Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha: Unterschied zwischen den Versionen

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===Teil 1: Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha===
===Teil 1: Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha===
Während die Mythen der Weltentstehung und -auflösung in einer kalten und rücksichtslosen Unpersönlichkeit kreisen, welche die große Welt menschlichen Wohles und Leides zu eigentlicher Nichtigkeit einschrumpfen macht, überquillt die volkstümliche Sage von Gottheiten und Genien voll warmer Sympathie für die Lebensillusion. Den Weisen Närada und Mârkandeya wurden magische Erfahrungen von der Unerfaßlichkeit der Mäyâ gewährt. Auf der anderen Seite leben und arbeiten die Menschheitsmillionen innerhalb des Traumgewebes und seiner Netze. Sie werden in ihrem Leben getäuscht, umgeben, unterstützt und getröstet von einer t)berfülle vertrauter Beschützergestalten, deren Aufgabe es ist, über der örtlichen, ununterbrochenen Wirksamkeit jener kos-mogonischen Macht zu wachen, die am Anfang die Welt formte. Genien (yaksa), die Kräfte des Bodens, die mineralischen Schätze, die kostbaren Metalle und Edelsteine der Erde vertretend; Schlan¬genkönige und -königinnen (nâga, nagini), welche die irdischen Gewässer der Seen und Teiche, Flüsse und Ozeane verkörpern und lenken; die Göttinnen der drei heiligen Ströme, Gangä (der Gan¬ges), Yamunä (der Jumna), Sarasvati (der Saraswati) ; Dryaden oder Baumgottheiten (vriksa-devatâ), Patroninnen der Vegeta¬tionswelt; heilige Elefanten (nâga — derselbe Ausdruck wie für Schlange), die ursprünglich Flügel hatten und den Wolken zu
gesellt waren, und die selbst jetzt noch auf Erden ihre Macht be¬halten haben, ihre früheren regenschwangeren Genossen anzu¬ziehen: diese alle schenken den Kindern der Welt all die Gaben irdischer Glückseligkeit, tUberfluß an Ernten und Vieh, Wohl¬stand, Nachkommenschaft, Gesundheit und langes Leben.
Die schreckliche Hitze der verzehrenden Sonne wird in Indien als eine tödliche Gewalt betrachtet. Im Gegensatz dazu ist der Mond, der den erfrischenden Tau herabsendet, Sitz und Quelle des Lebens. Der Mond ist der Herrscher der Gewässer und diese, durch das All kreisend, alle lebenden Geschöpfe erhaltend, sind der in¬dische Widerpart für das Himmelsnaß Amrita, den Trank der Götter'. Tau und Regen werden zum Saft der Pflanzen, der Saft der Pflanzen wird zur Milch der Kuh, und die Milch verwandelt sich in Blut; Amrita, Saft der Pflanzen, Milch und Blut stellen nur verschiedene Zustände desselben Elixiers dar. Das Gefäß oder der Becher dieses unsterblichen Fluidums ist der Mond. Die ein¬drucksvollsten und am meisten wohltätigen seiner Manifestatio¬nen auf Erden sind die großen Ströme und unter ihnen besonders die drei heiligen: Ganges, Jumna, Saraswatï.
Die Mythologie Indiens ist reich an Personifikationen der lebenspendenden Kraft des Wassers. Die erste unter ihnen ist Vishnu selbst, der höchste Schöpfer des Alls. Die zweite nach ihm ist die Göttin Padma (»Lotos«), seine Gattin und Königin, auch Lakshmi und Shri (Wohlstand, Glück, Schönheit, Tugend) ge¬nannt. Der Gott und die Göttin sind auf den indischen Schreinen in enger Gesellung mit den vielfältigen örtlichen Genien darge¬stellt, welche das Spiel der lebenden Wasser in der geschaffenen Welt wiedergeben.
Ein herrliches Relief im Tempel von Deogarh (Art 111) zeigt Vishnu auf den Windungen Anantas, der kosmischen Riesen
I [A heißt »nichtc und mrita »tote; das Wort ist etymologisch dem griechischen ambrosia verwandt. Vgl. A. M. Fowler, »A Note on ditßporos Classical Philology, XXXVII, Jan. 1942, und »Expressions for Immortality in the early Indo-European languages, with special reference to the Rig-Veda, Homer, and the Poetic Eddac, Dissertation, Havard. — AKC.]
schlange, ruhend (Visnu Anantâsâyin). Das Werk — im Gupta-Stil der Zeit von ungefähr 600 n. Chr. — gehört derselben Periode an wie die klassischen Erzählungen der Puränas, welche die zehn Avatäre oder Inkarnationen dieser obersten Gottheit aufzählen und beschreiben. Die menschengestaltige Figur, die Schlange, die sein Lager bildet, und das Wasser, auf dem die Schlange schwimmt, sind dreieinige Offenbarungen der ein und einzigen göttlichen, unvergänglichen, kosmischen Substanz, der Energie, die allen Formen des Lebens zugrundeliegt und in ihnen wohnt.
In anmutiger, entspannter Haltung liegt der schlummernde Gott, als sei er in den Traum der in ihm wesenden Welt versunken. Zu seinen Füßen an dem bescheidenen Platz, der dem Hinduweib gebührt, steht Lakshmï-Shrï, die Göttin Lotos, seine Gattin. Ihre rechte Hand hält seinen Fuß, ihre linke streichelt sanft das Bein. Dieses Streicheln gehört zu der Verehrung, die das Hinduweib überlieferungsgemäß den Füßen ihres Herrn erweist.
Aus dem Nabel des Gottes wächst ein Lotos, der eine zweite Manifestation der Göttin zu seinen Füßen ist. Auf seiner Blüten¬krone trägt der Lotos Brahma, den viergesichtigen Schöpfer-Demiurgen. Darüber sind höhere Gottheiten des Hindu-Pantheons angeordnet. Die Gestalt zur Rechten des viergesichtigen Brahmä ist Indra, der auf Airävata, seinem Elefanten reitet. Das Paar, das sich auf einem Stier durch den Raum schwingt, ist Shiva und seine Gattin, »Die Göttin«. In der rechten Ecke entdeckt man eine knabenhafte Gestalt, die mehrere Profile darbietet; wahrschein¬lich der sechsgesichtige Kriegsgott Skanda-Kärttikeya.
Darunter stehen fünf männliche Figuren und eine Frau in einer Reihe; offenbar die fünf Pändava-Fürsten mit ihrer Gattin, die Helden des Mahäbhârata-Epos. Als berühmte Empfänger sei¬ner Gnade stehen sie in besonderer Beziehung zu Vishnu. Nach jener erhabenen Legende verloren sie ihr Königreich bei einem Würfelspiel an ihre Vettern, die Kauravas, und wurden dann bei ihren Bemühungen, es wieder zu erlangen, vom Höchsten Gotte selbst unterstützt. In der irdischen Gestalt ihres Freundes Krishna
diente ihnen Vishnu als Ratgeber und Wagenlenker. Vor dem Beginn der Endschlacht enthüllte er ihrem Anführer Arjuna die gesegnete Botschaft der Bhagavad Cita und schenkte ihm die ewige Freiheit wie den Sieg auf Erden. — Die zentrale Persönlich¬keit auf dem Deogarh-Relief ist offenbar Yudhishthira; die beiden zu seiner Linken sind Bhima und Arjuna, und die zu seiner Rech¬ten die Zwillinge Nakula und Sahadeva. In der Ecke steht die ge¬meinsame Gattin der fünf, Draupadi 2.
Zum Problem der großen Schlange als Lager des Gottes zu¬rückkehrend können wir bei dieser Gelegenheit das ganze Thema des Schlangensymbols in der indischen Ikonographie betrachten. Vishnus Schultern und sein Kopf sind von neun Schlangenhäup¬tern mit aufgeblasenen Hauben umgeben und beschützt; sein Leib ruht auf den mächtigen Schlingen. Diese vielköpfige Schlange ist das tierische Gegenstück zu dem menschengestaltigen Schläfer selbst. Endlos (ananta) wird sie genannt, auch »Die Bleibende«, »Der Rest« (sesa). Es ist eine Gestalt, die den Rest versinnbild¬licht, der nach der Formung der Erde, der himmlischen und hölli¬schen Regionen und all ihrer Geschöpfe aus den kosmischen Was¬sern des Abgrundes zurückbleibt. Die drei geschaffenen Welten fluten auf den Wassern; das meint, sie schweben auf den aufge¬blasenen Hauben. Shesha ist der König und Ahn aller Schlangen, welche die Erde bekriechen.
Der Schultern und Haupt umgebende Schild aus aufgeblasenen Schlangenhauben ist ein charakteristischer Zug der Schlangen
2 Diese Helden werden selbst als Inkarnationen betrachtet. Yudhishthira ist eine menschliche Manifestation Dharmas, des heiligen Lebensgesetzes. Bhima vertritt den Windgott Vâyu; er wird durch die mächtige Eisenkeule charakterisiert, mit der er durch einen unfairen Schlag die Schenkel des An¬führers der Gegner zerschmettert, den er zum Zweikampf herausgefordert hat. Arjuna ist der menschliche Widerpart Indras. Nakula und Sahadeva ver¬körpern die Zwillingsgottheit der Rosseftihrer, der Ashvin (eine Hindu-parallele zu den griechischen Dioskuren). Draupadi endlich ist ein Doppel Indrânis, der Königin der Götter und Gattin Indras. Ihre Vielmännerehe mit den fünf Brüdern ist ein außerordentlicher und ausnahmsweiser Fall in der brahmanischen tYberlieferung.
Geister in der indischen Kunst. Eine typische Darstellung wurde bei der Ausgrabung der großen buddhistischen Klosteruniversität Nalanda in Nordost-Indien entdeckt (Art A 16 a). Es handelt sich um ein Werk im reifen klassischen Stil der späteren Gupta-Periode, ungefähr 500 n. Chr. Der Schlangenfürst oder näga ist in mensch¬licher Gestalt wiedergegeben, und zwar in der Haltung eines Ver¬ehrenden, in der Stellung der Meditation, einen Rosenkranz um die Innenfläche seiner rechten Hand geschlungen. Von seinem Rücken wächst die charakteristische Glorie in Form einer un¬geraden Zahl aufgeblasener Kobrahauben, die einen Teil des Kör¬pers bilden und das Haupt beschirmen. Zuweilen wird der ge¬wundene Leib der Schlange den Rücken herablaufend dargestellt. Oder der Menschenleib mag sich auch von den Hüften ab in eine Schlange verwandeln, wie bei einer Meer-Jungfrau. Ein giganti¬sches Relief, das den Abstieg des Ganges zur Erde darstellt und das wir am Schluß dieses Kapitels besprechen werden, zeigt zwei solcher Figuren, eine männliche und eine weibliche (Art 272 u. 276).
Die Nagas sind über den Menschen stehende Genien. Sie be¬wohnen unterseeische Paradiese und weilen auf den Gründen der Flüsse, Seen und Meere in glänzenden, mit Edelsteinen und Perlen ausgelegten Palästen. Als Hüter der Lebensenergie, die in den irdischen Gewässern der Quellen, Brunnen und Teiche aufge¬speichert liegt, bewachen sie auch die Schätze des Meeres, die Korallen, kostbaren Muscheln und Perlen. Man glaubt, daß sie ein kostbares Juwel in ihrem Haupt tragen. Schlangenprinzessinnen, berühmt für Schönheit und Charme, figurieren unter den Ahn¬frauen mancher südindischer Dynastie; eine nagini oder einen nâga im Stammbaum zu haben, gibt Hintergrund.
Eine wichtige Funktion der Nâgas ist die des »Torwächters« (dvàrapcila). Als solche erscheinen sie häufig an den Portalen hinduistischer und buddhistischer Tempel. In dieser Rolle ist die ihnen gemäße Haltung die der frommen Hingabe (bhakti), eifri¬ger und liebevoller Sammlung auf die inwendige Schau des Gottes oder des Buddhas, dessen Bereich sie hüten. Es ist außerordent¬lich interessant und wichtig, zu beobachten, daß die buddhisti¬schen und hinduistischen Darstellungen dieser volkstümlichen Gottheiten weder in der ganzen Auffassung noch in den Einzel¬heiten voneinander abweichen. Denn die hinduistische und buddhi¬stische Kunst Indiens sind im Grunde eins, ebenso wie die buddhi¬stische und hinduistische Weltauffassung'. Fürst Gautama Sid-dhärtha, der »geschichtliche Buddha«, der im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus lehrte, war ein Reformer, ein mönchi¬scher Reformer, der innerhalb des für selbstverständlich ange¬sehenen Gesamtgewebes indischer Kultur blieb. Er leugnete nie¬mals die Götterwelt der Hindu noch brach er mit dem traditionel¬len Hinduideal der Erlösung durch Erleuchtung (moksa, nirvana). Nicht darin bestand seine Tat, daß er etwas ablehnte, sondern daß er die alterslose indische Lehre der Befreiung aus den Schlingen der Mâyâ auf Grund einer tiefen persönlichen Erfah¬rung neu formulierte. Der neue Orden der Bettelmönche, den er zur praktischen Ausübung seiner besonderen sittlichen Vorschrif¬ten gründete, war in Indien nur einer unter zahllosen anderen. »Ich habe den alten Weg erblickt« wird eine Äußerung von ihm berichtet, »die alte Straße, welche die früheren Vollendet-Erleuch¬teten gegangen sind, und das ist auch der Pfad, dem ich folge'.«
Wie jeder indische Heilige von einigem Rang wurde Gautama schon während seiner Lebenszeit als menschliches Fahrzeug der Absoluten Wahrheit verehrt. Nach seinem Hinscheiden wurde die Erinnerung an ihn mit der gewöhnlichen mythischen Ausstattung umkleidet. Und als die buddhistische Sekte sich ausdehnte und sich aus einer wesentlich mönchischen Gemeinschaft zu einer auch die Weltkinder umgreifenden religiösen Gemeinschaft ent¬wickelte ", wurde ihr großer Gründer immer weniger und weniger
6 Eine Entwicklung, die sich ein Halbjahrtausend später in der Geschichte des Christentums wiederholen sollte.
ausschließlich als ein zu befolgendes Beispiel angesehen. Denn wie kann ein Laie den Asketen nachahmen und zu gleicher Zeit seine Familienpflichten erfüllen? So wurde der Buddha immer mehr ein Sinnbild, das zu verehren war — ein Sinnbild der befreienden Kraft der Erleuchtung, die in jedem in Täuschung verstrickten Wesen ruht. Während der goldenen Jahrhunderte, welche der Epoche des Buddha folgten und bis zum Einbruch der wilden Zeloten Mohammeds in Indien dauerten, entwickelten sich Bud¬dhismus und Hinduismus Seite an Seite, Thesen und Einsichten austauschend und denselben Einflüssen unterworfen. In der spä¬teren buddhistischen Kunst finden wir den siegreich Vollendeten als höchste Personifikation des Absoluten zwischen den alten dämonischen und göttlichen Mächten der fruchtbaren Erde, der Himmel und der Höllen.
Die frühesten steinernen Denkmäler Indiens stammen aus der Maurya-Periode (320-185 v. Chr.), insbesondere aus der epoche¬machenden Regierungszeit des Kaisers Ashoka (272-232 v. Chr.) . Ashoka war zum buddhistischen Glauben bekehrt worden und wurde sein überaus mächtiger Schutzherr. Sein Reich umfaßte nicht nur ganz Nordindien und strebte danach, Afghanistan, Kasch¬mir und den Dekkan einzubeziehen, sondern er sandte auch Mis¬sionare aus, im Süden bis nach Ceylon und westlich sogar nach Syrien und Ägypten. In seinem Kaiserreich gründete er zahllose Klöster und soll bis zu achtzigtausend Dägabas oder Stüpas (bud¬dhistische Reliquienschreine) errichtet haben. Aus den Ruinen sei¬ner Epoche bricht die bildkünstlerische Überlieferung der indi¬schen Mythen und Symbole für uns zuerst wie ein Sturzbach ins Tageslicht.
Dennoch ist es aus der Verfeinerung, dem Grad der Vollendung, der Verschiedenartigkeit der Arbeit und der Arbeiten, die plötzlich in der Epoche Ashokas erscheinen und sich dann schnell ver¬mehren, ersichtlich, daß schon in früheren Jahrhunderten der Strom indischer religiöser Kunst mit Macht geflossen sein muß. Er bleibt uns nur unsichtbar, weil er auf die vergänglichen Stoffe Elfenbein und Holz beschränkt war. Die Kunsthandwerker, welche die so fein geschmückten Tore der »Großen Stüpa« zu Säiichï (Art 6) und die nun zerfallenen Schreine von Bhârhut, Bodh-gayâ und Amarâ.vati schufen, übertrugen in der Hauptsache die alten Motive ihrer überlieferten Kunst in Stein und paßten sie ge¬schickt den besonderen Erfordernissen und speziellen Legenden der neuen Sekte an. Der wolkenbildähnliche Indra, den wir im vorigen Kapitel besprachen, schmückt den Eingang eines buddhi¬stischen Klosters des zweiten Jahrtausends v. Chr. Nagas, Vriksha-Devatäs, Yakshas und Yahshinis (Schlangenkönige, Baumgöttin¬nen, Erdgottheiten und ihre Königinnen) wimmeln buchstäb¬lich in den zahlreichen Monumenten des buddhistischen Glaubens. Und ihr Platz im Verhältnis zum Mittelschrein oder zum Bild des Siegreich-Vollendeten ist schwer von dem zu unterscheiden, den sie bei ihrem Erscheinen als Umgebung der orthodoxen Hindu-Personifikationen des Absoluten, Vishnu und Shiva, einnehmen. In Ceylon zum Beispiel gibt es ein Nâga-Relief, das am Fuß der langen zur Ruanweli Dagaba führenden Stufenflucht steht. Der anmutige Prinz bietet in beiden Händen Sinnbilder vegetativer Fruchtbarkeit dar, für die er als Wächter und halbgöttliche Schlangenverkörperung der lebenserhaltenden irdischen Gewässer persönlich verantwortlich ist. In seiner Linken ist ein Baum, in seiner Rechten ein Wasserbecken, das Gefäß des Überflusses, aus dem eine Pflanze voller Süßigkeit wächst. Die von diesem Schlan¬genfürsten als Türhüter und anbetende Figur eingenommene Hal¬tung geht auf die früheste Periode buddhistischer Kunst zurück.
Zwischen dem Buddha und dem Naga in Indien herrscht kein solcher Antagonismus wie wir ihn in dem »Heiland contra Schlange« — Symbolismus des Westens gewohnt sind. Nach der buddhistischen Überzeugung bejubeln alle Genien der Natur zu¬sammen mit den höchsten Göttern die Erscheinung des inkarnier¬ten Erlösers, und die Schlange als die hauptsächlichste Personifi¬kation der Wasser des irdischen Lebens macht davon keine Aus¬nahme. Begierig, dem All-Lehrer zu dienen, halten sie besorgt an seinem Weg zur endlichen Erleuchtung Wache. Denn es ist glei¬cherweise zur Befreiung aller Wesen gekommen: der Geschöpfe der Erde, der Himmel und der Höllen.
Es gibt einen besonderen Buddhatypus, welcher diese höchste Harmonie zwischen dem Erlöser betont, der die Fesseln der Natur überwunden hat, und der Schlange, die eben diese Fesseln dar¬stellt. Dieser Typus tritt auffallend in der buddhistischen Kunst Kambodschas und Siams hervor (Art 557) . Gleich dem Abbild Vishnus auf Ananta (Art 111) stellt dieser Buddha eine beson¬dere Modifikation einer traditionellen hinduistischen Näga-Formel dar. Dieser Typus erscheint nicht unter den Kunstwerken des eigentlichen Indien. Aber seine erklärende Legende bildet einen Teil der frühesten buddhistischen Überlieferung Indiens und nimmt in dem orthodoxen Kanon, wie er von der ehrwürdigen buddhistischen Gemeinschaft Ceylons bewahrt wird, einen hervor¬ragenden Platz ein. Sie gründet auf einem Geschehnis, das sich kurz nach Gautamas Erleuchtung ereignet haben soll °.
Als der Hochgesegnete in der letzten Stunde der Nacht der Erkenntnis das Mysterium von Ursache und Wirkung ausgelotet hatte, erdröhnten die zehntausend Welten von seiner Erlangung der Allweisheit. Dann saß er mit untergeschlagenen Beinen sieben Tage lang am Fuß des Bo-Baumes (dem Boddhi-Baum, dem »Baum der Erleuchtung«) an den Ufern des Flusses Nairaiijanä in die Seligkeit seiner Erkenntnis versunken. Und er bewegte in seinem Gemüt sein neues Wissen von den Fesseln alles individualisierten Daseins; von der verhängnisvollen Macht eingeborener Unwissen¬heit, die ihren Bann über alle lebenden Wesen wirft; von dem irrationalen Durst nach Leben, der darum alles durchdringt ; von dem endlosen Kreislauf aus Geburt, Leben, Verfall, Tod und Wie¬dergeburt. Als diese sieben Tage verstrichen waren, erhob er sich und ging ein wenig weiter zu dem großen Banyan-Baum (dem »Baum der Ziegenherde«), an dessen Fuß er wieder seinen Sitzmit untergeschlagenen Beinen einnahm. Und wieder saß er weitere sieben Tage lang in die Seligkeit seiner Erleuchtung versunken. Nach dem Ende dieser Zeit erhob er sich abermals, um den Banyan-Baum zu verlassen und zu einem dritten großen Baum zu wandeln. Wieder saß er und erfuhr sieben Tage lang jenen Zustand erhabenster Ruhe. Dieser dritte Baum, der Baum unserer Legende, erhielt den Namen »Der Baum des Schlangenkönigs Muchalinda«.
Muchalinda, eine ungeheure Schlange, hauste in einer Höhlung inmitten der Wurzeln. Sobald der Buddha in den Zustand der Selig¬keit entrückt war, bemerkte er, daß außerhalb jeder Jahreszeit eine große Sturmwolke am Horizont erschien, woraufhin er ge¬lassen aus seinem dunklen Loch glitt und mit den Windungen seines Körpers siebenmal den begnadeten Leib des Siegreich-Vollendeten umhüllte; mit seiner aufgeblasenen riesigen Schlan¬genhaube schützte er wie ein Schirm das heilige Haupt. Sieben Tage regnete es fort, der Wind blies kalt, und der Buddha blieb in Meditation versunken. Aber am siebten Tag verschwand der unerwartet gekommene Sturm; Muchalinda entfaltete die Spiralen seines Leibes, verwandelte sich selbst in einen freundlichen Jüng¬ling und, die gefalteten Hände an seine Stirn bringend, verneigte er sich in Ehrfurcht vor dem Erlöser der Welt.
In dieser Legende und in den Bildwerken des Muchalinda-Bud-dhas wird eine vollständige Versöhnung entgegengesetzter Prin¬zipien dargestellt. Die Schlange, das Sinnbild der Lebenskraft, die hinter Geburt und Wiedergeburt wirkt, und der Erlöser, der Ver¬nichter dieses blinden Lebenswillens, der die Fesseln der Geburt aufhebt, der Wegweiser zum Unvergänglich-Transzendenten, sie öffnen hier in harmonischer Gemeinschaft eine Schau, die jenseits aller Entzweiung des Denkens liegt. Einige dieser Muchalinda-Buddhas der Mon-Khmers (Siam und Kambodscha, 9.-13. Jahr¬hundert n. Chr.) gehören zu den bedeutendsten Meisterwerken buddhistischer Kunst. Mit der träumerischen, anmutig-lustvollen Geschmeidigkeit eines zarten, unirdischen, sinnbetörenden Char¬mes verschmelzen sie hohe Spiritualität mit gelassenem Entrücktsein. Die Seligkeit inneren Gebanntseins durch das Erlebnis der Erleuchtung, Triumph über die Bande des Daseins, höchster Frie¬den, Nirvana-Erlösung durchdringen die Substanz des Bildwerkes und entsenden eine zarte, mitleidige, süße Strahlung.
Einige sagen, daß, als der Buddha seine Lehre zu verkünden begann, er bald einsehen mußte, wie die Menschen nicht vor¬bereitet waren, sie in ihrer ganzen Tiefe anzunehmen. Sie schraken vor den außerordentlichen Anforderungen zurück, die seine Vision der universellen Lehre (sûnyatâ) stellte. Darum vertraute er die tiefere Deutung der Wirklichkeit einer Zuhörerschaft von Nagas an, die sie als Treuhänder bewahren sollten bis die Menschheit zum Verständnis reif geworden sei. Dann eröffnete er seinen mensch¬lichen Schülern als eine Art von vorbereitender Schulung und eine Annäherung an die Paradoxe der Wahrheit die verhältnismäßig rationale und realistische Lehre der sogenannten Hinayana-Rich¬tung des Buddhismus. Erst nach dem Ablauf von sieben Jahr¬hunderten wurde der große Weise Nagarjuna, »Arjuna der Nagasa, durch die Schlangenkönige in die Erkenntnis der großen Lehre (sùnya) eingeweiht. So war er es, der den Menschen die voll aus¬gereiften Lehren des Mahayana brachte 7.

Version vom 6. Januar 2014, 11:14 Uhr

Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 3: Die Wächter des Lebens

Teil 1: Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha

Während die Mythen der Weltentstehung und -auflösung in einer kalten und rücksichtslosen Unpersönlichkeit kreisen, welche die große Welt menschlichen Wohles und Leides zu eigentlicher Nichtigkeit einschrumpfen macht, überquillt die volkstümliche Sage von Gottheiten und Genien voll warmer Sympathie für die Lebensillusion. Den Weisen Närada und Mârkandeya wurden magische Erfahrungen von der Unerfaßlichkeit der Mäyâ gewährt. Auf der anderen Seite leben und arbeiten die Menschheitsmillionen innerhalb des Traumgewebes und seiner Netze. Sie werden in ihrem Leben getäuscht, umgeben, unterstützt und getröstet von einer t)berfülle vertrauter Beschützergestalten, deren Aufgabe es ist, über der örtlichen, ununterbrochenen Wirksamkeit jener kos-mogonischen Macht zu wachen, die am Anfang die Welt formte. Genien (yaksa), die Kräfte des Bodens, die mineralischen Schätze, die kostbaren Metalle und Edelsteine der Erde vertretend; Schlan¬genkönige und -königinnen (nâga, nagini), welche die irdischen Gewässer der Seen und Teiche, Flüsse und Ozeane verkörpern und lenken; die Göttinnen der drei heiligen Ströme, Gangä (der Gan¬ges), Yamunä (der Jumna), Sarasvati (der Saraswati) ; Dryaden oder Baumgottheiten (vriksa-devatâ), Patroninnen der Vegeta¬tionswelt; heilige Elefanten (nâga — derselbe Ausdruck wie für Schlange), die ursprünglich Flügel hatten und den Wolken zu


gesellt waren, und die selbst jetzt noch auf Erden ihre Macht be¬halten haben, ihre früheren regenschwangeren Genossen anzu¬ziehen: diese alle schenken den Kindern der Welt all die Gaben irdischer Glückseligkeit, tUberfluß an Ernten und Vieh, Wohl¬stand, Nachkommenschaft, Gesundheit und langes Leben. Die schreckliche Hitze der verzehrenden Sonne wird in Indien als eine tödliche Gewalt betrachtet. Im Gegensatz dazu ist der Mond, der den erfrischenden Tau herabsendet, Sitz und Quelle des Lebens. Der Mond ist der Herrscher der Gewässer und diese, durch das All kreisend, alle lebenden Geschöpfe erhaltend, sind der in¬dische Widerpart für das Himmelsnaß Amrita, den Trank der Götter'. Tau und Regen werden zum Saft der Pflanzen, der Saft der Pflanzen wird zur Milch der Kuh, und die Milch verwandelt sich in Blut; Amrita, Saft der Pflanzen, Milch und Blut stellen nur verschiedene Zustände desselben Elixiers dar. Das Gefäß oder der Becher dieses unsterblichen Fluidums ist der Mond. Die ein¬drucksvollsten und am meisten wohltätigen seiner Manifestatio¬nen auf Erden sind die großen Ströme und unter ihnen besonders die drei heiligen: Ganges, Jumna, Saraswatï. Die Mythologie Indiens ist reich an Personifikationen der lebenspendenden Kraft des Wassers. Die erste unter ihnen ist Vishnu selbst, der höchste Schöpfer des Alls. Die zweite nach ihm ist die Göttin Padma (»Lotos«), seine Gattin und Königin, auch Lakshmi und Shri (Wohlstand, Glück, Schönheit, Tugend) ge¬nannt. Der Gott und die Göttin sind auf den indischen Schreinen in enger Gesellung mit den vielfältigen örtlichen Genien darge¬stellt, welche das Spiel der lebenden Wasser in der geschaffenen Welt wiedergeben. Ein herrliches Relief im Tempel von Deogarh (Art 111) zeigt Vishnu auf den Windungen Anantas, der kosmischen Riesen I [A heißt »nichtc und mrita »tote; das Wort ist etymologisch dem griechischen ambrosia verwandt. Vgl. A. M. Fowler, »A Note on ditßporos Classical Philology, XXXVII, Jan. 1942, und »Expressions for Immortality in the early Indo-European languages, with special reference to the Rig-Veda, Homer, and the Poetic Eddac, Dissertation, Havard. — AKC.]


schlange, ruhend (Visnu Anantâsâyin). Das Werk — im Gupta-Stil der Zeit von ungefähr 600 n. Chr. — gehört derselben Periode an wie die klassischen Erzählungen der Puränas, welche die zehn Avatäre oder Inkarnationen dieser obersten Gottheit aufzählen und beschreiben. Die menschengestaltige Figur, die Schlange, die sein Lager bildet, und das Wasser, auf dem die Schlange schwimmt, sind dreieinige Offenbarungen der ein und einzigen göttlichen, unvergänglichen, kosmischen Substanz, der Energie, die allen Formen des Lebens zugrundeliegt und in ihnen wohnt.

In anmutiger, entspannter Haltung liegt der schlummernde Gott, als sei er in den Traum der in ihm wesenden Welt versunken. Zu seinen Füßen an dem bescheidenen Platz, der dem Hinduweib gebührt, steht Lakshmï-Shrï, die Göttin Lotos, seine Gattin. Ihre rechte Hand hält seinen Fuß, ihre linke streichelt sanft das Bein. Dieses Streicheln gehört zu der Verehrung, die das Hinduweib überlieferungsgemäß den Füßen ihres Herrn erweist. Aus dem Nabel des Gottes wächst ein Lotos, der eine zweite Manifestation der Göttin zu seinen Füßen ist. Auf seiner Blüten¬krone trägt der Lotos Brahma, den viergesichtigen Schöpfer-Demiurgen. Darüber sind höhere Gottheiten des Hindu-Pantheons angeordnet. Die Gestalt zur Rechten des viergesichtigen Brahmä ist Indra, der auf Airävata, seinem Elefanten reitet. Das Paar, das sich auf einem Stier durch den Raum schwingt, ist Shiva und seine Gattin, »Die Göttin«. In der rechten Ecke entdeckt man eine knabenhafte Gestalt, die mehrere Profile darbietet; wahrschein¬lich der sechsgesichtige Kriegsgott Skanda-Kärttikeya. Darunter stehen fünf männliche Figuren und eine Frau in einer Reihe; offenbar die fünf Pändava-Fürsten mit ihrer Gattin, die Helden des Mahäbhârata-Epos. Als berühmte Empfänger sei¬ner Gnade stehen sie in besonderer Beziehung zu Vishnu. Nach jener erhabenen Legende verloren sie ihr Königreich bei einem Würfelspiel an ihre Vettern, die Kauravas, und wurden dann bei ihren Bemühungen, es wieder zu erlangen, vom Höchsten Gotte selbst unterstützt. In der irdischen Gestalt ihres Freundes Krishna


diente ihnen Vishnu als Ratgeber und Wagenlenker. Vor dem Beginn der Endschlacht enthüllte er ihrem Anführer Arjuna die gesegnete Botschaft der Bhagavad Cita und schenkte ihm die ewige Freiheit wie den Sieg auf Erden. — Die zentrale Persönlich¬keit auf dem Deogarh-Relief ist offenbar Yudhishthira; die beiden zu seiner Linken sind Bhima und Arjuna, und die zu seiner Rech¬ten die Zwillinge Nakula und Sahadeva. In der Ecke steht die ge¬meinsame Gattin der fünf, Draupadi 2. Zum Problem der großen Schlange als Lager des Gottes zu¬rückkehrend können wir bei dieser Gelegenheit das ganze Thema des Schlangensymbols in der indischen Ikonographie betrachten. Vishnus Schultern und sein Kopf sind von neun Schlangenhäup¬tern mit aufgeblasenen Hauben umgeben und beschützt; sein Leib ruht auf den mächtigen Schlingen. Diese vielköpfige Schlange ist das tierische Gegenstück zu dem menschengestaltigen Schläfer selbst. Endlos (ananta) wird sie genannt, auch »Die Bleibende«, »Der Rest« (sesa). Es ist eine Gestalt, die den Rest versinnbild¬licht, der nach der Formung der Erde, der himmlischen und hölli¬schen Regionen und all ihrer Geschöpfe aus den kosmischen Was¬sern des Abgrundes zurückbleibt. Die drei geschaffenen Welten fluten auf den Wassern; das meint, sie schweben auf den aufge¬blasenen Hauben. Shesha ist der König und Ahn aller Schlangen, welche die Erde bekriechen. Der Schultern und Haupt umgebende Schild aus aufgeblasenen Schlangenhauben ist ein charakteristischer Zug der Schlangen 2 Diese Helden werden selbst als Inkarnationen betrachtet. Yudhishthira ist eine menschliche Manifestation Dharmas, des heiligen Lebensgesetzes. Bhima vertritt den Windgott Vâyu; er wird durch die mächtige Eisenkeule charakterisiert, mit der er durch einen unfairen Schlag die Schenkel des An¬führers der Gegner zerschmettert, den er zum Zweikampf herausgefordert hat. Arjuna ist der menschliche Widerpart Indras. Nakula und Sahadeva ver¬körpern die Zwillingsgottheit der Rosseftihrer, der Ashvin (eine Hindu-parallele zu den griechischen Dioskuren). Draupadi endlich ist ein Doppel Indrânis, der Königin der Götter und Gattin Indras. Ihre Vielmännerehe mit den fünf Brüdern ist ein außerordentlicher und ausnahmsweiser Fall in der brahmanischen tYberlieferung.


Geister in der indischen Kunst. Eine typische Darstellung wurde bei der Ausgrabung der großen buddhistischen Klosteruniversität Nalanda in Nordost-Indien entdeckt (Art A 16 a). Es handelt sich um ein Werk im reifen klassischen Stil der späteren Gupta-Periode, ungefähr 500 n. Chr. Der Schlangenfürst oder näga ist in mensch¬licher Gestalt wiedergegeben, und zwar in der Haltung eines Ver¬ehrenden, in der Stellung der Meditation, einen Rosenkranz um die Innenfläche seiner rechten Hand geschlungen. Von seinem Rücken wächst die charakteristische Glorie in Form einer un¬geraden Zahl aufgeblasener Kobrahauben, die einen Teil des Kör¬pers bilden und das Haupt beschirmen. Zuweilen wird der ge¬wundene Leib der Schlange den Rücken herablaufend dargestellt. Oder der Menschenleib mag sich auch von den Hüften ab in eine Schlange verwandeln, wie bei einer Meer-Jungfrau. Ein giganti¬sches Relief, das den Abstieg des Ganges zur Erde darstellt und das wir am Schluß dieses Kapitels besprechen werden, zeigt zwei solcher Figuren, eine männliche und eine weibliche (Art 272 u. 276). Die Nagas sind über den Menschen stehende Genien. Sie be¬wohnen unterseeische Paradiese und weilen auf den Gründen der Flüsse, Seen und Meere in glänzenden, mit Edelsteinen und Perlen ausgelegten Palästen. Als Hüter der Lebensenergie, die in den irdischen Gewässern der Quellen, Brunnen und Teiche aufge¬speichert liegt, bewachen sie auch die Schätze des Meeres, die Korallen, kostbaren Muscheln und Perlen. Man glaubt, daß sie ein kostbares Juwel in ihrem Haupt tragen. Schlangenprinzessinnen, berühmt für Schönheit und Charme, figurieren unter den Ahn¬frauen mancher südindischer Dynastie; eine nagini oder einen nâga im Stammbaum zu haben, gibt Hintergrund. Eine wichtige Funktion der Nâgas ist die des »Torwächters« (dvàrapcila). Als solche erscheinen sie häufig an den Portalen hinduistischer und buddhistischer Tempel. In dieser Rolle ist die ihnen gemäße Haltung die der frommen Hingabe (bhakti), eifri¬ger und liebevoller Sammlung auf die inwendige Schau des Gottes oder des Buddhas, dessen Bereich sie hüten. Es ist außerordent¬lich interessant und wichtig, zu beobachten, daß die buddhisti¬schen und hinduistischen Darstellungen dieser volkstümlichen Gottheiten weder in der ganzen Auffassung noch in den Einzel¬heiten voneinander abweichen. Denn die hinduistische und buddhi¬stische Kunst Indiens sind im Grunde eins, ebenso wie die buddhi¬stische und hinduistische Weltauffassung'. Fürst Gautama Sid-dhärtha, der »geschichtliche Buddha«, der im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus lehrte, war ein Reformer, ein mönchi¬scher Reformer, der innerhalb des für selbstverständlich ange¬sehenen Gesamtgewebes indischer Kultur blieb. Er leugnete nie¬mals die Götterwelt der Hindu noch brach er mit dem traditionel¬len Hinduideal der Erlösung durch Erleuchtung (moksa, nirvana). Nicht darin bestand seine Tat, daß er etwas ablehnte, sondern daß er die alterslose indische Lehre der Befreiung aus den Schlingen der Mâyâ auf Grund einer tiefen persönlichen Erfah¬rung neu formulierte. Der neue Orden der Bettelmönche, den er zur praktischen Ausübung seiner besonderen sittlichen Vorschrif¬ten gründete, war in Indien nur einer unter zahllosen anderen. »Ich habe den alten Weg erblickt« wird eine Äußerung von ihm berichtet, »die alte Straße, welche die früheren Vollendet-Erleuch¬teten gegangen sind, und das ist auch der Pfad, dem ich folge'.«

Wie jeder indische Heilige von einigem Rang wurde Gautama schon während seiner Lebenszeit als menschliches Fahrzeug der Absoluten Wahrheit verehrt. Nach seinem Hinscheiden wurde die Erinnerung an ihn mit der gewöhnlichen mythischen Ausstattung umkleidet. Und als die buddhistische Sekte sich ausdehnte und sich aus einer wesentlich mönchischen Gemeinschaft zu einer auch die Weltkinder umgreifenden religiösen Gemeinschaft ent¬wickelte ", wurde ihr großer Gründer immer weniger und weniger

6 Eine Entwicklung, die sich ein Halbjahrtausend später in der Geschichte des Christentums wiederholen sollte.

ausschließlich als ein zu befolgendes Beispiel angesehen. Denn wie kann ein Laie den Asketen nachahmen und zu gleicher Zeit seine Familienpflichten erfüllen? So wurde der Buddha immer mehr ein Sinnbild, das zu verehren war — ein Sinnbild der befreienden Kraft der Erleuchtung, die in jedem in Täuschung verstrickten Wesen ruht. Während der goldenen Jahrhunderte, welche der Epoche des Buddha folgten und bis zum Einbruch der wilden Zeloten Mohammeds in Indien dauerten, entwickelten sich Bud¬dhismus und Hinduismus Seite an Seite, Thesen und Einsichten austauschend und denselben Einflüssen unterworfen. In der spä¬teren buddhistischen Kunst finden wir den siegreich Vollendeten als höchste Personifikation des Absoluten zwischen den alten dämonischen und göttlichen Mächten der fruchtbaren Erde, der Himmel und der Höllen.

Die frühesten steinernen Denkmäler Indiens stammen aus der Maurya-Periode (320-185 v. Chr.), insbesondere aus der epoche¬machenden Regierungszeit des Kaisers Ashoka (272-232 v. Chr.) . Ashoka war zum buddhistischen Glauben bekehrt worden und wurde sein überaus mächtiger Schutzherr. Sein Reich umfaßte nicht nur ganz Nordindien und strebte danach, Afghanistan, Kasch¬mir und den Dekkan einzubeziehen, sondern er sandte auch Mis¬sionare aus, im Süden bis nach Ceylon und westlich sogar nach Syrien und Ägypten. In seinem Kaiserreich gründete er zahllose Klöster und soll bis zu achtzigtausend Dägabas oder Stüpas (bud¬dhistische Reliquienschreine) errichtet haben. Aus den Ruinen sei¬ner Epoche bricht die bildkünstlerische Überlieferung der indi¬schen Mythen und Symbole für uns zuerst wie ein Sturzbach ins Tageslicht.

Dennoch ist es aus der Verfeinerung, dem Grad der Vollendung, der Verschiedenartigkeit der Arbeit und der Arbeiten, die plötzlich in der Epoche Ashokas erscheinen und sich dann schnell ver¬mehren, ersichtlich, daß schon in früheren Jahrhunderten der Strom indischer religiöser Kunst mit Macht geflossen sein muß. Er bleibt uns nur unsichtbar, weil er auf die vergänglichen Stoffe Elfenbein und Holz beschränkt war. Die Kunsthandwerker, welche die so fein geschmückten Tore der »Großen Stüpa« zu Säiichï (Art 6) und die nun zerfallenen Schreine von Bhârhut, Bodh-gayâ und Amarâ.vati schufen, übertrugen in der Hauptsache die alten Motive ihrer überlieferten Kunst in Stein und paßten sie ge¬schickt den besonderen Erfordernissen und speziellen Legenden der neuen Sekte an. Der wolkenbildähnliche Indra, den wir im vorigen Kapitel besprachen, schmückt den Eingang eines buddhi¬stischen Klosters des zweiten Jahrtausends v. Chr. Nagas, Vriksha-Devatäs, Yakshas und Yahshinis (Schlangenkönige, Baumgöttin¬nen, Erdgottheiten und ihre Königinnen) wimmeln buchstäb¬lich in den zahlreichen Monumenten des buddhistischen Glaubens. Und ihr Platz im Verhältnis zum Mittelschrein oder zum Bild des Siegreich-Vollendeten ist schwer von dem zu unterscheiden, den sie bei ihrem Erscheinen als Umgebung der orthodoxen Hindu-Personifikationen des Absoluten, Vishnu und Shiva, einnehmen. In Ceylon zum Beispiel gibt es ein Nâga-Relief, das am Fuß der langen zur Ruanweli Dagaba führenden Stufenflucht steht. Der anmutige Prinz bietet in beiden Händen Sinnbilder vegetativer Fruchtbarkeit dar, für die er als Wächter und halbgöttliche Schlangenverkörperung der lebenserhaltenden irdischen Gewässer persönlich verantwortlich ist. In seiner Linken ist ein Baum, in seiner Rechten ein Wasserbecken, das Gefäß des Überflusses, aus dem eine Pflanze voller Süßigkeit wächst. Die von diesem Schlan¬genfürsten als Türhüter und anbetende Figur eingenommene Hal¬tung geht auf die früheste Periode buddhistischer Kunst zurück.

Zwischen dem Buddha und dem Naga in Indien herrscht kein solcher Antagonismus wie wir ihn in dem »Heiland contra Schlange« — Symbolismus des Westens gewohnt sind. Nach der buddhistischen Überzeugung bejubeln alle Genien der Natur zu¬sammen mit den höchsten Göttern die Erscheinung des inkarnier¬ten Erlösers, und die Schlange als die hauptsächlichste Personifi¬kation der Wasser des irdischen Lebens macht davon keine Aus¬nahme. Begierig, dem All-Lehrer zu dienen, halten sie besorgt an seinem Weg zur endlichen Erleuchtung Wache. Denn es ist glei¬cherweise zur Befreiung aller Wesen gekommen: der Geschöpfe der Erde, der Himmel und der Höllen.

Es gibt einen besonderen Buddhatypus, welcher diese höchste Harmonie zwischen dem Erlöser betont, der die Fesseln der Natur überwunden hat, und der Schlange, die eben diese Fesseln dar¬stellt. Dieser Typus tritt auffallend in der buddhistischen Kunst Kambodschas und Siams hervor (Art 557) . Gleich dem Abbild Vishnus auf Ananta (Art 111) stellt dieser Buddha eine beson¬dere Modifikation einer traditionellen hinduistischen Näga-Formel dar. Dieser Typus erscheint nicht unter den Kunstwerken des eigentlichen Indien. Aber seine erklärende Legende bildet einen Teil der frühesten buddhistischen Überlieferung Indiens und nimmt in dem orthodoxen Kanon, wie er von der ehrwürdigen buddhistischen Gemeinschaft Ceylons bewahrt wird, einen hervor¬ragenden Platz ein. Sie gründet auf einem Geschehnis, das sich kurz nach Gautamas Erleuchtung ereignet haben soll °. Als der Hochgesegnete in der letzten Stunde der Nacht der Erkenntnis das Mysterium von Ursache und Wirkung ausgelotet hatte, erdröhnten die zehntausend Welten von seiner Erlangung der Allweisheit. Dann saß er mit untergeschlagenen Beinen sieben Tage lang am Fuß des Bo-Baumes (dem Boddhi-Baum, dem »Baum der Erleuchtung«) an den Ufern des Flusses Nairaiijanä in die Seligkeit seiner Erkenntnis versunken. Und er bewegte in seinem Gemüt sein neues Wissen von den Fesseln alles individualisierten Daseins; von der verhängnisvollen Macht eingeborener Unwissen¬heit, die ihren Bann über alle lebenden Wesen wirft; von dem irrationalen Durst nach Leben, der darum alles durchdringt ; von dem endlosen Kreislauf aus Geburt, Leben, Verfall, Tod und Wie¬dergeburt. Als diese sieben Tage verstrichen waren, erhob er sich und ging ein wenig weiter zu dem großen Banyan-Baum (dem »Baum der Ziegenherde«), an dessen Fuß er wieder seinen Sitzmit untergeschlagenen Beinen einnahm. Und wieder saß er weitere sieben Tage lang in die Seligkeit seiner Erleuchtung versunken. Nach dem Ende dieser Zeit erhob er sich abermals, um den Banyan-Baum zu verlassen und zu einem dritten großen Baum zu wandeln. Wieder saß er und erfuhr sieben Tage lang jenen Zustand erhabenster Ruhe. Dieser dritte Baum, der Baum unserer Legende, erhielt den Namen »Der Baum des Schlangenkönigs Muchalinda«.

Muchalinda, eine ungeheure Schlange, hauste in einer Höhlung inmitten der Wurzeln. Sobald der Buddha in den Zustand der Selig¬keit entrückt war, bemerkte er, daß außerhalb jeder Jahreszeit eine große Sturmwolke am Horizont erschien, woraufhin er ge¬lassen aus seinem dunklen Loch glitt und mit den Windungen seines Körpers siebenmal den begnadeten Leib des Siegreich-Vollendeten umhüllte; mit seiner aufgeblasenen riesigen Schlan¬genhaube schützte er wie ein Schirm das heilige Haupt. Sieben Tage regnete es fort, der Wind blies kalt, und der Buddha blieb in Meditation versunken. Aber am siebten Tag verschwand der unerwartet gekommene Sturm; Muchalinda entfaltete die Spiralen seines Leibes, verwandelte sich selbst in einen freundlichen Jüng¬ling und, die gefalteten Hände an seine Stirn bringend, verneigte er sich in Ehrfurcht vor dem Erlöser der Welt. In dieser Legende und in den Bildwerken des Muchalinda-Bud-dhas wird eine vollständige Versöhnung entgegengesetzter Prin¬zipien dargestellt. Die Schlange, das Sinnbild der Lebenskraft, die hinter Geburt und Wiedergeburt wirkt, und der Erlöser, der Ver¬nichter dieses blinden Lebenswillens, der die Fesseln der Geburt aufhebt, der Wegweiser zum Unvergänglich-Transzendenten, sie öffnen hier in harmonischer Gemeinschaft eine Schau, die jenseits aller Entzweiung des Denkens liegt. Einige dieser Muchalinda-Buddhas der Mon-Khmers (Siam und Kambodscha, 9.-13. Jahr¬hundert n. Chr.) gehören zu den bedeutendsten Meisterwerken buddhistischer Kunst. Mit der träumerischen, anmutig-lustvollen Geschmeidigkeit eines zarten, unirdischen, sinnbetörenden Char¬mes verschmelzen sie hohe Spiritualität mit gelassenem Entrücktsein. Die Seligkeit inneren Gebanntseins durch das Erlebnis der Erleuchtung, Triumph über die Bande des Daseins, höchster Frie¬den, Nirvana-Erlösung durchdringen die Substanz des Bildwerkes und entsenden eine zarte, mitleidige, süße Strahlung.

Einige sagen, daß, als der Buddha seine Lehre zu verkünden begann, er bald einsehen mußte, wie die Menschen nicht vor¬bereitet waren, sie in ihrer ganzen Tiefe anzunehmen. Sie schraken vor den außerordentlichen Anforderungen zurück, die seine Vision der universellen Lehre (sûnyatâ) stellte. Darum vertraute er die tiefere Deutung der Wirklichkeit einer Zuhörerschaft von Nagas an, die sie als Treuhänder bewahren sollten bis die Menschheit zum Verständnis reif geworden sei. Dann eröffnete er seinen mensch¬lichen Schülern als eine Art von vorbereitender Schulung und eine Annäherung an die Paradoxe der Wahrheit die verhältnismäßig rationale und realistische Lehre der sogenannten Hinayana-Rich¬tung des Buddhismus. Erst nach dem Ablauf von sieben Jahr¬hunderten wurde der große Weise Nagarjuna, »Arjuna der Nagasa, durch die Schlangenkönige in die Erkenntnis der großen Lehre (sùnya) eingeweiht. So war er es, der den Menschen die voll aus¬gereiften Lehren des Mahayana brachte 7.