der Gegensätzlichkeit zum Klassizismus, der sie in seinen Museen unter ethnographisches Material einordnete und naiv den Wertkanon des klassischen Stils an sie herantrug. Indem diese Haltung mit einem oft ungewollten Snobismus seine Begriffe resolut beiseite schiebt, gelangt sie zwar dazu, die ewige selbstgenügsame und ursprüngliche Bedeutung ihres Stoffes zu behaupten; aber, wenn sie sein Wesen umschreiben will, verliert sie sich bei seiner Behandlung gern entweder in subjektiver Begeisterungshymnik, die ihr Ergriffensein zum Gehalt der Bildwerke erhebt, oder bewegt sich in historischem Detail von Datierung, Stilbezügen und ideengeschichtlichem Hintergrund.
Sie verschweigt sich gern das unvermeidliche Gefühl des Befremdens und die Stimmung ein anderes Reich zu betreten, die uns Westliche immer wieder befallen, wenn wir nach einer Pause wieder einmal einem indischen Bildwerk gegenübertreten, vielleicht weil sie in dauernder Berührung mit solchen sich an diese Empfindung des Befremdens gewöhnt hat und sie nicht mehr bemerkt. Diese Empfindung gehört dann schon mit zur Sphäre dieser Beschäftigung und würde, vom Bewußtsein zugegeben, den Mut zur Aussage schwächen, dessen man auf diesem schlecht erhellten Trümmerfelde unbedingt bedarf, wenn man den Ehrgeiz und die Neigung hat, etwas von sich aus deutend darüber verlauten zu lassen.
Nachdem der Absolutismus des klassischen Ideals, der sich bei der Geringschätzung indischer Plastik auf Verse des winckelmännisch blickenden Goethe von »Elefanten- und Fratzen-Tempeln, düstrem Troglodytengewühl und verrückter Zierrat-Brauerei« beziehen konnte, durch Revolutionen unserer Art zu sehen, bei uns beseitigt ist, nach denen auch ein drohender Neoklassizismus nur die Ruhepause einer biedermeierlichen Restaurationsepisode bedeuten könnte, ist nicht abzusehen, warum dieses Gefühl der Fremdheit, das als Begleiterscheinung des ersten Eindrucks eines indischen Kunstwerks weit verbreitet ist, nicht offen eingestanden sein soll, da es mit keiner abschätzigen Bewertung indischen Materials mehr verbunden sein kann.
Verständnis aller Kunst setzt eine unbefangene Klärung des Eindrucks voraus, Ehrlichkeit, über keine seiner Komponenten hinwegzugleiten, und wenn sich in uns bei Begegnung mit indischer Plastik noch immer wieder statt spontanen Ergriffenseins und unmittelbarem Kontakt ein milder Schauer ehrfürchtiger Verwunderung, ein unwillkürliches Leisegehen der Seele wie beim Betreten fremder, halbverhängter hoher Räume einstellt, uns fremde Fühlung überfällt, muß es fruchtbar sein, dieses sich immer wieder einstellende Eindruckselement festzustellen und anzuerkennen, anstatt es in kaum bernerter Aufwallung von Scham vor uns selbst, als unseres leidenschaftlichen Erkenntniswillens unwürdig und mit unserer Lust in diese große Welt einzugehen, unvereinbar, aus dem Lichtkreis des Bewußtseins zu verbannen, wenn es ihn betritt.
Wir mögen mit indischer Kunst noch so vertraut tun und auch sein, wir können die Tatsache einstweilen nicht aus unserer Entwicklung bannen, daß wir an der klassischen Kunst sehen gelernt haben. Ihre Art zu sehen, beherrschte noch die impressionistische Kunst. Wir können es nicht aus unserer Gegenwart löschen, daß unsere Häuser, unsere Plätze in ihrer Form überwiegend klassisch geprägt sind, und unser Auge, wo wir gehen und stehen, sei es auch widerwillig und beleidigt von der Unnatur der meisten dieser kümmerlichen Derivate eines großen Stils, sich mit ihnen auseinandersetzen muß, und daß sein Stil, Künstlerisches zu sehen, dadurch in erster Linie klassisch geschult und bestimmt ist.
Löscht darum eine verbreitete Liebe zur indischen Kunst jede Erinnerung an klassische Bilder aus ihrem Bewußtsein, um ganz in ihrem verehrten Element zu schwimmen, um, wie man wohl sagt, es »aus sich heraus zu verstehen«, so muß einem Bewußtsein, das die Empfindung immer erneuter Verwunderung beim Anblick indischer Plastik unbefangen anerkennt, dieser Weg als nicht ganz befridigend erscheinen, weil er ein wesentliches Eindruckselement bei seiner Arbeit des Verstehens glaubt ungestraft überspringen zu können, das für unser nicht frei gewähltes, sondern durch unsere geschichtliche Situation uns einmal auferlegtes Verhältnis zu ihr bezeichnend ist. Aus der Klärung dieses Elements der Verwunderung muß sich eine, wenn auch nur kleine Einsicht in die Eigenart indischer Plastik gewinnen lassen, um deren Erkenntnis es uns bei aller Beschäftigung mit ihr zu tun ist. Diese Einsicht wird eine ganz vorläufige sein und kann zunächst, als in reiner Subjektivität der Erfahrung begründet, nur den Wert einer Anregung haben: sie veranlaßt, nach dem sachlich Gegebenen zu fragen, das die besondere Wirkung des indischen Kultbildes auf den ästhetisch eingestellten Betrachter erklärt, weil es den Boden für seine Erscheinung, wie sie erscheint, bildet. Diese Klärung kann sich nur an einer Gegenüberstellung klassischer Denkmäler mit indischen vollziehen, bei der unser verschiedenes Verhalten zu beiden Gruppen festgestellt und in einem gewissen Umfange gedeutet wird. Überflüssig, zu sagen, daß es sich bei den dafür notwendigen Formulierungen um keinerlei Bewertung der Gegenstände handelt.
Für diese Erhebungen scheint es nicht vonnöten, eine Umgrenzung des Begriffs der klassischen Kunst vorauszuschicken, die im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts entstand und als Stilphänomen seither in Europa eine unvergleichliche Rolle gespielt hat. Ihr Wesen ist bekannt und steht hier nicht in Frage, wo es sich zunächst nur um eine Kontrolle unseres Verhaltens vor Stücken ihres Bereichs handelt im Vergleich zur Wirkung indischer Kultbildplastik auf uns. Dazu genügt es, sich auf Stücke zu beziehen, deren klassischer Charakter unbestritten ist, etwa auf Polyklets Doryphoros, den Apollo des Belvedere, die Aphrodite von Knidos oder ihre mediceische Schwester und Reliefs wie den Abschied des Orpheus. — Unter der Masse indischer Kultplastik bilden die Buddha- und Heiligenbilder des nordwestlichen Grenzlandes Gândhâra einen besonderen Erscheinungskomplex zwischen den Lagern des klassischen Stils und des rein indischen Kultbildes, wie es ihrer zeitlichen und geographischen Mittelstellung zwischen der hellenistischen Kunst der Mittelmeerkultur und der nachchristlichen des eigentlichen Indien samt seinen östlichen Kultur provinzen entspricht.
Sie sind Ausstrahlungen hellenistischer Kunst auf indischen Boden und haben mit dem echt indischen Kultbild formal noch wenig gemein. Der starke westliche Einschlag an ihnen erlaubt es, manche darunter kontrastierend gegen rein indische Ausprägungen desselben Motivs auszuspielen. Ist an ihnen nicht abzulesen, was die eigenartige Formgebung ihrer indischen Geschwister aufschließen kann, so scheint es mit dem Blick auf Indien geboten, sich von vornherein westlicher Gepflogenheiten zu entschlagen und Grenzen bisher geübter Betrachtung auszulöschen, die es für den Inder nicht gibt. Wo die Betrachtung der Form des indischen Kultbildes halt zu machen hat, kann nur ihr Gegenstand selbst bestimmen.
Das menschenhaft gestaltete figurale Kultbild soll in seiner ganz eigentümlichen Formgebung begriffen werden, aber wenn es sich als kurzsichtig und ungerechtfertigt erweist, seine Erscheinung, westlicher Gewohnheit folgend, von anderen Gebilden zu trennen, die für das indische Auge ihm eng verwandt sind und in der Kultpraxis seine Stelle einnehmen können, so verschieden sie unserem ungeschulten Auge und unserem nichteingeweihten Geiste dünken mögen, — müssen die eigenen Wege indischer Auffassung bis an ihr Ende gegangen und das Feld der Betrachtung genügend erweitert werden, muß, wo für sie der mütterliche Boden Indiens annoch das Anschauungsmaterial versagt, das Erbe seiner Nachbarländer, die Saatgut von ihm übernahmen, herangezogen werden.
Betritt man einen Raum mit indischer Plastik, so ist man zunächst von der Stille betroffen, die ihn erfüllt, auch wenn er stark bewegte Gestalten enthält. Sie atmen eine Ruhe aus, die sich auf den Beschauer legt, seine Schritte verlangsamt und ihn äußerlich wie innerlich verstummen macht.
Diese Kunstwerke regen nicht zu begeisterter, huldigender Zwischensprache an, sie wollen nicht betrachtet und schön gefunden werden. Sie führen ein Leben für sich, und auch der Buddha, der mit erhobener oder abwärts geöffneter Hand sich mehr vor uns befindet, als daß er steht, vollzieht im Schilde seiner Aura mit diesen Gesten sein Wesen, ohne sich an unsere Person zu wenden. Vor seinem ruhevollen Wesen sind wir nicht. Er zieht unseren Blick nicht spontan auf sich, wie eine klassische Gestalt, die den suchenden oder noch verlorenen Blick des Besuchers ihres Raums sofort auf sich bannt und nicht gewillt ist, zu entlassen, bis er sich gewaltsam dem seligen Auf und Ab ihres Linienspiels entreißt oder von den noch undurchlaufenen Reizen einer benachbarten Figur in Bann geschlagen wird, — unversehens bei einem Abirren oder weil sie bei einer Wendung zufällig mit in sein Bereich geriet. Diese indische Plastik nimmt augenscheinlich keine Notiz von unserer Anwesenheit, und in unserem Wunsche, mit ihr Kontakt zu gewinnen, fühlen wir uns gehemmt.
Dabei ist sie uns in ihrem greifbar-räumlichen Dasein näher als ein klassisches Bildwerk. Sie teilt mit uns denselben Raum, während die klassische Kunst gleichsam in ihrer eigenen Sphäre, die sie umfließt, steht und sich bewegt. Ein klassisches Bildwerk ist für uns wie von gläserner Luft umwoben; aber die Hand der Buddhas ragt in denselben Raum, den wir mit unserem Atem füllen. Es ist nur ihre Ruhe, ihr In-sich-Versunkensein, Ihr Nichtwissen um unsere Nähe, was sie davor bewahrt, einen Raum mit uns teilend, ein bloßer Gegenstand, wie ein Sarkophag oder Inschriftenstein für uns zu sein. Sonst könnte eine neugierige und gewissenlose Hand sie berühren.
Wie anders die Art, in der ein klassisches Bildwerk unser Auge an sich saugt, unendlich zu ihm redet und dabei doch einen unbedingten Abstand wahrt, indem es verschmäht, den Raum unserer Körperlichkeit mit uns zu teilen! Es bannt uns bei unserem Auge, und das Auge, das schauen will, kann seine Entfernung zum Gegenstand nicht unendlich verringern, bis sein Gegenstand in den Tastbereich der Hand käme. Es hat nicht einmal die Freiheit, sie beliebig zu wählen, sondern der Gegenstand selbst zieht ihm aus seiner eigenen Bedeutung die Grenzen, zwischen die es treten muß, wenn es seine Sprache vernehmen will. Verläßt es sie, steht es keinem Kunstwerk mehr gegenüber, sondern einer toten Masse.
Das klassische Kunstwerk appelliert an das Auge und verspricht ihm eine Unendlichkeit, wenn es seinen geheimen Winke folgen will; woran indische Plastik appelliert, bliebe zu fragen, — an unser schaulustiges Auge jedenfalls nicht. Denn ihre Formen verschmähen es, uns anzublicken, eine Blickverbindung mit uns aufzunehmen, die, einmal hergestellt, unser Auge über ihre Formenfülle leiten könnte. Die klassische Kunst appelliert an das Auge und nur an das Auge. Wen sie bannt, der erstarrt körperlich in ihrem Bann und wird ganz Auge. Aber indische Plastik umkreisen wir leicht schwermütig, ungesehen von ihr und suchen einen Blick von ihr zu erhaschen.
Das Auge kennt keine Stofflichkeit des Eindrucks. Während indische Plastik stumm in räumlicher Kompaktheit und Schwere vor uns ruht, lebt die klassische Gestalt in einer Entbundenheit von Stoff und Schwergewicht, sie lastet nicht. Und das gibt ihr den Anschein, innerhalb unserer eigenen Räumlichkeit wie in ihrer eigenen Sphäre zu stehen. Indem sie unser anschauendes Auge fängt und uns ganz Auge werden läßt, erreicht sie, daß unser Auge eine Transsubstantiation an ihr vollzieht: ihre physische Realität verflüchtigt sich in eine rein optische. Sie ist entschwerte räumliche Geste, indische Plastik bleibt uns stoffliches Gebilde. An Polyklets Doryphoros z. B. ist das Stoffliche als solches ausgelöscht, denn das Auge sieht nur seine Gestalt. Erst der ästhetisch reflektierende Verstand, der die Komponenten des Eindrucks nachrechnet und auf ihre Ursachen zu reduzieren versucht, gibt sich über die Materialität von Stein und Bronze Rechnung. Er ist die Gestalt eines Jünglings, aber im Sundaramurtisvamin haben wir die Bronzefigur eines schönen Jünglings vor uns.
Während die klassische Kunst das Material (seine Möglichkeiten ausschöpfend) als solches aufhebt und zu einem Bildnis verklärt, bleibt es in indischer Plastik greifbar nahe. Sie ist bearbeitete Materie, die in ihrer Eigenart erhalten bleibt und an der man nur die vollzogene Formung bewundern kann. In ihr steht nicht ein Jüngling oder Stier vor uns, sondern das steinerne oder bronzene Bildwerk eines Jünglings oder Stieres. Denn sie bannt uns nicht, nur Auge zu sein, verwandelt uns nicht zu einem nur Schauenden, sondern beläßt uns unsere Körperlichkeit. Das bewahrt ihr die ihre.
Darum sind die Buddhas der Wandungen von Boro Budur bei aller Erdenferne von derselben Luft umspült, die den Pilger streift, der die Terrasse zu ihren Füßen umwandelt, sie sind ihm genau so körperlich nahe in ihren Nischen, wie die Mauern, in die ihr Sitz eingespart ist, sie sitzen in demselben greifbaren Raume, der um das Wandgestein zu ihnen hineinleckt. Ihre Eigenschaft, Ferne um sich zu breiten, beruht auf keiner Transsubstantiation durch das Auge, sondern auf ihrem selbstgenugsamen Für-sich-Sein, das Distanz schafft um sich her, wie die unnahbare Erscheinung eines lebendigen Heiligen, der durch eine Menge schreitet, die ihm Platz macht, weil er ihrer nicht gewahr wird.