Die Wasser des Nichtseins: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Datei:Markandeya bettet zu Vishnu.jpg|thumb|Markandeya betet zu Vishnu, der Lotos mit viergesichtigen Brahma entsteigt Vishnus Nabel]]
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'''Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen [[Heinrich Zimmer]] entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)'''
 
==Indische Mythen und Symbole - Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus==
 
===Teil 3: Die Wasser des Nichtseins===
Der Symbolismus der [[Maya]] wird weiter in einem großartigen Mythos entwickelt, der die jede [[Vernunft]] sprengenden Abenteuer eines mächtigen Weisen, [[Markandeya]], während der Pause der Nichtmanifestation zwischen der Auflösung und der Wiedererschaffung des Alls beschreibt. Durch einen wunderbaren und seltsamen Zufall erblickt Markandeya [[Vishnu]] in einer Reihe archetypischer Umwandlungen: zuerst in der elementaren Verkleidung des kosmischen Meeres; dann als Riesen, der auf dem [[Wasser]] ruht; dann wiederum als göttliches [[Kind]], das einsam unter dem Baum des Kosmos spielt; und endlich als eine majestätische Wildgans, deren [[Atem]] die magische Melodie der Schöpfung und Auflösung der Welt darstellt.
 
Der Mythos beginnt mit einer Überschau des Absinkens der kosmischen [[Ordnung]] während des langen, aber unumkehrbaren Vorbeizugs der vier [[Yuga]]. Das heilige [[Dharma]] verschwindet Viertel nach Viertel aus dem [[Leben]] der [[Welt]], bis das [[Chaos]] eintritt und die Menschen am Ende nur voller [[Gier]] und [[Bosheit]] sind. Da ist auch nicht einer, nicht ein einziger mehr, in dem erleuchtende [[Güte]] ([[Sattva]]) wohnt, kein wirklicher Weiser, kein [[Heilige]]r, keiner, der [[Wahrheit]] redet und zu seinem geheiligten Wort steht. Der nach außen heilig scheinende [[Brahmane]] ist nicht besser als der Narr. Alte Leute, der wahren Weisheit, des tiefen [[Alter]]s verlustig, möchten sich wie die Jugend benehmen, und dieser mangelt die [[Offenheit]]. Die gesellschaftlichen Klassen haben ihre unterscheidenden und würdegebenden [[Eigenschaft]]en aufgegeben; [[Lehrer]], Fürsten, Handelsvolk und Dienerschaft räkeln sich in ausnahmsloser Gemeinheit. Der [[Wille]], sich zu etwas Höherem zu erheben, ist erloschen. Alle Bande der Sympathie und Liebe haben sich aufgelöst; die engste Ichsucht herrscht. Von einander ununterscheidbare Dummköpfe konglomerieren zu einer Art von zähem, unschmackhaftem Teig. Wenn dieses Elend die einst harmonisch geordnete Menschheit befallen hat, hat die Substanz des Weltorganismus sich über jede Rettungsmöglichkeit hinaus verschlechtert, und das All ist reif für die [[Laya|Auflösung]].
 
Der Zyklus hat sich vollendet. Ein Tag [[Brahma]]s ist vorüber. Vishnu, das Höchste Wesen, von dem einst die Welt in [[Reinheit]] und Ordnung ausging, fühlt nun in sich den Drang, den heruntergekommenen Kosmos in seine göttliche Substanz zurückzunehmen. So gelangt der Schöpfer und Erhalter des [[Universum]]s dazu, seinen zerstörerischen Aspekt zu offenbaren: er wird das unfruchtbare Chaos verschlingen und alle beseelten Wesen zerschmelzen, von Brahma hoch oben, dém inneren Herrscher und kosmischen Lebensgeist des All-Leibes, herunter bis zu dem letzten Grashalm. Hügel und Flüsse, Berge und Meere, Götter und Titanen, Kobolde und Geister, Tiere, himmlische Wesen und Menschen, alle müssen im Höchsten Wesen wieder aufgenommen werden.
In dieser indischen Schau des [[Zerstörung]]svorganges wird der regelmäßige Ablauf des indischen Jahres — starke Hitze und Trockenheit, die mit sturzbachartigen Regen abwechselt — so vergrößert, daß er, anstatt das Leben zu erhalten, es vernichtet. Die Wärme, die sonst reift, und die Feuchtigkeit, die nährt, wenn sie in wohltuender Zusammenarbeit abwechseln, werden nun tötend. Vishnu beginnt seine furchtbare letzte [[Arbeit]], indem er seine unendliche Energie in die [[Sonne]] ergießt. Er selbst wird die Sonne. Mittels ihrer grimmigen, verzehrenden Strahlen zieht er das Augenlicht aller lebenden Wesen in sich hinein. Die Welt vertrocknet und welkt, die Erde birst, und durch tiefe Risse wirft sich tödliche Hitze auf die göttlichen [[Wasser]] der unterirdischen Tiefe, die aufgesaugt und verschluckt werden. Wenn nun der Lebenssaft sowohl aus dem eiförmigen kosmischen Leib wie all den Leibern seiner Geschöpfe endgültig verschwunden ist, wird Vishnu zum Wind, zum kosmischen Lebenshauch, und entreißt allen Kreaturen die belebende [[Luft]]. Gleich dürren Blättern wirbelt die versengte Substanz des Alls unter dem Zyklon. Die Reibung entzündet den tumultuösen Tanz der hochentflammbaren [[Materie]]; der [[Gott]] ist zu [[Feuer]] geworden. Alles geht in einem Riesenweltbrand auf, um dann zu schwelender Asche zusammenzusinken.
 
Schließlich gießt Vishnu in Gestalt einer großen Wolke einen Sturzregen aus, süß und rein wie [[Milch]], um den Brand der Welten zu löschen. Der versengte und gequälte Leib der Erde weiß jetzt endlich seine letzte Erlösung: das endgültige Erlöschen, das [[Nirvana]]. Unter der Flut des zu Regen gewordenen Gottes wird er in das Meer des Ursprungs zurückgenommen, dem er einst in der Frühe des All-Morgens entstieg. Der fruchtbare Wasserschoß schlingt die Asche aller Schöpfung wieder in sich; die letzten Elemente schmelzen in das ungeschiedene Flüssige ein, aus dem sie einst kamen. Der [[Mond]] und die Sterne lösen sich auf, und die steigende Flut wird zu einer grenzenlosen Wasserfläche. Dies ist die Pause einer Brahma-Nacht.
 
Vishnu schläft. Wie eine Spinne, die den Faden, der einst aus ihrem eigenen Organismus hervorging, hinaufgeklettert ist, indem sie ihn wieder in sich einschlang, hat der Gott das Gespinst des Universums in sich hineingenommen. Allein, eine riesige Gestalt auf der unsterblichen Substanz des [[Ozean]]s, halb untergetaucht, halb auf den Wogen flutend, genießt er seinen Schlummer. Da ist keiner, der ihn erblicken, keiner, der ihn begreifen könnte; da ist kein [[Wissen]] von ihm außer in ihm selbst.
 
Dieser Riese, »Herr der Maya, und der kosmische Ozean, auf dem er ruht, stellen die Doppelmanifestation eines und desselben Wesens dar. Denn der Ozean sowohl als die menschliche Gestalt sind beide Vishnu. Weiter: da in der Hindu-Mythologie die Schlange ([[Naga]]) das Sinnbild des Wassers ist, wird Vishnu gewöhnlich auf den Windungen einer Riesenschlange ruhend dargestellt, seinem symbolischen Lieblingstier, der Schlange [[Ananta]], "Endlos". Vishnu ist so auch das Reptil, nicht nur die riesenhafte, anthropomorphe Gestalt und das grenzenlose Element.
 
Auf dem Schlangenozean seiner eigenen unsterblichen Substanz verbringt der Herr des Kosmos die Nacht des Alls.
Innerhalb des Gottes ist der Kosmos wie ein ungeborenes [[Kind]] inmitten der [[Mutter]]; und hier ist alles zu seiner ursprünglichen Vollkommenheit wiederhergestellt. Obgleich da draußen nur Dunkelheit herrscht, gedeiht in dem göttlichen Träumer eine ideale Vision, wie das All sein sollte. Sich von Niedergang, Verwirrung und Unglück erholend, läuft die Welt wieder in harmonischen Bahnen.
 
Während dieses verzauberten Zwischenspieles nun geschah nach unserer Legende ein phantastisches Vorkommnis:
Ein heiliger Mann, [[Markandeya]] mit Namen, wandert innerhalb des Gottes über die friedevolle [[Erde]], ein zielloser [[Pilgerreise|Pilger]], der mit [[Freude]] die erhebende Schau der idealen Weltvision betrachtet. Dieser Markandeya ist eine wohlbekannte mythische Figur, ein Heiliger mit unendlichem Leben. Viele tausend Jahre ist er alt, aber von nie ablassender [[Kraft]] und [[Klugheit]]. Bei seiner Wanderung durch das Innere von Vishnus Leib besucht er die heiligen Einsiedeleien und erbaut sich an dem gottgefälligen Streben der Weisen und ihrer [[Schüler]]. An Schreinen und geweihten Orten hält er inne, um seine [[Verehrung]] darzubringen, und sein [[Herz]] jubelt über die Frömmigkeit der Völker in den [[Land|Ländern]], die er durchstreift.
 
Aber jetzt geschieht ein Unfall. Im Lauf seiner ziel- und endlosen Spaziergänge entgleitet der handfeste alte Mann versehentlich dem Mund des allenthaltenden Gottes. Im ungeheuren Schweigen der Nacht schläft Vishnu, mit ein wenig geöffneten Lippen; sein Atem geht mit einem tiefen, klangvollen, rhythmischen Laut. Und der erstaunte Heilige, von des Schläfers Riesenlippe fallend, stürzt kopfüber in das kosmische Meer.
 
Infolge Vishnus Maya erblickt Markandeya zuerst den schlafenden Riesen gar nicht, sondern nur das dunkle, sich nach allen Richtungen hin in die sternenlose Nacht ausdehnende, allumfassende Meer. [[Verzweiflung]] packt ihn, und er fürchtet für sein [[Leben]]. Im nächtlichen Wasser platschend wird er plötzlich nachdenklich, grübelt und beginnt zu zweifeln. »Ist es ein [[Traum]]? Oder bin ich im Banne einer [[Illusion]]? Wahrlich, all dies Befremdliche muß ein Erzeugnis meiner Einbildung sein, denn die Welt, wie ich sie in ihrem harmonischen Lauf beobachtet habe, verdient nicht diese Vernichtung wie sie nun plötzlich über sie hereinzubrechen scheint. Ich sehe keine [[Sonne]], keinen Mond, ich fühle keinen Wind; alle Berge sind verschwunden und die Erde hat sich aufgelöst. Was ist das für eine Art von Universum, in dem ich mich hier wiederfinde?«
 
Diese suchenden Überlegungen des Heiligen sind eine Art Kommentar zur Idee der Maya, zum Problem »Was ist real?«, wie es der Hindu faßt. »Realität« ist eine Funktion des Individuums. Sie ist das Ergebnis der besonderen Fähigkeiten und Begrenzungen individuellen [[Bewusstsein]]s. Während der Heilige durch das Innere des kosmischen Riesen gewandert war, hatte er eine Realität bemerkt, die ihm seiner eigenen [[Natur]] kongenial erschien und hatte sie als fest und substantiell betrachtet. Dennoch war sie nur ein Traum oder eine Vision im [[Gemüt]] des schlafenden Gottes gewesen. Umgekehrt erscheint während der Nacht die Realität der ursprünglichen Substanz des Gottes dem menschlichen Bewußtsein des Heiligen als ein bestürzendes Wunder. »Es ist unmöglich«, überlegte er, »es kann nicht wirklich sein.«
 
Das Ziel der Lehren der Hindu-Philosophie und das der Übung in der [[Yoga-Praxis]] ist das Überschreiten der Grenzen des individualisierten Bewußtseins. Die mythischen Erzählungen sollen die [[Weisheit]] der Philosophen vermitteln und in einer volkstümlichen, bildhaften Form die [[Erfahrung]]en oder Ergebnisse des Yoga darlegen. Da sie sich unmittelbar an Einbildungskraft und [[Intuition]] wenden, sind sie als Deutung des Daseins für alle zugänglich. Sie werden nicht besonders kommentiert und durchleuchtet. Die Unterhaltungen und Reden der Hauptfiguren enthalten Elemente philosophischer Auslegung und Deutung, aber die Geschichte selbst wird niemals erklärt. Es gibt keinen ausgesprochenen Kommentar über den [[Sinn]] des mythologischen Geschehens. Die Erzählung wendet sich stracks an den Hörer, indem sie seine Intuition, seine schöpferische Einbildungskraft wachruft. Sie stachelt und nährt das Unbewußte. Durch eine Beredsamkeit der Umstände eher als der Worte dient die Mythologie Indiens ihrer Aufgabe als das volkstümliche Fahrzeug für die esoterische Weisheit der Yogaerfahrung und der orthodoxen [[Religion]].
 
Die unmittelbare Wirkung ist immer gesichert; sind doch diese Geschichten nicht die Erzeugnisse individueller Erfahrungen und der Reaktionen darauf. Ihre Entstehung, Hortung und [[Kontrolle]] erfolgt vielmehr aus dem kollektiven Wirken und Denken der religiösen Gemeinschaft. Ihr Gedeihen ruht auf der immer erneuten Zustimmung sich folgender Geschlechter. Ein anonymer, schöpferischer Vorgang, ein kollektives, ahnendes Empfangen formen sie um und erfüllen sie mit neuem Sinn. Ihre Wirkung geht zunächst auf eine unterbewußte Ebene, die Intuition, das [[Gefühl]] und die Einbildungskraft anrührend. Ihre Einzelheiten prägen sich selbst dem [[Gedächtnis]] ein, um dann nieder zu sinken und die tieferen Schichtungen der [[Psyche]] zu formen. Bei näherem Nachdenken und immer wieder Nachdenken zeigt sich dann, daß die bedeutsamen Episoden dieser Erzählungen verschiedene Sinnschattierungen enthüllen können, je nach den Erfahrungen und Lebensnotwendigkeiten des betreffenden Individuums.
 
Die Mythen und Sinnbilder Indiens widerstreben jeder Intellektualisierung und Zurückführung auf feststehende Bedeutungen. Solches Vorgehen würde sie nur ihrer Magie berauben. Sind sie doch von einem viel archaischeren Typus als die uns aus der griechischen Literatur bekannten: die Götter und Mythen Homers und die Helden der attischen Tragödie bei Äschylos, Sophokles und Euripides. Letztere, vom Genie der Dichter neugeformt, sind weitgehend individuelle Schöpfungen und ähneln in dieser Beziehung unseren modernen Versuchen, sich überlieferter Formgehalte zu bemächtigen. Wie in den Werken Shelleys und Swinburnes, oder — und vor allem — Wagners, finden wir in den nachhomerischen Schöpfungen der Griechen ein Bestreben, die alte Münze des Mythos mit einem neuen Sinn, einer neuen Deutung des Daseins auf der Grundlage individueller Erfahrung zu beprägen. Im Gegensatz dazu wird uns in den Mythen Indiens die intuitive, kollektive Weisheit einer alterslosen, überpersönlichen und vielschichtigen Kultur nahegebracht.
 
Man sollte sich daher recht befangen fühlen, wenn man sich anheischig macht, einen indischen Mythos zu kommentieren. Besteht doch immer die [[Gefahr]], daß die Eröffnung einer Blickrichtung eine andere dafür schließt. Dem Hinduhörer aus Erfahrung und Tradition vertraute, dem westlichen Leser aber fremde Einzelheiten sind gewiß zu erklären; die Formulierung endgültiger Deutungen aber sollte mit möglichster Scheu vermieden werden. So möchten wir ehrerbietigerweise auch [[Markandeya]]s Mißgeschick für sich selbst reden lassen.
Nahe am Verzweifeln, verloren in der unendlichen Ausdehnung der Gewässer, wurde der Heilige endlich den Leib des schlafenden Gottes gewahr. Sein [[Herz]] erfüllte sich mit Verwunderung und seliger [[Freude]]. Zum Teil von den Fluten verborgen ähnelte die riesige Masse einer aus dem Wasser steigenden Bergkette, die von einem wundervollen, von innen her kommenden [[Licht]] erglühte. Der Heilige schwamm näher, die Erscheinung zu erforschen und hatte eben seine Lippen zu einer Frage geöffnet, als der Riese ihn ergriff und kurzwegs hinunterschluckte. Und wieder stand er in der vertrauten Landschaft des Innern.
 
So unversehens in die Harmonie-Welt von Vishnus Traum zurückversetzt, wurde Markandeya von äußerster [[Verwirrung]] befallen. Er konnte an seine ebenso kurze wie unvergeßliche Erfahrung nur wie an eine Vision zurückdenken. Und doch, wie paradox! Er selbst, ein menschliches Wesen, unfähig irgendeine Wirklichkeit aufzunehmen, die über die Verständniskraft seines beschränkten Bewußtseins hinausging, war nun innerhalb jenes göttlichen Wesens enthalten, eine Gestalt in seinem allumfassenden Traum. Auf der anderen Seite erschien Markandeya die Offenbarung, mit der er begnadet worden war, die Schau des Höchsten Seins bei sich und in sich selbst, in seiner allenthaltenden [[Einsamkeit]] und [[Stille]], selbst wieder nur wie ein Traum.
 
Der zurückgekehrte Markandeya nahm sein früheres Leben wieder auf. Wie zuvor wanderte er, ein heiliger Pilger, über die weite Erde, sah die [[Yogi]]s, die in den Wäldern ihre Bußübungen trieben, und nickte den königlichen Gebern Beifall, die kostspielige Opfer mit üppigen Geschenken an die Brahmanen vollzogen. Er sah, wie die Brahmanen die heiligen Riten zelebrierten und großzügigen Entgelt für ihre wirksame Magie erhielten. Er sah alle Kasten fromm den ihnen eigenen Aufgaben zugewandt und die heilige Folge der vier Lebensstände in voller, ordnender [[Macht]] unter den Menschen waltend. Voller Wohlgefallen an diesem idealen Zustand der Dinge wanderte er ungestört weitere hundert Jahre lang.
 
Aber dann glitt er versehentlich zum anderen Male aus des Schläfers Mund und fiel in die pechschwarze See. In dem schauerlichen Dunkel der schweigenden Wasserwüste erblickte er diesmal ein strahlendes [[Kind]]. Gottgleich lag der Knabe unter einem Feigenbaum, in friedlichem Schlummer begriffen. Dann wieder, durch einen Schachzug der Maya, sah Markandeya den einsamen kleinen Jungen bei selbstvergessenem [[Spiel]], ganz unbestürzt inmitten des weiten Meeres ringsum. Der Heilige, ganz Neugier, konnte doch den überwältigenden Glanz, der von dem Kinde ausging, nicht aushalten und blieb deshalb in zuträglicher Entfernung. Während er sich gegen das Versinken in die schwarze Tiefe wehrte, grübelte Markandeya: »Etwas Ähnliches scheine ich schon einmal erlebt zu haben — vor langer, langer [[Zeit]] ...« Aber dann wurde er sich der unergründlichen Tiefe dieses Meeres ohne Küsten bewußt und kalter Schrecken befiel ihn.
 
»Willkommen, Markandeya!« begrüßte ihn freundlich der [[Gott]], der die Gestalt des erhabenen Kindes angenommen hatte. Die Stimme hatte den sanften tiefen Ton des melodischen Donners segenverheißender Regenwolken. »Willkommen, Markandeya!« beruhigte ihn der Gott. »Sei nicht erschrocken, mein Kind. Fürchte Dich nicht. Komm näher.«
 
Der eisgraue, alterslose Heilige konnte sich nicht erinnern, daß jemand ihn »Kind« zu nennen oder ohne Erwähnung seiner Heiligkeit und Abstammung einfach mit seinem Vornamen anzureden gewagt hätte, und war tief beleidigt. Obgleich müde, erschöpft und in der denkbar ungünstigsten Lage ließ er doch seinem Temperament die Zügel schießen: »Wer wagt es, sich über meine [[Würde]] und meinen heiligen Beruf hinwegzusetzen und den Schatz magischer Kräfte zu verspotten, den ich mir durch strenge Bußübungen aufgehäuft habe? Wer ist das, der so mein ehrwürdiges [[Alter]] gering schätzt, das tausend Jahre umfaßt, aber Jahre wie sie die Götter zählen? Ich bin diese Art beleidigender Behandlung nicht gewöhnt. Selbst die obersten Götter behandeln mich mit besonderem [[Respekt]]. Nicht einmal Brahma würde es wagen, mich in dieser unehrerbietigen Manier anzureden. Brahma spricht höflich zu mir. ,O Langlebiger' nennt er mich. Wer spielt da mit dem [[Tod]], stürzt sich blindlings in den Abgrund der [[Zerstörung]] und wirft sein [[Leben]] weg, indem er mich schechtweg Markandeya nennt? Wer möchte denn unbedingt sterben?«
 
Als der Heilige so seinen Zorn ausgelassen hatte, nahm der göttliche Knabe unverwirrt seine Rede wieder auf: »Kind, ich bin Dein Ahn, Dein [[Vater]] und Vorvater, das uranfängliche Wesen, das alles Leben leiht. Warum kommst Du nicht zu mir? Ich kannte Deinen Vater gut. In längst vergangenen Zeiten unterzog er sich schweren Übungen der [[Entsagung]], um einen Sohn zu erhalten. Er gewann meine Gnade. In Wohlgefallen an seiner vollendeten Heiligkeit gewährte ich ihm eine Gabe, und er wünschte sich, daß Du, sein Sohn, mit unerschöpflicher Lebenskraft begabt sein und niemals alt werden möchtest. Dein Vater kannte den geheimen Kern seines Daseins, und aus diesem Kern stammst Du. Darum ist Dir erlaubt, mich nun zu erblicken wie ich auf den uranfänglichen, allenthaltenden Wassern ruhe, spielend als Kind unter diesem Baum.«
 
Entzücken goß sich über Markandeyas Züge. Seine Augen öffneten sich weit, gleich aufblühenden Blumen. In [[Demut|demütiger]] Ergebenheit machte er eine Bewegung, als ob er sich verneigen wolle und betete: »Laß mich das Geheimnis Deiner Maya wissen, das Geheimnis Deiner Erscheinung nun als Kind, ruhend und spielend auf dem unermeßlichen Meer. Herr des Alls, mit welchem Namen nennt man Dich? Du mußt das Wesen aller Wesen sein; denn wer sonst vermöchte zu sein wie Du?«
 
Vishnu erwiderte: »Ich bin der uranfängliche kosmische Erzeuger, [[Narayana]]; er, der das Wasser ist, das erste Wesen, die Quelle des Alls. Tausend Häupter besitze ich; ich hin das heiligste der heiligen [[Opfer]]; ich bin das heilige [[Feuer]], das die Opfer der Menschen auf Erden zu den Göttern im [[Himmel]] emporträgt. Gleicherweise bin ich der Herr des Wassers und im Gewande [[Indra]]s, des Königs der Götter, der erste der Unsterblichen. Ich bin der Kreislauf des Jahrs, der alles hervorbringt und wieder auflöst, bin der göttliche Yogi, der Weltjongleur, der Zauberer, der wundervolle Listen der Täuschung wirkt. Die magischen Blendwerke meiner kosmischen [[Yoga]] sind die [[Yuga]]s, die Weltalter. Diese Entfaltung der Trugbilder im Erscheinungsvorgang des Alls ist das Werk meines Schöpferischen. Zur selben Zeit aber bin ich der Strudel, der zerstörerische Wirbel, der alles wieder einsaugt, was jemals entfaltet wurde und der Folgereihe der Yugas ein Ende setzt. Ich setze allem, was entsteht ein Ende. Mein Name ist Tod des Alls.«
 
Aus dieser Selbstenthüllung Vishnus scheint hervorzugehen, daß Markandeya im Vergleich zu Narada der weitaus Bevorzugtere war. Beide Heilige tauchten ins Wasser, den substanzgewordenen Aspekt von Vishnus Maya, Narada mit [[Willen]], Markandeya aus Versehen. Jedem erschloß das Wasser »die völlig andere Seite«, »den ganz verschiedenen Aspekt«, das »totaliter-aliter«. Aber Narada, der in seiner glühenden Verehrung und liebenden [[Hingabe]] ([[Bhakti]]) scheinbar in so vertrautem Bezug zur geheimen Essenz der Gottheit stand, geriet in ein anderes Dasein, eine andere Verwicklung von irdischen [[Leid]]en und Freuden. Die Verwandlung band ihn mit denselben Fesseln, die er in leidenschaftlicher Askese zu entwerten und zu überwinden strebte. Die Wasser weihten ihn in die unbewußte Seite seines eigenen Wesens ein. Sie machten ihn mit Wünschen und Einstellungen bekannt, die in ihm noch lebendig waren, aber vor seinem Bewußtsein durch die Zielstrebigkeit seiner Bemühung abgeschirmt wurden. »Du bist nicht, was zu sein Du Dir einbildest« — so hieß die Lehre der erregenden Erfahrung, die ihn während des nur einen Augenblick währenden Untertauchens überwältigte (die Bilderwelt des Hindumythos gestattet ein vorsichtiges, intuitives Erfassen in psychologischen Begriffen — Begriffen der Psychologie des Bewußten und Unbewußten. Neben anderen Interpretationen ist dieser Annäherungsweg in der Tat angebracht, denn Maya ist ebenso ein psychologischer wie ein kosmischer Begriff. Die individualisierten, differenzierten Gestaltungen des Alls — die Erde sowohl wie die höheren und niederen Ebenen der Himmel und Unterwelten — werden von dem formlosen, flüssigen Element der Tiefe getragen. Alle sind sie aus der uranfänglichen Flut entfaltet und gewachsen und werden durch ihren Kreislauf erhalten. Gleicherweise wird unsere individuelle, bewußte Persönlichkeit, die »[[Seele]]«, deren wir gewahr sind, die Charakterrolle, die wir nicht nur in [[Gesellschaft]], sondern auch in einsamer Zurückgezogenheit spielen, wie ein intellektueller und emotioneller Mikrokosmos von dem flüssigen Element des Unbewußten getragen. Dieses stellt eine zum größten Teil unbekannte
Potenz dar, verschieden von unserem bewußten Wesen. Viel weiter und fremdartiger als die von der Kultur geformte Persönlichkeit trägt sie diese doch als ihr tiefes Fundament und kommuniziert mit ihr, sie als belebendes,
inspirierendes und häufig verwirrendes Fluidum durchkreisend. Das Wasser stellt das Element des tiefsten [[Unbewusste]]n dar. Es birgt alles an Strebungen und Einstellungen in sich, was die bewußte [[Persönlichkeit]],
die im Fall Naradas auf völlige Heiligkeit zielt, vernachlässigt und beiseite geschoben hat. Es vertritt die ungeschiedene, umfassende Potentialität des Lebens und der [[Natur]], die im Individuum gegenwärtig ist, aber abgesplittert vom empfundenen, vorgestellten, bewußt gespielten Charakter).
Markandeya war ein Heiliger anderer Art. In der Traumwelt im Innern des schlafenden Gottes enthalten, war er nur eine von vielen Gestalten, aber dennoch entzückt, die Rolle des ewig-ausdauernden Pilger-Heiligen zu spielen, befriedigt vom idealen Zustand der menschlichen Dinge. Er war nicht von dem Verlangen besessen, dem Mayazauber zu entrinnen, indem er das Wunder des Blendwerks durchstieß.
 
Als Markandeya aus dem Mund des Gottes glitt, fiel er aus dem Dasein heraus, soweit »Dasein« zu erfassen und zu bewältigen ist. Er fand sich der großen Nichtheit gegenüber, der weiten Wüste des uferlosen Meeres; die ihm vertraute Welt war verschwunden. In jäher Folge hatte er zwei sich widersprechende, unvereinbare Aspekte desselben Wesens erlebt, und sein menschlicher Verstand versagte vor ihrer Zusammenordnung. Vishnu lehrte ihn die Wesensgleichheit der Gegensätze, die grundangelegte [[Einheit]] von allem und jedem in Gott. Aus seiner einzigen, einheitlichen Substanz hervortreibend, in Gott gedeihend und in Gott vergehend, schmilzt alles wieder in die alleinige [[Quelle]] zurück.
 
Vishnu lehrt die Einheit der Gegensätze, erst, indem er sich als das unerschrockene, namenlos einsame Kind in der unendlichen Ausdehnung der Wasser und der sternenlosen Nacht offenbart; dann, indem er den uralten Heiligen mit »Kind« und seinem Vornamen anredet, wie ein alter Freund oder Bekannter, obgleich die zwei sich allem Anschein nach noch niemals begegnet sind.
 
Das Geheimnis der Maya ist diese Wesensgleichheit des Entgegengesetzten. Maya ist eine gleichzeitige und in der Gleichzeitigkeit aufeinanderfolgende [[Offenbarung]] von Energien, die miteinander uneinig sind, Vorgängen, die sich widersprechen und gegenseitig aufheben: Schöpfung und Zerstörung, [[Entwicklung]] und [[Auflösung]], das Traumidyll der inwendigen Schau des Gottes und die öde Null, der Schrecken der [[Leere]], das furchtbare Unendliche. Maya ist der ganze Kreislauf des Jahres, der alles hervorbringt und alles wieder fortnimmt. Dieses »und«, welches das Unvereinbare vereinigt, drückt den Grundcharakter des »Höchsten Wesens« aus, des Herrn und Handhabers der Maya, dessen Energie sie ist. Alle Gegensätze stammen im Grunde aus demselben [[Sein]], sind zwei Aspekte des einen Vishnu. So lautet die [[Weisheit]], welche diese Sage dem gläubigen Hindu aufschließen will.
 
Die tiefdröhnende Stimme des Kindes fuhr fort und Belehrung floß von seinen Lippen in wundervollem seelenerquickenden Strom: »Ich bin die heilige Ordnung ([[Dharma]]), ich bin der glühende [[Eifer]] entsagenden Strebens ([[Tapas]]), bin all die Erscheinungen und Vorzüglichkeiten, in denen die wahre Essenz des Daseins sich manifestiert. Ich bin der Herrscher, der alle Wesen schafft und erzeugt ([[Prajapati]]), bin das Gesetz des Opferritus und werde der 'Herr der heiligen Weisheit' genannt. Als [[Licht]] des Himmels offenbare ich mich, als Wind und Erde, als die Wasser des Meers und der [[Raum]], der sich nach den vier Weltgegenden ausdehnt, zwischen den Himmelsrichtungen liegt und sich nach oben und unten erstreckt. Ich bin das Uranfängliche Wesen und die Höchste Zuflucht. Aus mir entsteht, was jemals gewesen war, sein wird oder ist. Und was immer Du im Umkreis des Alls siehst, hörst und erkennst: wisse mich als Den, der darin wohnt. Zeitlauf um Zeitlauf erzeuge ich aus meinem Sein die Sphären und Geschöpfe des Kosmos. Bewege das in Deinem Herzen, befolge die Gesetze meiner ewigen Ordnung und wandere beglückt durch das All in meinem Leib. Brahma lebt dort und alle Götter und heiligen Seher. Wisse mich als Den, der sich offenbart, dessen offenbarende Macht aber unoffenbart und unbegreiflich bleibt. Ich weise jenseits der [[Ziel]]e menschlichen Lebens: Befriedigung der [[Sinne]], Bemühung um Wohlstand und fromme Erfüllung heiliger [[Pflicht]]en. Aber ich weise diese drei als die angemessenen Zwecke irdischen Daseins.«
 
Mit schneller Bewegung brachte darauf das Uranfängliche Wesen den Heiligen Markandeya an die Lippen und verschluckte ihn, daß er wieder in dem gigantischen Leibe verschwand. Diesmal war das Herz des Heiligen von solcher [[Seligkeit]] überflutet, daß er nicht weiterwanderte, sondern die [[Ruhe]] eines verborgenen Platzes aufsuchte. Hier blieb er in einsamer Stille, freudenvoll dem »Sang der unsterblichen [[Hamsa|Wildgans]]« lauschend, der zuerst kaum hörbaren, verborgenen, doch alldurchdringenden Melodie von Gottes ein- und ausgehendem Lebensatem. Und das ist der Sang, den Markandeya hörte: »Viele Gestalten nehme ich an. Und wenn [[Sonne]] und [[Mond]] verschwunden sein werden, flute ich und schwimme mit langsamer Bewegung auf der grenzenlosen Ausdehnung der Wasser. Ich bin der Herr. Ich bringe das All aus mir hervor und hause im Kreislauf der Zeiten, der es auflöst.«
 
Dieser Gesang, diese Melodie mit ihrem Bild der kosmischen Wildgans stellt die letzte einer Reihe von archetypischen Offenbarungen dar, die dem frommen Heiligen Markandeya geschehen. In der Hindu-Mythologie ist die Wildgans im allgemeinen Brahma zugesellt. Wie Indra auf einem Elefanten reitet, [[Shiva]] auf dem Stier [[Nandi]], Shivas Sohn, der Kriegsgott [[Skanda]]-[[Karttikeya]], auf dem Pfau und »die Göttin« ([[Devi]]) auf dem Löwen, so schwingt sich Brahma auf einem herrlich wilden Ganter durch die Atmosphäre. Diese tragenden Wesen oder Reittiere ([[Vahana]]s) sind auf der Ebene der Tierheit Manifestationen der betreffenden göttlichen Individualitäten selbst. Der Ganter ist die tierische Maske des schöpferischen Prinzips, das in menschenförmiger Gestalt in Brahma verkörpert ist. Als solche ist er das Sinnbild souveräner [[Freiheit]] aus fleckenloser Geistigkeit.
 
Darum heißt es von dem Hindu-Asketen, dem Bettelmönch oder Heiligen, dessen Freigewordensein von den Fesseln der Wiedergeburten man annimmt, sie hätten den Rang des »Ganters« ([[Hamsa]]) oder des »höchsten Ganters« ([[Paramahamsa]]) erlangt. Es sind Beiwörter, die gewöhnlich auf die orthodoxen Lehrer-Heiligen des gegenwärtigen Hinduismus angewandt werden. Warum ist nun der wilde Ganter solch ein wichtiges Symbol?
 
Der wilde Ganter (Hamsa) legt in seiner Lebensweise auffallend die zweifache Natur aller Wesen an den Tag. Er schwimmt auf der Oberfläche des Wassers, ist aber nicht an dieses gefesselt. Dem wässerigen Bereich entfliehend schwingt er sich in die reine, unbefleckte Luft, wo er ebenso zu Hause ist wie in der Welt unterwärts. Den Raum durchfliegend schweift er nach Norden oder Süden, dem Lauf der Jahreszeiten folgend. So ist er der heimatlose, freie Wanderer zwischen den oberen, den Himmelssphären, und den niederen irdischen. Nach [[Wunsch]] und Gefallen läßt er sich auf den irdischen Gewässern nieder oder zieht sich in die leere Höhe zurück. Darum versinnbildlicht er den göttlichen Wesenskern, der trotz seiner Einkörperung und seines Wohnsitzes im Individuum doch für immer von den Geschehnissen individuellen Lebens freibleibt und von ihnen nicht bekümmert wird.
 
Einerseits erdgebunden, beschränkt in Lebenskraft, Fähigkeiten und Bewußtsein, andererseits aber eine Manifestierung des göttlichen Wesens, das unbegrenzt, unsterblich, im Grunde allwissend und allmächtig ist, sind wir wie die Wildgans Bürger von zwei Sphären. Wir sind sterbliche Individuen, die in sich einen unsterblichen, überindividuellen Kern tragen. Eingehüllt von den beschränkenden, individualisierenden Schichtungen des groben, faßbaren Gefüges unserer physischen Natur und den feinen Häuten unseres Psychischen, ruht das Selbst ([[Atman]]) wesentlich unberührt durch die Vorgänge und Aktivitäten in den sein jeweiliges äußeres Dasein bedingenden Ablagerungen, einsam und in Seligkeit versunken. Ohne es zu wissen sind wir unstofflich, göttlich, erhaben, obgleich auch wandelbar, Erfahrungen unterworfen, Freuden und Kümmernissen, und dem [[Verfall]] wie der [[Reinkarnation|Wiedergeburt]] ausgesetzt.
 
Der makrokosmische Ganter, das göttliche [[Selbst]] im Leibe des Alls, manifestiert sich selbst durch einen Gesang. Die Melodie des Ein- und Aushauchens, welche der indische [[Yogi]] vernimmt, wenn er durch Übungen den Rhythmus seines [[Atem]]s kontrolliert ([[Pranayama]]), wird als Manifestierung des »inneren Ganters« betrachtet. Der Einhauch soll den Laut »ham«, der Aushauch »sa« hervorrufen. So, durch beständiges Summen des eigenen Namens: Ham-sa, Ham-sa, enthüllt sich die innere [[Gegenwart]] dem [[Yoga]]-Eingeweihten.
 
Markandeya lauscht diesem Sang; er hört dem [[Atem]] des Höchsten Wesens zu. Darum sitzt er allein an einsamem Ort und legt keinen Wert mehr darauf, dem Lauf der [[Welt]] zu folgen. Es freut ihn nicht länger, umherzustreifen und den idealen Zustand der menschlichen Dinge zu beobachten. Er ist von dem Bann endlosen, wenn auch begeisternden Reisens erlöst, befreit von dem Zwang, durch noch so erhabene Landschaften zu wandern. Die göttlichste Melodie aller Melodien nimmt seine [[Aufmerksamkeit]] ausschließlich in Anspruch.
 
Der Sang des inneren Ganters hat noch ein letztes [[Geheimnis]] preiszugeben. »Hamsa, Hamsa«, klingt er, doch gleichzeitig auch »Sa-'ham, Sa-'ham«. »Sa« heißt »dies« und »'ham« »ich«; »Dies bin ich« meint die Lehre. Ich, das menschliche Individuum, beschränkten Bewußtseins, in Täuschung versunken, von [[Maya]]-Zauber gebunden, bin wirklich und eigentlich »Dies« oder »Er«, nämlich der [[Atman]], das [[Selbst]], das Höchste [[Wesen]] mit unbegrenztem Sein und uneingeschränkter Erkenntnis. Ich bin nicht mit dem vergänglichen Individuum gleichzusetzen, das die Vorgänge und Geschehnisse der [[Psyche]] und des [[Körper]]s als völlig real und entscheidend ansieht. »Ich bin Er, der frei und göttlich ist.« Das ist die Lehre, die jeder Augenblick der Ein- und Ausatmung dem Menschen singt, die göttliche [[Natur]] Dessen, in dem der Atem wohnt, bekräftigend.
 
Markandeyas Zweifel, was denn »wirklich sei« werden durch diesen Sang zur [[Ruhe]] gebracht. »Viele Gestalten nehme ich an«, singt der Gott. Das heißt, das Göttliche Wesen verwandelt durch die schöpferische Energie seiner Maya sich selbst und blättert in die Scharen vergänglicher Iche und Weltalle aus — in das Weltall etwa, von dem Markandeya einen Teil bildet. »Und«, singt der göttliche Vogel, »wenn [[Sonne]] und [[Mond]] verschwunden sein werden, flute ich und schwimme mit langsamer Bewegung auf der grenzenlosen Ausdehnung der Wasser.«
 
Die beiden entgegengesetzten Ansichten der [[Wirklichkeit]], die den Heiligen so hemmten und verwirrten, als er aus der vertrauten [[Welt]] in die sternenlose Nacht des bodenlosen [[Ozean]]s fiel, sind so für ihn versöhnt und als ein und dieselbe erkannt. »Ich bin der Herr und ich bin die Wildgans.« Ich bin das höchste Allwesen, dessen spielende Verwandlung den Makrokosmos darstellt, und bin das innerste Prinzip im Menschen, der Mikrokosmos; ich bin das göttliche Lebensprinzip, das sich in der Melodie des Atems enthüllt. Ich bin der Herr, der allenthaltende kosmische Riese und das Selbst, die unvergängliche, göttliche Lebensmitte im Menschen. »Ich bringe das All aus meinem Wesen hervor und hause im Kreislauf der Zeiten, der es auflöst.« Das Wirken der Maya wurde Markandeya durch wechselnde kosmische [[Vision]]en enthüllt. Während Narada das Geheimnis in einer persönlichen Traumverwandlung erlebte, erschaute Markandeya das [[Wunder]] des großen [[Spiel]]s auf kosmischer Ebene.
 
Der Mythos begann damit, den Untergang des Äons zu beschreiben. Er schließt nun mit einem Bericht über den Wiederanfang.
 
Das Höchste Wesen, in Gestalt des Wassers weilend, zog langsam in sich selbst glühende [[Energie]] zusammen. Dann, in seiner grenzenlosen [[Stärke]], beschloß er das All wieder hervorzubringen. Er, der selbst das All ist, stellte sich die Beschaffenheit des Universums mit seinen fünf Elementen [[Äther]], [[Luft]], [[Feuer]], [[Wasser]] und [[Erde]] vor. Unergründliche, zarte [[Stille]] lag über dem Ozean. Nachdem Vishnu in das Wasser eingegangen war, bewegte er es leise. Wellen kräuselten sich, und als sie einander folgten, bildete sich zwischen ihnen eine schmale Spalte. Diese Spalte war der Raum oder Äther, unsichtbar, urgreifbar, das zarteste der fünf Elemente, der Träger der unsichtbaren, ungreifbaren Sinnesqualität des [[Ton]]s. Der Raum ertönte und aus dem [[Klang]] erhob sich das zweite [[Element]], die Luft, in Gestalt eines Windes.
 
Der Wind, die spontane Bewegerkraft, hatte nun den Raum zur Verfügung, um darin zu wachsen. Ihn durchdringend dehnte er sich rücksichtslos in die Weite und Ferne aus. Gewaltig rauschend und wild blasend erregte er die Gewässer. Aus der sich ergebenden Reibung und dem allgemeinen Aufruhr entstand das dritte Element, das Feuer — eine machtvolle Gottheit, deren Weg von Rauch und Asche schwarz ist. Das wachsende Feuer verschlang große Mengen kosmischen Wassers. Wo aber das Wasser verschwand, blieb eine mächtige [[Leere]] zurück, innerhalb derer die oberste Sphäre des [[Himmel]]s in Erscheinung trat. Das Allwesen, das den Elementen erlaubt hatte, aus seiner Essenz hervorzutreten, freute sich nun, die Formung der himmlischen Räume zu erblicken. In Vorbereitung für die Erschaffung [[Brahma]]s sammelte es seinen [[Geist]].
 
Es liegt in der Natur des Höchsten Wesens, sich im kosmischen Ozean an sich selbst zu erfreuen. Nun treibt es aus seinem kosmischen Leib einen einzelnen Lotos hervor mit tausend Blütenblättern aus reinem Gold, fleckenlos und strahlend wie die [[Sonne]].
Und zusammen mit diesem [[Lotos]] läßt er den Gott-Schöpfer des Universums, Brahma, hervorgehen, der im Mittelpunkt des goldenen, sich ausdehnenden und von der glühenden Energie der Schöpfung strahlenden Lotos thront.
Rang und Rolle Brahmas sind einem vollkommenen [[Yogi]] anvertraut, der volle [[Herrschaft]] über sich selbst und die Kräfte des Alls besitzt. Immer wenn ein menschliches Wesen durch leidenschaftliche Entsagungen gereinigt und durch die [[Initiation]] in heilige [[Weisheit]] wiedergeboren die letzte [[Erleuchtung]] erlangt und der erste aller Yogis wird, erkennt ihn das Höchste Wesen in seiner ganzen [[Würde]] an. Und wenn das All sich wiederentfaltet, werden die späteren Schöpfungsvorgänge seiner [[Sorge]] anvertraut.
 
Brahma ist viergesichtig, und mit diesen vier Gesichtern regiert er die Himmelsrichtungen und die ganze Ausdehnung des Alls.
 
Von den Weisen, die in den heiligen Überlieferungen bewandert sind, wird Brahmas Lotos als »höchste Form oder Aspekt der Erde« bezeichnet. Er ist mit den Sinnbildern des Elementes Erde ausgestattet und stellt die Göttin [[Erde]] oder die der »fruchtbaren Feuchtigkeit« dar. Aus dieser Erde erheben sich die heiligen, zum Himmel getürmten Berge, die mit dem Lebenssaft des Lotos gesättigt sind: der [[Himalaya]], der Berg [[Sumeru]], der Berg [[Kailash|Kailasa]], der Berg [[Vindhya]]. Sumeru oder [[Meru]] ist der Mittelgipfel der [[Welt]], der Nagel des Alls, die vertikale Achse. Kailasa ist die Residenz des Gottes [[Kubera]], des Königs der Genien ([[Yaksa]]s) und auch ein Lieblingsaufenthalt [[Shiva]]s. Der Vindhya-Berg, der die nordindische Ebene vom Hochland des Dekkan trennt, ist der Gipfel, über den sich die Sonne erhebt, um ihre tägliche Reise am Himmelsgewölbe zu beginnen. Alle diese Gipfel sind die Behausungen von Scharen von Göttern, himmlischer und übermenschlicher Wesen, und vollendet Heilige, welche dem Frommen [[Erfüllung]] seiner [[Wunsch|Wünsche]] schenken. Mehr noch: das Wasser, das von diesen Bergen herabfließt, ist so heilspendend wie das Elixier des unsterblichen [[Leben]]s. Es rinnt in Flüsse, die heilige [[Ziel]]e der Pilgerschaft sind. Die Staubfäden des Lotos sind die unzähligen, mit kostbaren Metallen gefüllten Berge der Welt, während die äußeren Blütenblätter die unzugänglichen Kontinente ferner Völker enthalten. Auf der Unterseite der Blütenblätter wohnen die Dämonen und Schlangen. Aber im Innern des Blütenherzens, inmitten der vier Ozeane, die sich zu den vier Weltrichtungen ausdehnen, liegt der Kontinent, von dem Indien ein Teil ist.
 
So kam aus der Mayakraft des träumenden Gottes der ganze große [[Traum]] des Alls wieder zum Sein, um den majestätischen Rundlauf der vier [[Yuga]] wieder aufzunehmen. Ein anderer Zyklus, dazu bestimmt, allem vorhergegangenen und allem, was jemals geschehen würde, zu gleichen, noch glitzernd nass und strahlend von der lebenden Substanz seines Ursprungs, erhob sich wundervoll in der holden Morgendämmerung.
 
==Siehe auch==
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
 
*Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
::Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
:::1.1 [[Die Parade der Ameisen]]
:::1.2 [[Das Rad der Wiedergeburten]]
:::1.3 [[Die Weisheit des Lebens]]
 
::Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
:::1.1 [[Vishnus Maya]]
:::1.2 [[Die Wasser des Daseins]]
:::1.3 [[Die Wasser des Nichtseins]]
:::1.4 [[Maya in der indischen Kunst]]
 
==Literatur==
*[https://www.yoga-vidya.de/shop/product_info.php?info=p353_Goetter-und-Goettinnen-im-Hinduismus/&XTCsid=a793ba3e94d6e68c68e3244b0615a13f Swami Sivananda, Götter und Göttinnen im Hinduismus]
*[https://www.yoga-vidya.de/shop/product_info.php?info=p44_Parabeln-von-Swami-Sivananda/&XTCsid=a793ba3e94d6e68c68e3244b0615a13f Swami Sivananda, Parabeln]
 
==Seminar==
*[https://www.yoga-vidya.de/seminare/stichwortsuche/dfu/0/dtu/0/ex/0/fu/Mythologie/ro/s/ Yoga Vidya Seminare zum Thema Mythologie]
<rss max=5>https://www.yoga-vidya.de/seminare/stichwortsuche/dfu/0/dtu/0/ex/0/fu/Mythologie/ro/s/?type=2365</rss>
 
[[Kategorie:Heinrich Zimmer]]
[[kategorie:Indische Mythen und Symbole]]

Aktuelle Version vom 29. März 2014, 15:11 Uhr

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