Das Rad der Wiedergeburten: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Datei:Brahma-vishnu-lakshmi.jpg|thumb|Brahma entsteigt dem Lotos, der aus Vishnus Nabel sprießt]]
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'''Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen [[Heinrich Zimmer]] entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)'''
 
==Indische Mythen und Symbole - Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit==
 
===Teil 2: Das Rad der Wiedergeburten===
[[Indien]]s Schatz von Mythen und Sinnbildern ist unermeßlich. In den zahllos wimmelnden Texten und den massenhaft vorhandenen Architekturmonumenten überquellen so viel inhaltsreiche Einzelheiten, daß trotz aller Herausgabe-, Übersetzungs- und Deutungsarbeit der Gelehrten seit dem 18. Jahrhundert es keineswegs eine seltene [[Erfahrung]] ist, bisher unbemerkten oder unbekannten Erzählungen, unentzifferten [[Nyaya|Gleichnissen]] und ausdrucksvollen, noch nicht verstandenen Charakterzügen zu begegnen, oder auch ästhetischen und philosophischen Werten, um die sich noch kein Verständnis bemühte. Vom zweiten Jahrtausend v. Chr. gehen die indischen Überlieferungen in ungebrochener Folge fort. Da die Weitergabe vorwiegend mündlich geschah, ist uns nur ein unvollständiger Bericht der langen und reichen [[Entwicklung]] geblieben: bestimmte langdauernde und produktive Perioden haben kaum Zeugnisse hinterlassen, und vieles ist unwiederbringbar verloren gegangen. Dennoch sind, obgleich Zehntausende von Handschriftseiten noch auf Herausgabe warten, die großen bereits im Westen und in Indien gedruckt vorliegenden Werke so zahlreich, daß kein einzelner hoffen kann, sie im Laufe eines Lebens zu bewältigen.
 
Diese Erbschaft ist sowohl übermächtig wie bruchstückhaft und dennoch so einheitlich, daß es möglich ist, ihre Hauptzüge in einem einfachen zusammenhängenden Umriß wiederzugeben. Wir glauben in dem vorliegenden Band imstande zu sein, die Hauptgebiete und -probleme, die herrschenden Sinnbilder und bezeichnendsten Züge der reichen Mythenwelt des Hinduismus nicht nur zu überblicken, sondern auch in einem gewissen Grade zu erforschen.
 
Fragen der Methodologie und Interpretation, die unvermeidlich auftauchen, werden wir an ihrer Stelle behandeln. Dies kann aber nicht außerhalb, am [[Anfang]], geschehen. Sind wir doch jetzt noch nicht mit den Personen, dem Stil, den Ereignisfolgen, den grundlegenden Vorstellungen und Wertmaßstäben dieser von der unsrigen so ganz verschiedenen Überlieferung vertraut. Es wäre nicht angängig, die Begriffe des Ostens in die dem Westen gewohnten, beschränkenden Rahmen zu zwängen. Wir müssen ihrer tiefen Fremdheit erlauben, uns die unbewußten Beschränkungen zu zeigen, denen unsere eigene Annäherung an die [[Rätsel]] von [[Mensch]] und [[Sein]] unterliegt.
 
Die wunderbare Geschichte von der [[Die Parade der Ameisen|Parade der Ameisen]] öffnet uns ein fremdartiges Schauspiel; der Pulsschlag eines anderen Raum- und Zeitgefühls lebt in ihr. Im Gesamtgefüge einer gegebenen Überlieferung und Kultur werden die Anschauungen von [[Raum]] und [[Zeit]] gewöhnlich fast selbstverständlich genommen. Ihre Gültigkeit wird selten erörtert oder in Frage gestellt, selbst nicht von Leuten, die sich in Bezug auf soziale, politische und moralische Probleme scharf absondern. Sie scheinen unvermeidlich, farblos und auch unwichtig zu sein; bewegen wir uns doch durch sie hindurch und werden von ihnen getragen wie der [[Fisch]] im [[Wasser]]. Wir sind in ihnen enthalten und werden von ihnen eingefangen in Unkenntnis ihrer besonderen Beschaffenheit, weil unser [[Wissen]] nicht über sie hinaus reicht. So werden uns die indischen Auffassungen von Zeit und Raum zuerst krankhaft und bizarr erscheinen, denn die Grundlagen der westlichen Anschauungen sind unseren [[Auge]]n so nah, daß sie unserer Prüfung entgehen. Sie sind aus dem Stoff, aus dem unsere Erfahrung und unsere Antworten darauf gewebt sind. Daher neigen wir dazu, sie problemlos als Grundlagen menschlicher Erkenntnis im allgemeinen und als integrierende Teile der Realität hinzunehmen.
 
Die erstaunliche Erzählung von der »Reeducation« des triumphierenden und erfolgsstolzen Indra spielt mit [[Vision]]en kosmischer Zyklen — Äonen, die einander ebenso in der Endlosigkeit der Zeiten folgen wie sie gleichzeitig nebeneinander in den Unbegrenztheiten der Räume stehen — wie sie wohl schwerlich in dem soziologischen und psychologischen Denken des Westens einen Platz finden können. Im »zeitlosen« Indien bestimmen diese weiten Ein-und Ausatmungen den Lebensrhythmus alles Denkens. Das [[Chakra|Rad]] von [[Geburt]] und [[Tod]], der Kreislauf von Hervorbringung, Reife, [[Laya|Auflösung]] und Wiederhervorbringung ist ebenso ein Gemeinplatz volkstümlicher Sprache wie ein grundlegendes Thema für Philosophie, Mythos und Sinnbild, für [[Religion]], Politik und Kunst, und dies nicht nur auf das [[Leben]] des einzelnen bezogen, sondern auf die Geschichte der sozialen Gebilde und den Ablauf des Kosmos. Jeder Augenblick des Lebens wird vor dem Hintergrund dieser göttlichen [[Fülle]], dieses Pleromas, gemessen und beurteilt.
 
Nach den Mythologien des [[Hinduismus]] zerfällt jeder Weltzyklus in vier [[Yuga]]s oder Weltalter. Diese lassen sich mit den vier Weltaltern der griechisch-römischen Überlieferung vergleichen. Gleich diesen sinken sie in ihrer moralischen Qualität je weiter der Ablauf vorschreitet. Die klassische Antike benannte sie nach den Metallen Gold, Silber, Erz und Eisen, der Hindu nach den vier Würfen des indischen Würfelspieles: Krita, Treta, Dvapara und [[Kali]]. In beiden Fällen erinnern die Benennungen an die jeweilige Beschaffenheit der einzelnen Perioden,wie sie einander in langsamer, unumkehrbarer Folge ablösen.
 
Krita ist das Partizipium Perfektum des Verbes kri, tun; es bedeutet wörtlich »getan, gemacht, vollbracht, vollendet«. Es ist der Wurf, der den ganzen Einsatz gewinnt, der Wurf des totalen Gewinns. Nach der indischen Anschauung ist die Idee des Totalen oder der Totalität mit der Zahl vier verbunden. »Vier Felder« bedeuten »Totalität«. Alles Vollständige und in sich selbst Ruhende wird als seine vier »Viertel« besitzend vorgestellt ([[Pada]]). Es steht fest auf seinen »vier Beinen« (catuh pada). So ist [[Krita Yuga]], das erste der Weltalter, das vollendete oder »vier Viertel enthaltende« Yuga. [[Dharma]], das moralische Gesetz der [[Welt]], welches zwar schon vor ihrem Anfang existiert, aber in den Sphären, [[Kraft|Kräften]] und [[Wesen]] der Welt offenbar wird, befindet sich während dieser Periode sicher auf seinen vier Beinen wie eine heilige [[Kuh]]; es ist zu hundert Prozent oder vier Vierteln wirksam als alldurchdringendes Bauelement im Organismus des [[Universum]]s. (Dharma: Lex aeterna, ideale oder absolute [[Gerechtigkeit]] oder rechtliche Gesinnung wie bei Plato und Lucas 12, 31: Der entsprechende Teil dieser Gerechtigkeit, der sich auf das Individuum bezieht, ist sein »Selbstgesetz« ([[Svadharma]]), die [[Berufung]], soziale Stellung oder Pflicht, wie sie für ihn durch seine eigene [[Natur]] gegeben ist. — AKC. Bemerkung des Herausgebers: Dr. Ananda K. Coomaraswamy hat freundlicherweise eine Anzahl von erklärenden Anmerkungen zur Ergänzung des von Professor Zimmer hinterlassenen Materials beigesteuert. Diese stehen in eckigen Klammern und sind mit AKC bezeichnet.) Während dieses Yuga werden [[Mann|Männer]] und [[Frau]]en schon tugendhaft geboren.
Sie widmen ihr Leben der Erfüllung ihrer [[Pflicht]]en und Aufgaben wie sie vom Dharma göttlich vorbestimmt sind. Die [[Brahmane]]n erstrahlen in [[Heiligkeit]], Könige und adelige Stammeshäupter handeln in Übereinstimmung mit den idealen Bahnen königlichen Verhaltens. Bauern und Stadtvolk widmen sich mit ganzer [[Hingabe]] der Hauswirtschaft und dem Handwerk. Die niederen dienstbaren Klassen verharren gesetzgebunden in [[Gehorsam]]. Selbst Leute niedrigsten Ursprungs befolgen die heilige [[Ordnung]] des Seins.
 
Aber mit der Beschleunigung des Lebensvorganges des Weltorganismus verliert die Ordnung an Boden. Das heilige Dharma verschwindet Viertel nach Viertel, während sein Gegensatz das Feld gewinnt. Darum ist [[Treta Yuga]] nach dem Wurf der Drei genannt. Treta ist die Triade oder das Drittel, also drei von den Vierteln. Ethymologisch ist das Wort mit dem lateinischen tres, dem griechischen treis, dem englischen three, dem deutschen drei verwandt.
 
Während des Treta Yuga wird der Leib des Universums sowohl wie die menschliche [[Gesellschaft]] nur durch drei Viertel des Dharma aufrecht erhalten. Die Lebensweisen, die den vier Kasten angemessen sind, beginnen in Verfall zu geraten; Pflichten sind nicht länger die spontanen Gesetze menschlichen Handelns, sondern müssen erlernt werden.
 
[[Dvapara Yuga]] ist das Zeitalter des gefährlichen [[Gleichgewicht]]es zwischen [[Unvollkommenheit]] und [[Vollkommenheit]], [[Finsternis]] und [[Licht]]. Sein Name ist abgeleitet von dvi, dvâ, dvau, »zwei« (vergleiche eben dieses deutsche Wort, das lateinische duo, das französische deux, das englische deuce, das griechische duo, das russische dva). Es ist der Wurf der Duade. Während des Dvapara Yuga sind nur noch zwei von den vier Vierteln des Dharma in der manifestierten Welt wirksam; die andern sind unwiderruflich verloren. Die Kuh der ethischen Ordnung steht nicht mehr fest auf vier Beinen oder ruht einigermaßen sicher auf drei, sondern balanciert auf zwei. Der ideale halbgöttliche Zustand des Sozialen ist zerstört, und das Wissen um die offenbarte Rangordnung der Welten verloren. Die Vollkommenheit der spirituellen Ordnung gibt dem Dasein des Menschen und des Universums keine Kraft mehr. Alle menschlichen Wesen, Brahmanen und Könige sowohl wie Handelsvolk und Diener werden, geblendet durch [[Leidenschaft]]en und nach irdischem Besitztum süchtig, gemein und erwerbsgierig. Sie wenden sich von der Erfüllung auch der geheiligtsten Pflichten ab, wenn sie [[Selbstverleugnung]] erfordern. Die wahre [[Heiligkeit]], nur durch gläubige [[Hingabe]] erreichbar, durch Gelübde, [[Fasten]] und asketisches Tun erlangbar, erlischt.
 
[[Kali Yuga]] endlich, das finstere Weltalter, hält sich lediglich auf fünfundzwanzig Prozent der vollen Kraft des Dharma. Nun triumphieren [[Egoismus|egoistische]], verschlingende, blinde, ruchlose Kräfte und beherrschen die [[Gegenwart]]. [[Kali]] bedeutet das schlimmste von allem; auch »Streit, Zank, Spaltung, Krieg, Schlacht« (verwandt mit kal-aha, »streiten, zanken«). Im Würfelspiel ist Kali der Verliererwurf. Während des Kali Yuga sind der Mensch und seine Welt in ihrem schlimmsten Zustand angelangt. Der moralische und soziale Niedergang wird an einer Stelle der Vishnu Purana (eine klassische Quelle für Hindu-Mythologie und -Überlieferung vom 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Übersetzt durch H. H. Wilson, London, 1840. Der oben stehende Text ist eine Zusammenziehung einer langen beschreibenden Stelle in Buch IV, Kapitel 24) wiedergegeben: »Wenn die [[Gesellschaft]] in einen Zustand gerät, wo [[Reichtum]] Rang verleiht, [[Besitz]] die einzige Quelle der [[Tugend]] wird, Leidenschaft das einzige Band zwischen Mann und Weib, Betrug die Grundlage des [[Erfolg]]es im Leben, geschlechtliche Liebe der einzige [[Weg]] zur [[Freude]] und äußere Verwirrungen mit innerlichem [[Glaube]]n zusammengeworfen werden ...« — dann sind wir im Kali Yuga, der Welt von heute. Der Anfang dieses Weltalters wird für Freitag, den 18. Februar 3102 v. Chr. angenommen.
 
Das Fehlen des [[Dharma]] erklärt die kurze Dauer des Kali Yuga, die nur 432 000 Jahre beträgt. Das vorhergehende Treta Yuga, stärker durch den doppelten Betrag an moralischer Substanz, wird als zweimal so lang, 864 000 Jahre, angegeben. Entsprechend ist das Dvapara Yuga mit drei von den vier Vierteln des Dharma ausgestattet drei Kali-Einheiten, 1 296 000 Jahre lang; und Krita Yuga, die Periode des Dharma in voller Vierheit, 1 728 000 Jahre. Die Gesamtsumme ist so 4 320 000 Jahre, zehnmal die Dauer eines Kali Yuga. Dieser vollständige Zyklus heißt Maha Yuga, »Der Große Yuga«.
 
Tausend Mahayuga — 4 320 000 000 Jahre nach menschlicher Rechnung — stellen einen einzigen Tag [[Brahma]]s dar, ein [[Kalpa]]. In der Rechnung der Götter, die unter Brahma, aber über den Menschen stehen, umfaßt diese Periode zwölftausend himmlische Jahre. Ein solcher Brahmatag beginnt mit der Schöpfung oder Entfaltung ([[Sristi]]), der Entsendung eines Weltalls aus der göttlichen, jenseitigen, unoffenbarten Substanz und endet mit [[Auflösung]] und Wiedereinschlingung ([[Pralaya]]), mit dem Wiedereinschmelzen in das Absolute zurück. Alle Sphären der Welt mit all den Wesen, die sie enthalten, verschwinden am Ende des Brahmatages und dauern während der darauf folgenden Nacht nur als der verborgene Keim der Notwendigkeit für eine Wiedermanifestierung fort. Eine Nacht Brahmas ist ebenso lang als sein Tag.
 
Jedes Kalpa ist in vierzehn Manvantaras oder Manu-Abschnitte (im Sanskrit wird u vor einem Vokal zu v; darum wird Manu antara, "Manuabschnitt", zu Manvantara) eingeteilt, von denen jeder einundsiebzig und einen Bruchteil Mahayugas enthält und mit einer Sintflut endet. Die einzelnen Abschnitte tragen ihren Namen von [[Manu]], dem Hindu-Gegenstück zu Noah, dem Heros, welcher der Flut entgeht. Die gegenwärtige Zeitperiode heißt nach Manu [[Vaivasvata]], »Manu, dem Sohn des Strahlenden«, »Manu, dem Sohn des Sonnengottes [[Vivasvant]]« (jedes Manvantara ist nach seiner besonderen Manifestierung des "Heros der Flut" benannt. Vaivasvata Manu, der Erzeuger der gegenwärtigen Menschheit wurde durch die Inkarnation des Gottes Vishnu als Fisch aus der Sintflut gerettet. Sein Vater war der Sonnengott Vivasvant. Vivasvant ist ein vedischer Name des Sonnengottes. In der [[Zarathustra|zarathustrischen]] Überlieferung Persiens erscheint derselbe [[Name]] als Vatersname des ersten Sterblichen Yima, der im [[Sanskrit]] [[Yama]] genannt wird. (Im Altnordischen heißt der Urriese, aus dessen Zerstückelung die Welt entsteht, »Ymir«. Anm. d. Übers.) Der Heros der Flut und der erste Sterbliche sind im Grunde zwei Erscheinungsformen desselben uranfänglichen Wesens). Es ist das siebente Manvantara des augenblicklichen Brahmatages; noch sieben sind zu erwarten bevor dieser Tag endet. Seinerseits nennt er sich Varaha Kalpa, (»Eber-Kalpa«); denn während dieses Brahmatages inkarniert sich [[Vishnu]] in Gestalt eines [[Eber]]s. Andererseits stellt es den ersten Tag des einundfünfzigsten Lebensjahres »unseres« Brahma dar, der nach weiteren sieben Sintfluten mit der nächsten Weltauflösung enden wird.
 
Aufstieg und Niedergang jedes Kalpa wird von mythologischen Ereignissen bezeichnet, die in gleicher Gestalt wiederkehren, immer und immer wieder in langsam und unaufhaltsam kreisenden Zyklen. Die Siege der Götter, durch die sie in der Herrschaft über ihre Sphären des Universums bekräftigt werden; die Zwischenspiele von Niederlage, Niedergang und Verwüstung, wenn sie durch die Titanen oder Gegengötter überwältigt werden, die ihre Stiefbrüder sind und immer auf dem Sprung, sie zu stürzen; die [[Avatar]]s oder [[Inkarnation]]en Vishnus, des höchsten Wesens, wenn er menschliche oder tierische Form annimmt, um in der [[Welt]] als ihr Retter zu erscheinen und die Götter zu befreien: all diese [[Wunder]], einzigartig und atemberaubend wie sie erscheinen müssen, wenn sie sich ereignen, sind doch nur die ewig gleichen Glieder einer dauernd in Bewegung befindlichen Kette. Das Standardschema eines Brahmatages bildend, sind sie typische Stufen eines unveränderlichen Vorgangs, und dieser Vorgang ist nichts anderes als die fortlaufende Geschichte des Weltorganismus.
 
Am Morgen jedes Kalpa erhebt sich Brahma, wieder aus einem [[Lotos]], der aus dem [[Nabel]] [[Vishnu]]s hervorsprossend aufblühte. Während des ersten Manu-Abschnittes des gegenwärtigen Varaha-Kalpa stieg Vishnu als Eber herab, um die frisch geschaffene [[Erde]] vom Grund des Meeres zu retten, wohin sie durch einen Dämon des Abgrundes hinabgerissen wurde. Im vierten Abschnitt oder Manvantara befreite er einen mächtigen Elefantenkönig von einem Seeungeheuer. Im sechsten geschah das als Quirlung des Milchmeers bekannte kosmische Ereignis: Götter und Titanen im Kampf um die Weltherrschaft begriffen, schlossen einen zeitweiligen Waffenstillstand, um aus dem Allmeer das Elixier der [[Unsterblichkeit]] zu gewinnen. Während des gegenwärtigen Maha Yuga des siebten Manvantaras sollen die in den beiden großen indischen Epen beschriebenen Ereignisse stattgefunden haben. Und zwar werden die des [[Ramayana]] der Tretaperiode des gegenwärtigen Zyklus, die des [[Mahabharata]] der Dvaparaperiode zugeschrieben.
 
Zu beachten ist, daß die überlieferten Texte nur sehr selten auf die Tatsache anspielen, daß die mythologischen Ereignisse, die sie beschreiben und preisen, immer wieder geschehen und sich alle vier Milliarden dreihundertundzwanzig Jahre (sic), das heißt in jedem Kalpa, wiederholen. Dies geschieht, weil vom Standpunkt des kurzlebigen menschlichen Individuums aus ein so überwältigender Tatbestand vorübergehend beiseite gelassen werden mag. Aber dies kann nicht völlig und dauernd geschehen, denn dieses kurzlebige Individuum bleibt doch im Kreislauf seiner jenseitigen Wanderungen irgendwie und irgendwo unter der einen oder anderen Maske durch die ganze Dauer der ungeheuren Zeitspanne hindurch mit einbezogen. In einer der Erzählungen der [[Purana]]s von Vishnus Taten in seiner Inkarnation oder seinem Hinabstieg als Eber erscheint gelegentlich ein Hinweis auf die zyklische Wiederkehr der Höhepunkte des Mythos. Als der Eber die Göttin Erde auf seinen Armen trägt, die er aus der Tiefe des Meeres zu retten im Begriffe steht, bemerkt er nebenhin zu ihr:
''
:''»Immer wenn ich diesen Weg Dich trage ...«
 
Für den Westen, der an einzige, epochemachende, geschichtliche Ereignisse glaubt (wie z. B. die Erscheinung Christi oder die Entstehung gewisser entscheidender Gruppen von Idealen, oder die langsame [[Entwicklung]] der Erfindungen während des menschlichen Aufstiegs zur Bemeisterung der [[Natur]]) hat diese beiläufige Bemerkung des alterslosen Gottes einen sanft nihilistischen Zug. Wertbegriffe, die mit unserer Einschätzung des Menschen, seines Lebens, seiner Bestimmung und Aufgabe untrennbar verbunden sind, werden dadurch verneint.
 
Vom menschlichen Standpunkt aus scheint die Lebenszeit eines Brahma sehr lang ausgedehnt zu sein; dennoch ist sie beschränkt. Sie dauert lediglich hundert Brahmajahre aus Brahmatagen und -nächten und schließt mit einer allgemeinen Auflösung. In ihr verschwinden nicht nur die sichtbaren Sphären der drei Welten (Erde, Himmel und der Raum dazwischen), sondern alle Sphären des Seins, wo immer auch, selbst die der höchsten Welten. Alle lösen sich in der göttlichen ursprünglichen Substanz auf. Ein Zustand vollständiger Eingeschmolzenheit regiert dann für ein anderes Brahmajahrhundert, nach dem der gesamte Zyklus von 311 040 000 000 000 menschlichen Jahren aufs neue beginnt.
 
==Siehe auch==
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
 
*Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
::Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
:::1.1 [[Die Parade der Ameisen]]
:::1.2 [[Das Rad der Wiedergeburten]]
:::1.3 [[Die Weisheit des Lebens]]
 
::Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
:::2.1 [[Vishnus Maya]]
:::2.2 [[Die Wasser des Daseins]]
:::2.3 [[Die Wasser des Nichtseins]]
:::2.4 [[Maya in der indischen Kunst]]
 
::Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
:::3.1 [[Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha]]
:::3.2 [[Gottheiten und ihre Träger]]
:::3.3 [[Schlange und Vogel]]
:::3.4 [[Vishnu als Besieger der Schlange]]
:::3.5 [[Der Lotos]]
:::3.6 [[Der Elefant]]
:::3.7 [[Heilige Flüsse]]
 
::Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
:::4.1 [[Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen ]]
:::4.2 [[Das Phänomen der expandierenden Gestalt]]
:::4.3 [[Shiva-Shakti]]
:::4.4 [[Der große Oberherr]]
:::4.5 [[Shivas Tanz]]
:::4.6 [[Das Antlitz der Glorie]]
:::4.7 [[Der Zerstörer der drei Städte]]
 
::Kapitel 5: Die Göttin
:::5.1 [[Die Entstehung der Göttin]]
:::5.2 [[Die Juweleninsel]]
 
==Literatur==
*[https://www.yoga-vidya.de/shop/product_info.php?info=p353_Goetter-und-Goettinnen-im-Hinduismus/&XTCsid=a793ba3e94d6e68c68e3244b0615a13f Swami Sivananda, Götter und Göttinnen im Hinduismus]
*[https://www.yoga-vidya.de/shop/product_info.php?info=p44_Parabeln-von-Swami-Sivananda/&XTCsid=a793ba3e94d6e68c68e3244b0615a13f Swami Sivananda, Parabeln]
 
==Seminar==
*[https://www.yoga-vidya.de/seminare/stichwortsuche/dfu/0/dtu/0/ex/0/fu/Mythologie/ro/s/ Yoga Vidya Seminare zum Thema Mythologie]
<rss max=5>https://www.yoga-vidya.de/seminare/stichwortsuche/dfu/0/dtu/0/ex/0/fu/Mythologie/ro/s/?type=2365</rss>
 
 
 
[[Kategorie:Heinrich Zimmer]]
[[Kategorie:Indische Mythen und Symbole]]

Aktuelle Version vom 29. März 2014, 13:10 Uhr

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