Yogendra

Aus Yogawiki
Shri Yogendra, auch liebevoll Shri Yogendraji, "Haushälter Yogi", genannt, wird als Vater der Yoga-Renaissance und Gründer des ersten modernen Yogazentrums der Welt angesehen. Shri Yogendraji lebte von 1897 bis 1989. Hier ist er mit seiner Frau Mother Sita Devi Yogendra und einem ihrer gemeinsamen Söhne abgebildet.

Yogendra wurde mit seinem Namen bekannt als „Vater der indischen Yoga-Renaissance“ und Gründer des ersten Yoga-Zentrums der Welt im modernen Sinne, und zwar im Jahre 1918 im indischen Mumbai. Geboren wurde er am 18.11.1897 als Manibhai Haribhai Desai, und wuchs als einziger Sohn eines der Brahmanenkaste angehörigen verwitweten Dorfschullehrers im nordwestindischen Gujarat auf. Mit 14 Jahren erkrankte der unter ärmlichen Umständen lebende Junge an Typhus. Ein Anteil nehmender Lehrer riet ihm, der fortan kränkelte, zu Körper- und Atemübungen und verhalf ihm zu reichlicherer Nahrung. Zwei Jahre später war die Kraft des jungen Hobby-Ringers zum Gesprächsstoff in seinem heimischen Dorf geworden. Als der 18jährige zum College im fernen Bombay zugelassen wurde, sah der stolze Vater einer mutmaßlich glänzenden Karriere seines Sohnes im indischen Staatsdienst des damals noch von Briten regierten Landes entgegen. Manibhai war ein begeisterter Student – doch er blieb es nicht lange. Die Fragen, die in ihm aufzusteigen begannen, ließen sich mit dem, was er lernte, nicht beantworten. Welche Bedeutung hatte das Leben? Welche Rolle spielte er darin? Welche Rolle spielte die Gesellschaft um ihn herum? Er wurde sehr still und innerlich ruhelos.

Shri Yogendraji, „Vater der indischen Yoga-Renaissance“

von Hella Naura

Das einschneidende Erlebnis

Im August 1916 wurde der damals schon hundertneunzehnjährige Paramahamsa Madhavadasaji (1798-1921) in Bombay erwartet. In Manibhais jugendlichen Vorstellungen von einer reformierten, modernen indischen Gesellschaft war wenig Platz für die Yogis, Weisen, Heiligen, die Sanyasins und die Sadhus Indiens. Doch Manibhai begleitete trotzdem einen Freund zu einer Versammlung. Es war ein folgenschwerer Gang, denn einige Stunden später stand er seinem zukünftigen Lehrer gegenüber. Als der junge Student die Versammlung betrat, hielt ihn der alte Heilige und Yogi mit seinem Blick fest und winkte ihn zu sich. Dann führte er ihn in einen kleinen Raum und versetzte ihn in einen ekstatischen Zustand. Manibhai erlebte einen Bewusstseinszustand, von dessen Existenz er bislang keine Ahnung gehabt hatte. Es folgten einige Tage der Unsicherheit. Manibhais telegrafisch herbei gerufener Vater war bestürzt. Er nahm seinen Sohn erst einmal wieder mit zurück ins Dorf, willigte aber schließlich ein. Manibhai würde das College verlassen, um dem als heilig geltenden, doch auch in der Technologie des Hatha-Yoga äußerst kundigen, Paramahamsa Madhavadasaji in den Ashram zu folgen. Doch er würde nicht den traditionellen Weg der Weltentsagung und Heimatlosigkeit beschreiten, sondern nach einiger Zeit des Lernens wieder in die Gesellschaft zurückkehren, heiraten und eine Familie gründen.

Die neue Einsicht

Als Manibhai den Ashram nach über zwei Jahren verließ, stand seine Aufgabe fest. Er wollte Yoga vom Ruch des Weltflüchtigen und Magischen, den er für viele seiner Landsleute zu jener Zeit hatte, befreien. Er wollte die Fülle des Yoga an Wissen und Techniken so systematisieren und vereinfachen, dass sie für weite Kreise zugänglich und sicher würden. Er wollte in der Gesellschaft leben und Yoga verbreiten und so zur Gesundheit sowie geistig-ethischen Weiterentwicklung von jedem, der interessiert war, beitragen. Im Dezember 1918 eröffnete er zu diesem Zweck ein kleines „Yoga Institute“ in der Nähe von Bombay. Doch schon Ende 1919 ging er in Begleitung eines angesehenen Landsmanns, dessen Neffen er geheilt hatte, nach New York. Der Westen mit seinen staunenswerten technischen und industriellen Leistungen und seinem hohen materiellen Lebensstandard war damals tonangebend. Und da dieser Westen anscheinend nur das wertschätzte, was wissenschaftlich bewiesen werden konnte, wollte Manibhai Ärzte kennen lernen und wissenschaftliche Geltung für Yoga erlangen. Natürlich hatte niemand auf ihn gewartet. Er wollte lehren, doch wo waren die, die von ihm lernen wollten? Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten erstaunte er tatsächlich einen Kreis von Ärzten so sehr durch seine anscheinend „übernatürlichenFähigkeiten, dass sie ihm ein Haus auf dem Lande zur Verfügung stellten. Dort, in der Fortsetzung seines indischen Instituts, behandelte er Kranke durch Mittel und Techniken des Yoga, durch Naturheilkunde und Belehrung.

Zurück nach Indien

1922 rief ihn sein erkrankter Vater zurück nach Indien. Er begann nun, abgeschiedene Yoga-Klöster in Nordindien aufzusuchen, alte Yoga-Literatur zu sammeln und zu übersetzen und selbst zu schreiben. Sein Ziel war es, aus dem für Laien oft völlig Unverständlichen oder wegen des verwendeten Symbolismus auch Irreführenden und Gefährlichen so viel zu veröffentlichen, dass das große Potential des Yoga zur Förderung von Gesundheit, Verständnis, moralischer Stärke, Selbsterkenntnis und letztlich Bewusstseinserweiterung jedem Interessierten offen stünde. Um sein Leben und seine Arbeit zu finanzieren, entwickelte er ein Mittel, das Bücher vor Insekten und Mottenfraß schützte. Dann ging er auf Brautschau und lernte durch Vermittlung eines Bewunderers Sita Devi, ein blutjunges Mädchen aus einer kultivierten Familie in Südindien, kennen. Sie war nach damaligen Vorstellungen fast eine Ausländerin für den Nordinder, doch Konventionen und Traditionen waren für den Freidenker nie bestimmend. Die beiden heirateten 1927, zogen zum Vater in den umgebauten Kuhstall in Gujarat und wurden bald Eltern zweier Söhne. Nach dem Tod des Vaters und mehreren Umzügen, die durch die Umstände erzwungen wurden, konnte das Paar 1948 sein „The Yoga Institute“ auf eigenem Grund und Boden in Santa Cruz East, einem ehemals noch grünen Vorort von Mumbai, wiedereröffnen.

Shri Yogendrajis Lebenswerk

Shri Yogendraji arbeitete unermüdlich. Unterstützt wurde er darin von seiner Frau Sita Devi, die sich zu einer Pionierin des Yoga für Frauen, damals noch eine sehr seltene und kontroverse Sache, entwickelte. Um die Mitte der 70er Jahre begann er, sich langsam zurück zu ziehen und an seinen älteren Sohn, Dr. Jayadeva Yogendra, zu übergeben, dem seine Frau, Hansaji, zur Seite steht. Einige Wochen vor seinem 93. Geburtstag starb er.

Shri Yogendraji war über 70 Jahre lang für die Sache des Yoga als Mittel, ein Leben gesünder, selbständiger, voller und bewusster zu leben, aktiv. Viele suchten ihn auf – um zu lernen, nachzufragen, sich raten zu lassen oder über die wissenschaftliche Bestätigung und Erklärung mancher yogischer Phänomene zu forschen. Doch während die Zahl der Besuchenden und Lernenden aus In- und Ausland zunahm – an die tausend Menschen nehmen zur Zeit täglich an den verschiedenen Lehrgängen, Kursen und Gruppentreffen des Instituts teil – änderte sich der Lehransatz am Institut mehrmals. Das hatte seinen guten Grund. Während Shri Yogendrajis langer Lebenszeit wurde deutlich, dass der hohe materielle Standard des Westens auch seine Schattenseiten hatte, wie etwa Zivilisationskrankheiten, Zunahme psychischer Leiden, wie Depression, Burn-out und Borderline, und Umweltzerstörung. Auch die Wissenschaften verloren an Glanz, da sie öfter auf ein pseudohaftes und popularistisches Niveau herabgezogen wurden. Es wurde zu wenig bedacht, dass Wissenschaft mit ihrer Betonung der Erforschung des äußeren Sicht- und Messbarens nur einen Zweig menschlichen Wissens darstellt und – wie alles Materielle – begrenzt ist. Ein anderer Zweig menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten betrifft die Innenwelt und die Annäherung an das Bewusstsein an sich. Dies sind laut der Yoga-Metaphysik die einzigen existierenden zwei Kategorien:

  1. das ständig veränderliche Materielle und
  2. das unveränderliche absolute Bewusstsein (in der Yoga-Terminologie Prakrti und Purusa).

Die Erforschung des Letzteren beinhaltet Intuition statt Statistik, Weisheit statt Ansammlung von Details und Fakten und einen ganzheitlichen Blick auf das Leben statt eines fragmentierten.

Shri Yogendras Botschaft

Die Botschaft, dass eine Erforschung des Yoga ein philosophisches und spirituelles Fundament und einen bestimmten Lebensstil des Forschenden voraussetzt, wurde an Shri Yogendraji (wie auch an seiner Frau Sita Devi und seinem Sohn Dr. Jayadeva) deutlich, da er beides buchstäblich verkörperte. Ich erlebte ihn 1975 das erste Mal und war besonders beeindruckt von zwei seiner Wesenszüge: seine Einfachheit und seine unerschütterliche Entschlusskraft und Selbstgewissheit. Er war auf die wunderbare Art „einfach“, die nötig ist, damit jemand all seine Kräfte bündeln kann, um Großes zu erreichen und doch gleichzeitig menschlich völlig ausgewogen zu bleiben. Bei ihm gab es sicher keine Zwiespältigkeiten, kein Zweifeln oder Zögern, kein doppeltes Maß, keine bloßen Lippenbekenntnisse, keine widersprüchlichen Tendenzen, keine Ambivalenzen, keinen Unterschied zwischen bewusstem Streben und unbewusstem Drang. Er war sehr temperamentvoll und musste tiefe Gefühle haben. Aber seine Prioritäten waren immer klar. Er hatte ein Ziel. Er war zu harter Arbeit bereit. Und er hatte eine unglaubliche Energie, ohne welche sich weit reichende Pläne unmöglich aus dem Bereich von Wunsch und guter Absicht in den Bereich vollendeter Tatsachen versetzen lassen.

Shri Yogendra mit seiner Frau Mother Sita Devi Yogendra

Es war kein romantischer Gefühlsausbruch, kein Strohfeuer, das den 19jährigen bewogen hatte, einem 119jährigen in den Ashram zu folgen. Denn was er dort lernte, blieb das tragende Fundament seines ganzen zukünftigen Lebens. Man kann auch nicht sagen, dass er durch geheiligte Tradition gestützt wurde, denn sein Interesse galt ja gerade der Gesellschaft und nicht einem Leben in einem abgeschiedenen Ashram. Er würde schwierige Pioniersarbeit zu leisten haben, statt bequemer über schon gelegte Gleise dahin zu rollen. Es war also auch nicht die Gunst von Umständen, die ihn in seinem Entschluss bestärkte. Unnötig zu sagen, dass es auch nicht die Aussicht auf Reichtümer war, die ihn bewog. Weder war (damals, also vor fast hundert Jahren!) ein Gehalt in Aussicht, noch war das „Produkt“, das er anzubieten plante, überhaupt gefragt. Gesund sein an Körper, Geist und Seele, das wollte jeder. Aber er hatte keine Pillen anzubieten, die nur geschluckt zu werden brauchten. Er hatte durch etwa zwei Jahrtausende hindurch erprobte und von ihm für die modernen Umstände vereinfachte Techniken und Richtlinien anzubieten. die aber auch tatsächlich praktiziert werden sollen.

Er wollte die Gesellschaft verbessern, indem er möglichst viele Einzelne verbesserte; „verbesserte“ im Sinne einer an der Wurzel ansetzenden Erziehung zu mehr Eigenverantwortung für die eigene Person und Gesundheit, zu mehr innerem Frieden, ethischem Verständnis und letztlich Bewusstseinserweiterung. Doch dazu würde er erst davon überzeugen müssen, dass wahrhaft ganzheitliche und dauerhafte Gesundheit, die noch über Schmerzfreiheit und Fitness hinausgeht, mit allen Lebensaspekten verbunden ist, einschließlich Ernährung, Bewegung, Körperhaltung, Lebensstil, Erholung, Verhalten und Lebenseinstellungen. Er würde es verständlich machen müssen, dass falsches Denken auch körperliche Auswirkungen hat, ebenso wie falsches körperliches Verhalten das Denken zerstreut. Auf seinem langen Weg wurde er anfangs verlacht und behindert ebenso wie unterstützt und bewundert. Weder das eine noch das andere konnten ihn ablenken von dem, was er für die Aufgabe und Pflicht seines Lebens hielt. Geholfen wurde ihm dabei immer von seiner Frau, Sita Devi. Als ihn ein Besucher einmal gegen Ende seines Lebens nach ihrer Rolle in seinem Leben befragte, antwortete er: „Fifty-fifty. Wir haben alles geteilt.“ Geholfen wurde ihm auch von seinen Söhnen: dem Älteren, der heute das Institut mit Hilfe seiner eigenen Frau leitet, und dem inzwischen verstorbenen Jüngeren, der schon bald nach Australien gehen sollte, um dort mit seiner Frau zusammen Erziehungsarbeit zu leisten.

Was mag der Beginn dieses großen Lebenswerks gewesen sein? War es die Entschlusskraft, Willensstärke und unerschöpfliche Arbeitskraft eines sehr außergewöhnlichen Menschen? War es das angesammelte Karma dieses Menschen, das ihn wie selbstverständliche seinen Weg trotz aller Schwierigkeiten gehen ließ? War es der subtile Einfluss seines großen Guru? Oder war es einfach der gekommene Zeitpunkt innerhalb eines größeren Planes einer größeren Macht, die sich jedes menschlichen Instrumentes bedient, sofern es nur willens und befähigt ist? Gehörte es zu diesem Plan, dass der Yoga aus esoterischem Dunkel ins helle Licht der Öffentlichkeit gezogen wurde, weil eine weithin desorientierte, unglückliche und kränkelnde Menschheit die richtige Medizin brauchte? Dies sind nur Spekulationen. Aber die Fakten sind für jeden sichtbar da: „The Yoga Institute“, eine einzigartige Institution, die im Dezember 2012 ihren 94. Jahrestag feierte.

Literatur