Selbst

Aus Yogawiki

1. Selbst ist ein uneinheitlich verwendeter Begriff mit psychologischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Bedeutungskomponenten wie teils eher egoistisch gemäss Ahamkara geprägtem

Die Taube symbolisiert den Heiligen Geist - das höhere Selbst

2. Selbst - alle Lebewesen bestehen nach hinduistischer Auffassung aus:

  • dem Atman (das Selbst: die ewige, unzerstörbare, innere Gestalt jedes Wesens, oft auch als Seele, bisweilen Heiliger Geist übersetzt)
  • der sterblichen, physischen Hülle (der stoffliche Körper)
  • dem feinstofflichen Körper mit den folgenden vier
    • Ahamkara - sich als eine Einheit, eine Person wissen, fühlen, erleben. Was ermöglicht, dass sich die Atman-Seele mit den unterschiedlichsten psychischen und physischen Zuständen identifizieren kann.
    • Chitta - das dem Verstand zugrunde liegende Bewusstsein ist weithin unbewusst.
    • Buddhi - Intelligenz, Vernunft.
    • Manas - Denken, Fühlen, Wollen. Wird oft mit Geist oder Verstand übersetzt.

Das Selbst in der Bhagavad Gita

Der feinstoffliche Körper begleitet uns, bis nur der Atman gemeinsam mit der feinstofflichen Hülle den physischen Körper, die veränderliche Welt und den Kreislauf der Wiedergeburt verlässt.

In der Bhagavad Gita, deren Philosophie auf eine praktische Anweisung zum Handeln zielt, wird das ewige, höhere Selbst als höchste und wichtigste Instanz für das menschliche Handeln angesehen.
So heißt es im Dritten Gesang in Vers 17:

  • "Doch wer an seinem Selbst sich freut,(...)."
  • "An seinem eignen Selbst vergnügt, für den bleibt hier nichts mehr zu tun, weil ihm sein eignes Selbst genügt."

[1]

und weiter in Vers 42:

  • "Mächt'ger als dieser der Verstand, weit mächt'ger noch das ew'ge 'Selbst'."
  • "Wenn seine Macht du hast erkannt, dann stärke durch das Selbst dein Selbst."

[2]

Im sechsten Gesang wird das Verhältnis von Selbst und Triebkräften so geschildert:
"Der steht mit seinem Selbst im Bund, der sich aus eigner Kraft besiegt; in Feindschaft lebt mit seinem Selbst, wer seinen Trieben unterliegt. [3]

Das Vorhandensein des Selbst in allen Wesen wird in Versform so beschrieben:
"Sie gleichen mir nach Lust und Leid, Das gleiche Selbst in ihnen webt. - Wer dies von allen Wesen weiß, Zum höchsten Gleichmut sich erhebt."[4]

Ramana Maharshi über das Selbst

Ramana Maharshi

Dialoge zwischen einem Schüler und seinem Meister Ramana Maharshi aus einer Nacherzählung von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Der Weg zum Selbst" 1944 erschienen im Rascher Verlag Zürich.

Das Selbst Innen Wartet

Der Schüler: Du sagst oft, »das All ist nicht ohne dich« oder »alles ist von dir her« und »was ist außer dir?« — das macht mich wirr, Die Welt war da, ehe ich geboren ward, sie wird nach meinem Tode sein, wie sie den Tod aller überdauert hat, die einst am Leben waren wie jetzt ich.
Der Meister: Sagte ich je, die Welt sei da, weil du da bist? Aber ich frage dich: was ist außer deinem Selbst? Dabei mußt du verstehen, daß mit deinem Selbst nicht dein Leib, weder der stofflich greifbare noch der ungreifbare feine Leib gemeint ist. Ferner lass dir gesagt sein, wenn du einmal das Selbst erkannt hast, in dem aller Gehalt beschlossen ist, auch die Idee deinerselbst und anderer deinesgleichen und die Idee der Welt, — dann erfährst du die Wahrheit, daß es eine Wirklichkeit gibt, ein höchstes Wahres: das Selbst aller Welt, die du gewahrst; das Selbst aller Selbste: »parama âman«, das höchste Ewige, verschieden vom Jîva, dem vergänglichen Ich-Selbst, Du darfst das Ich-Selbst oder das leibliche Ich nicht für den Atman nehmen.
Der Schüler: Meinst du damit: der Atman ist Gott?
Der Meister: Du berührst einen schwierigen Punkt. Das unterscheidende Fragen nach dem Selbst (Vichâra) ist als Verfahren von der Betrachtung »Ich bin Shiva« (d. h. »Ich bin Gott«: Shivo 'ham) oder »Ich bin ER« (so 'ham) verschieden, Ich unterstreiche das Erkennen des Selbst; denn du bist allererst mit dir selbst befaßt, ehe denn du dazu übergehen kannst, die Welt und ihren Herrn zu erkennen, Die Betrachtung »Ich bin ER« oder »Ich bin das Brahman« ist mehr oder weniger eine gedankliche Meditation. Aber das Fragen nach dem Selbst, das ich lehre, ist ein unmittelbares Verfahren und ist in der Tat dieser Meditation überlegen. Denn sobald die Strömung dieses Fragens dich erfaßt und du immer tiefer hinein gelangst, erwartet dich das wahre Selbst und zieht dich an sich, und was sich dann vollzieht, das vollzieht ein anderes an dir, und du hast keine Macht darüber. In diesem Geschehen schwinden alle Zweifel und Erörterungen von selber, wie im Schlafe die Sorgen des Tages verschwinden.
Der Schüler: Welche Gewissheit gibt es, daß ein anderes uns erwartet und willkommen heißt?
Der Meister: Wessen Seele genugsam entfaltet und reif (Pak Vin) ist, der durchdringt sich von selbst mit dieser Gewissheit.
Der Schüler: Wie geschieht diese Entfaltung?
Der Meister: Darauf gibt es mehr als eine Antwort, — aber wie immer sie begonnen hat, ernstliches Fragen nach dem Selbst fördert sie.
Der Schüler: Das heißt doch, sich im Kreise drehen: »Ich bin zur Reife entfaltet und daher reif zum Fragen, — das Fragen aber hilft zur Reife entfalten.«
Der Meister: In solchen Sackgassen verrennt das Denken sich immer: es will zu seiner Beruhigung eine Theorie, Wer aber ernstlich Gott nahekommen oder sein eigenes, wahres Wesen ergründen will, braucht im Grunde keine Theorie, Die heiligen Lehren nennen übrigens viele Verfahren, und gewiß ist der Umgang mit großen Menschen, mit erhabenen Seelen eine wirksame Hilfe.

Was ist mein Selbst?

Der Schüler: Ich möchte wissen, was dieses »Herz« ist und wo es ist, — aber vorher sollst du mir einen Zweifel klären; ich kenne meine eigene Wirklichkeit nicht; mein Wissen stößt sich an den Grenzen seiner Unvollkommenheit. Du sagst, »Ich« bedeute das Selbst (âtman), Aber vom Atman heißt es, er sei immer seiner selbst gewahr, indes ich meiner selbst nicht gewahr bin.
Der Meister: Das ist ein Irrtum der vielen. Was du dein Selbst nennst, ist nicht das wahre Selbst, das nicht geboren wird noch stirbt.
Der Schüler: Damit willst du sagen, was ich mein Selbst nenne, ist der Leib oder ein Teil meines Leibes?
Der Meister: Aber der Leib ist Stoff, ist ungeistig-dumpf (jada); er erkennt nicht, sondern ist nur Gegenstand des Erkennens.
Der Schüler: Wenn ich aber weder »âtman« bin, das »Selbst«, noch »an-âtman«, das »Nichtselbst«.
Der Meister: Ich will dir weiterhelfen. Zwischen Geistigem und Stofflichem, zwischen Denken und Leib ersteht ein Etwas, das sich »Ich-Wesen«, »Ich-Machen« (ahamkâra) nennt: Das »Ich-Selbst«, der »fîva« oder Lebensfunke, Was du dein Selbst nennst, ist dieses »Ich-Selbst«: verschieden vom Selbst, das ewig seiner selbst inne ist, und verschieden vom bewußtlosen Stoff; dabei hat es aber gleichermaßen teil am geistig Lebendigen (cetana) wie am leblos Stofflichen (f ada).
Der Schüler: Wenn du sagst, »Erkenne dich selbst«, meinst du also, ich soll dieses »Ich-Selbst« erkennen?
Der Meisten Aber in diesem Augenblick, da das »Ich-Selbst« sich selbst zu erkennen unternimmt, wandelt sich sein Wesen; es fängt an, immer weniger teilzuhaben am stofflich Leblosen, denn es wird mehr und mehr von der Bewußtheit des Selbst (âtman) aufgesogen.

Die geheime Stätte des Selbst

Der Schüler: An wen richtest du dein Geheiß, »Erkenne dich selbst«?
Der Meister: An was immer du bist, — dir gebe ich den Rat: »Erkenne dich selbst«, Wenn das »Ich-Selbst« die Notwendigkeit fühlt, seinen Ursprung zu ergründen, oder den Antrieb empfindet, sich über sich selbst zu erheben, dann nimmt es den Rat an und steigt in die Tiefe und entdeckt dort die wahre Quelle der Wirk¬lichkeit seiner selbst. Und indem es so beginnt, sich selbst zu erkennen, endet es damit, das Selbst zu gewahren.
Der Schüler: Du sagtest, das »Herz« sei die Stätte des Selbst?
Der Meister: Ja, es ist eine höchste Stätte des Selbst, daran zweifle nicht: das wahre Selbst wohnt dort im »Herzen« hinter dem Jîva oder »Ich-Selbst«.
Der Schüler: Sag mir, ich bitte dich: wo im Leibe ist das?
Der Meister: Mit deinem Denken wirst du das nicht erkennen. Mit deiner Phantasie kannst du es dir nicht vorstellen, wenn ich dir sage: die Stätte ist hier (damit wies der Meister rechts auf seine Brust), — der einzige unmittelbare Weg, es zu erfahren, ist, daß du dir gar nichts vorzustellen versuchst, sondern es selber zu erleben trachtest, Dann erfährst du es und fühlst ganz von selbst, daß die Stätte des »Herzens« hier liegt, In den heiligen Schriften wird sie »hrid-guhâ«, die Höhle des Herzens, genannt, tamulisch »Ullam«.
Der Schüler: Das habe ich aber noch in keinem Buche gefunden.
Der Meister: Lange, nachdem ich hierher kam, stieß ich in der Mâlayâlam-Uebersetzung des »Ashtânga-hridaya« (»Herz«, d. h. »Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft«), diesem klassischen Kompendium der Heilkunde (âyurveda), auf einen Vers; in dem war die Rede von der »Stätte der Lebenskraft« (ojas-sthâna); sie sei auf der rechten Seite der Brust gelegen und sei die Stätte des Bewußtseins, des Sichselbergewahrseins (samvid), Aber mir ist keine andere Schrift bekannt, die darauf Bezug nimmt.
Der Schüler: Ist es sicher, daß die Alten diese Stätte als »Herz« bezeichneten?
Der Meister: Ja, das taten sie, — Aber du solltest lieber versuchen, diese Erfahrung zu hab en, als sie irgendwo mit deiner Vorstellung zu suchen, Niemand braucht zu suchen, wo seine Augen sitzen, wenn er sehen will. Das »Herz« ist immer offen, wenn du wirklich hinein willst; es trägt alle Regungen und Bewegungen in dir, ohne daß du dessen gewahr wirst, Vielleicht sollte man lieber sagen: das Selbst ist das »Herz« selber, als daß es »im Herzen« sei. Fürwahr, das Selbst ist die Stätte und Mitte selber, Es ist immerdar seiner selbst inne als »Herz«, als Selbstgewahrsein, Darum habe ich gesagt: »Herz ist dein Name« (hridayam te nâma).
Der Schüler: Hat noch sonst jemand den Höchsten Herrn als »Herz« angesprochen?
Der Meister: Lange, nachdem ich das gesagt hatte, stieß ich eines Tages auf ein Lied im »Devâram« des heiligen Appar, in dem er den Herrn »ullam«, d. h. »Herz«, nennt.
Der Schüler: Wenn du sagst, das »Herz« sei höchste Stätte und Mitte des Ewigen Wesens (purusha), des Atman, dann besagt das, es sei keines der sechs Lotoszentren, die der :Kundalinî-Yoga lehrt.
Der Meister: Die sechs Lotoszentren des Yoga von der Tiefe des Leibes aufwärts bis unter die Hirnschale sind ebensoviele Zentren des Nervensystems. Sie bezeichnen verschiedene Stufen, an denen unterschiedliche Kräfte oder Erkenntnisse sich auftun, die zum tausendblättrigen Lotos (sahasrâra) zuhöchst geleiten, in dem die höchste Weltkraft (shakti) wohnt, Aber das Selbst, das den ganzen Gang dieser Kraft, vom tiefsten Lotos hinauf zum höchsten, trägt, wohnt nicht in ihm, sondern trägt das Ganze vom Herzen her.
Der Schüler: Dann ist es verschieden von der sich offenbaren den Weltkraft (shakti)?
Der Meister: In Wirklichkeit gibt es keine Selbstoffenbarung der göttlichen Kraft (shakti) neben dem Selbst her. Das Selbst hat sich in all diese Kraft verwandelt. Wenn sich der Yogin in die höchste Mitte der Entrückung erhebt, in Samâdhi, ist es das Selbst im Herzen, das ihn in diesem Stande trägt, ob er es gewahr wird oder nicht. Wird er es im Herzen gewahr, so erkennt er: auf welcher Ebene, in welchem Stande und an welcher Stätte seines Wesens immer er sich bewegen mag, es ist immer dasselbe Wirkliche, dasselbe »Herz«, das eine Selbst, der Geist, der allerwärts zugegen ist, ewig und unwandelbar. Die Tantralehren nennen das »Herz« den »Sonnenkreis« (sûrya-mandala) und den tausendblättrigen Lotos im Haupte (sahasrâra) den Mondkreis (chandra-mandala). Diese beiden Sinnbilder deuten an, wie die »Stätte des Selbst« (âtma-sthâna) und die »Stätte der Shakti« (shakti-sthâna) sich in ihrer Bedeutung zueinander verhalten.

Das Forschen nach dem Selbst

Heinrich Zimmer

In der Zeit seines langen Schweigens zeichnete Shri Ramana Maharshi um 1901 einige Richtlinien für seinen Schüler Gambhiram Sheshayya auf. Ihr Sinn ist: erfahre vollkommenes Glück in Sammlung auf dein Selbst. Auf diese Richtlinien bezieht sich Heinrich Zimmer in seinem Buch "Der Weg zum Selbst":

"Werden nicht alle Wesen unwillkürlich ihres »Ich« gewahr und erfahren es in all ihren Empfindungen »ich kam — ich ging — ich tat — ich war«? Fragst du was es sei, wird anscheinend der Leib mit dem Ich gleichgesetzt, weil Bewegungen und andere Betätigungen dem Leibe eignen. Entspräche der Leib dieser Ich-Vorstellung, so war sie nicht vor der Geburt, bestände aus den fünf Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Aether), die den Leib aufbauen, wäre fern von uns im traumlosen Schlaf, wo uns das Ich entgleitet, und würde schließlich mit zur Leiche, — das kann nicht sein. Diese Ichvorstellung, die auf Zeit im Leibe aufsteigt, heißt auch das Ego, oder Nichtwissen, Wahn, Unreinheit und Individuation."

Alle heiligen Schriften haben die Ergründung des Selbst zum Gegenstand, sie erklären: die Vernichtung der Ich-Vorstellung bedeutet Erlösung. Kann der Leib, bewußtlos wie ein Stück Holz, Licht sein und sich als Ich betätigen? — nein, darum laß den leichnamgleichen beiseite als wäre er ein Leichnam. Flüstere nicht einmal »Ich«, aber frage angespannt nach innen: was ist's, das dir im Herzen als »Ich« leuchtet? Kannst du hinausgelangen über den zeitweiligen und stoßweisen Strom der Vorstellungen und Regungen, so erhebt sich vor dir stumm und unwillkürlich ein Ständiges und Wandelloses in deinem Herzen: ein Gewahrsein »ICH-ICH«. Kannst du es erfassen und ganz still bleiben, so wird es die Vorstellung »Ich« in deinem Leibe ganz auflösen und zunichte machen, und selber wird es verschwinden wie eine weiße Flamme brennenden Kampfers, die erlischt. Weise und heilige Bücher sagen: das sei die Befreiung.

Das Ego in Gestalt der Ich-Vorstellung ist die Wurzel des Baumes aller Wahnvorstellungen; wird sie vernichtet, ist aller Wahn gefällt, Klebe nicht am Vielerlei der Vorstellungen, die dir beim Forschen nach dem Selbst in den Anfangsstadien deiner Uebungen kommen, Halte dich abseits von ihnen: ein leidenschafts¬los und gleichgültig Zuschauender, der zu sich spricht: »laß ge¬schehen was mag, ich schaue nur zu«. Uebst du ständig diese Haltung und verweilst ohne Wanken in ihr, so löscht das Selbst die Ich-Vorstellung im Leibe aus, sie ist die Wurzel aller Schwierigkeiten, fortzuschreiten auf der geistigen Bahn, Dieser leichte Weg, das Ich auszulöschen, verdient allein die Namen »bhakti« (gläubige Hingabe), »jiïâna« (Erkenntnis), »yoga« (Uebung der Ver¬einigung mit Gott) oder »dhyâna« (Sammlung in innerer Schau).

Die Vorstellung »ich bin der Leib« umgreift die drei Sphären leiblich-geistigen Daseins in Wachen, Traum und traumlosem Schlaf und umfaßt die fünf Gehäuse, die den Leib bilden; ist sie behoben, fällt alles übrige von selbst ab, denn es hängt an ihr. Du brauchst dich nicht zu bemühen, es einzeln auszuschalten, denn die heiligen Schriften erklären: nur die Vorstellung ist Bindung. Daraus folgern sie: der beste Weg ist, das Gemüt in Gestalt der Ichvorstellung dem Göttlichen, dem Selbst zu überantworten, da¬bei ganz still zu halten und nicht abzuirren, Das Selbst ist in sich selber strahlend Licht. Man soll sich aber besser kein Bild, keine Vorstellung davon machen, Die vorstellende Phantasie an sich bedeutet schon Bindung, Das Selbst ist Ausstrahlung jenseits von Dunkel und Licht, — das Gemüt soll es sich garnicht ausmalen, das führt nur zur Bindung, indes das Selbst unwillkürliches, völlig unbezogenes Licht ist. Das Forschen nach dem Selbst in Gestalt innerer Sammlung und gläubiger Hingabe an das Göttliche steigert sich zur Entrückung des Gemüts in das Selbst und führt zur Befreiung: zu unaussagbarer Seligkeit. Die großen Weisen haben gelehrt: nur durch hingebungsvolles Forschen nach dem Selbst erlangst du Befreiung.

Die Erfahrung des Selbst

Das persönliche Selbst ist nichts anderes als das Gemüt: als solches hat es seine Einheit mit dem wahren Selbst verloren und hat sich im eigenen Netz verstrickt. Daher ist sein Suchen nach dem Selbst als seinem eigenen ewigen und ursprünglichen Wesen, wie wenn ein Schäfer ein Lamm sucht, das er verloren wähnt, und trägt es dabei auf seinen Schultern.

Aber das Ich, das so sein Selbst vergessen hat, gelangt nicht gleich zur Befreiung, nämlich zum wirklichen Erlebnis des Selbst, wenn es das Selbst einmal gewahr wird; — da stehen lang an¬gesammelte Neigungen und Gewohnheiten des Gemüts hemmend im Wege, und häufig bringt es den Leib und das Selbst durcheinander und vergißt, daß es in Wahrheit das Selbst ist. Langgehegte Neigungen und Triebe wollen entwurzelt sein, das kann nur durch lange fortgesetzte Meditation geschehen: »ich bin nicht der Leib, bin nicht die Sinne, nicht das Gemüt ... — ich bin das Selbst.« Das Ich, d. h. das Gemüt, das nichts anderes ist als ein Bündel oder Komplex von Neigungen, Trieben, Gewohnheiten und den Leib für das Ich nimmt, muß gemeistert werden. Auf diesem Wege läßt sich der höchste befreite Stand erreichen: die wirkliche Erfahrung des Selbst, wenn man lange in gläubiger Hingabe das göttliche Selbst verehrt hat, das die wahre Wesenheit aller Götter ist. Diese Selbsterforschung vernichtigt das Gemüt und hebt sich schließlich selber auf, wie der Stock, mit dem man den Holzstoß anzündet und schürt, endlich selbst vom Feuer verzehrt wird. Das ist der Stand der Befreiung. »Selbst«, »Weisheit« oder »Er¬kenntnis«, »Innesein«, »das Unbedingte« und »Gott« bezeichnen ein und dasselbe.

Kann einer es zum hohen Beamten bringen, weil er einmal einen solchen gesehen hat? — nein, er muß sich aneignen, was die Stellung erfordert. Kann das Ich, das als Gemüt in Banden liegt, zum göttlichen Selbst werden, weil es einmal im Aufblitzen eines Blicks erfahren hat, es ist das Selbst? — muß es nicht erst ver

nichtigt werden? Kann ein Bettler König werden, weil er einmal bei einem König war und behauptet, er selber sei einer? — solange die Bande des Gemüts nicht zerschnitten sind dank langer anhaltender Meditation »ich bin das Selbst, das Unbedingte«, bleibt der jenseitige Stand der Seligkeit unerreichbar.

Ein Brahmane, der Schauspieler ist, vergißt nicht, daß er Brah¬mane ist, welche Rolle er auch spielt, — so sollte einer sich nicht mit seinem Leibe verwechseln, aber unerschütterlich gewahr sein, daß er Selbst ist, wie immer er sich betätigt, Das wird ihm offenbar, wenn das Gemüt in seinen ursprünglichen Stand aufgesogen wird, dann offenbart das Selbst sich von ganz allein und ist höchste Seligkeit, und man bleibt unbetroff en von Lust und Pein in seinem Gemüt, die der Berührung mit den Dingen außen entspringen. Auf alles blickt einer dann, ohne daran zu hangen, er ist wie im Traum. Regungen oder Gedanken wie »ist dies gut oder jenes?« dürfen gar-nicht mehr kommen, sie müssen im Aufsteigen an der Quelle vernichtigt werden. Nur eine kleine Weile genährt, stürzen sie dich, wie ein verräterischer Freund, kopfüber in den Abgrund. Kann das Gemüt, in seinem ursprünglichen Stande fest geworden, noch »Ich« fühlen oder ungelöste Fragen hegen? bedeutet dergleichen nicht in sich selbst Bindung und Fessel?

Steigen solche Regungen auf Grund ererbter Bereitschaften auf, muß man das Gemüt davon wegbiegen, sie zu nähren, und zu seinem wahren Stande zurücklenken, und dazu gleichgültig sein gegen alles Aeußere und sich nicht damit befassen, Steigen diese Regungen nicht aus SELBST-Vergessenheit auf und bringen immer neuen Jammer über uns? Die unterscheidende Vorstellung »ich bin's nicht der handelt, alle Handlungen sind Antworten des Leibes, der Sinne, des Gemüts auf ein Draußen« ist eine Hilfe, um das Gemüt einwärts zu kehren, wenn die Neigung, zu seinem ur¬sprünglichen Stande heimzufinden, ihm schon ein Gleis gefurcht hat und seine Regungen in diesem Gleis verlaufen, aber dieser unterscheidende Einhalt soll dem Gemüt nur geboten werden, wenn es dem Spiel von Regungen und Vorstellungen schon ver

fallen ist. Kann anderseits das Gemüt, sonder Wank auf das göttliche Selbst geheftet und inmitten äußerlicher Betätigung völlig unberührt davon, sich Vorstellungen überlassen wie »ich bin der Leib, ich bin mit dieser Tätigkeit befaßt« oder mit der unter¬scheidenden Vorstellung »ich bin's nicht, der handelt, diese Hand¬lungen sind nur Antworten des Leibes, der Sinne, des Gemüts auf etwas draußen«?

Schritt vor Schritt muß man mit allen Mitteln des Selbst gewahr zu werden trachten, ohne Ablenkung des Gemüts; ist das gelungen, ist alles gewonnen. Man muß dem Selbst innewohnen, ohne das Gefühl, irgendwie handelnd zu sein, auch wenn man Aufgaben vollziehen muß, die das Schicksal einem zugebracht hat, und man dabei schafft wie ein Verrückter. Haben nicht viele Fromme Unglaubliches an tätigem Leben vollbracht und waren dabei voll eben dieser vollkommenen Gleichgültigkeit und voll fester gläubiger Hingabe?

Das höchste Wesen ist das Selbst

Wenn einer auf sich selber weisen will, deutet er mit dem Finger auf die Brust: diese Gebärde besagt genug dafür, daß das Unbedingte als das Selbst in Jedes Herzen wohnt. Der Heilige Vasishthal sagt auch: wenn einer nach dem Selbst sucht, als wäre es außerhalb, und vergißt, daß es ständig als »ICH-ICH« in seinem Herzen strahlt, ist er wie einer, der ein köstliches Kleinod wegwirft und gierig nach einem glitzernden Kiesel langt.

Wenn das Gemüt, das den Leib für das Selbst nimmt, nach innen ins Herz hineingebogen und das Ichgefühl, das am Leibe hängt, verlassen wird, hebt ein Fragen an, bei dem ein still-gewordenes Gemüt im Einklang mit dem Selbst ist und fragt: wer ist es, der im Leibe innen wohnt? Dann wirst du eine feine zarte Erleuchtung »ICH-ICH« drinnen erfahren; sie ist nichts anderes als das Unbedingte, das Selbst, das im Lotos deines Herzens wohnt, in der Stadt des Leibes, im Altarschrein Gottes.

Dann sollst du dich stille halten und wissen, daß das Selbst als alle Dinge und doch kein Ding erstrahlt, innen und außen und aller¬wärts, und daß es auch das jenseitige Wesen ist. Dies gilt als die Meditation, die durch das Wort »ich bin Shiva« (Shivo 'ham) vermittelt wird: »ich bin das Höchste Wesen«, — das heißt auch der »Vierte Stand«, Was noch jenseits dieser feinen zarten Erfahrung liegt, ist Gott, das jenseitige Wesen, vielfältig benannt: »Der Stand jen-seits des Vierten Standes« (turîya-atîta), — das »allgegenwärtige höchste Wesen«, das als Kern der göttlichen Lichtflamme in uns strahlt, von dem es heißt, es entfaltet sich in Sammlung und Meditation, — die »Weite des Herzens«, — das »reine Innesein«, — »das Unbedingte«, strahlend am inneren Himmelszelt des Gemüts, — »Seligkeit«, — »Selbst«, — »Weisheit«.

Kraft langanhaltender ständiger Uebung der Meditation über das Selbst: »ich bin das Höchste Wesen« löst sich der Schleier des Nichtwissens im Herzen auf und mit ihm alle Hemmnisse in seinem Gefolge, und vollkommene Weisheit stellt sich ein. Erkennst du so, daß das Wirkliche dir in der Höhle des Herzens wohnt, im Altarschrein deines Leibes, so erlebst du wahrhaft die Wirklichkeit des Unbedingten, das allem innewohnt, denn Leib und Herz umschließen alles was ist. Das bestätigen die heiligen Schriften: »der Weise weilt selig in der Stadt mit den neun Toren (d. h. im Leibe)«, und »der Leib ist der Tempel, das Selbst ist das Unbedingte«. Wenn Gott ver¬ehrt wird in Gedanken »ich bin das Höchste Wesen«, tritt Befreiung ein. Die Höhle ist der Leib mit den fünf Schalen, die Höhle ist nichts anderes als das Herz, Das jenseitige Wesen, das drin wohnt, ist der Herr der Höhle.«

Dies Verfahren, das Unbedingte in seiner Wirklichkeit zu erleben, gilt als die »feine Wissenschaft« (daharâ vidyâ), als intuitive Erkenntnis des Herzens, Was bleibt zu sagen? — erlebe es gerade¬zu in unmittelbarer Erfahrung!

Das weltumspannende Wesen, das der Beziehung zwischen den Vorstellungssphären »Innen« und »Außen« zugrunde liegt, ist der wahre Gehalt des Wortes »Gemüt«, Leib und Welt, die uns als außen erscheinen, sind Spiegelungen des Gemüts, das Herz bringt all diese Gestalten hervor, Im innersten Kern des allesumfassen¬den Herzens, das heißt: in der Weltraumweite des reinen Gemüts, strahlt das in sich selber leuchtende ICH in steter Helle, Jedermann offenbar heißt es das allgegenwärtig-allwissende»zuschauende Auge«, der unberührte »Zeuge« oder der »Vierte Stand« (turîya) jenseits Wachen, Traumschlaf, traumlos tiefem Schlaf. Es liegt diesen dreien zugrunde und ist jenseits von ihnen.

Die Weite der Unendlichkeit ist die Wirklichkeit, die als der Höchste Geist oder das Selbst erkannt wird, ohne Ich-Sinn als reines Innesein im Ich erstrahlend als das Eine in allen Wesen. Was jenseits des »Vierten Standes« ist, ist nichts als dieses, Medi¬tiere darüber, daß das Wirkliche: die Weite unbedingten Inne-seins alldurchdringend innen strahlt und ohne die Erleuchtung des »Vierten Standes«, — so wie der Weltraum den inneren blauen Schein einer Kerzenflamme erfüllt und zugleich die unendliche Weite ringsum. Der wahrhafte Stand ist der allumfassend strahlende, wie der Raum die Flamme umschließt und sich grenzenlos nach allen Seiten breitet. Kümmere dich nicht um das Licht der Flamme, — laß dir genügen, zu wissen: das Wirkliche ist der Stand ohne Ich.

Persönliches Selbst und Befreiung Laut den heiligen Schriften gibt es ein Wesen, »Gemüt« be-nannt, das sich aus der feinen Essenz der Nahrung aufbaut. Es blüht und gedeiht als Liebe und Haß, Sinnenlust, Verlangen und Zorn und andere Gefühle. Es ist die umfassende Einheit von Gefühl, Verstand, Gedächtnis, Wille und Ich. Bei all diesen mannig¬fachen Aspekten trägt es den umfassenden Namen »Gemüt«, Es wird uns zum Gegenstand wie leblose Dinge außen, wenn wir ihrer innewerden, Es ist selber fühllos, erscheint aber als fühlend, wenn es mit dem Innewerden in Berührung tritt, wie eine rotglühende Eisenkugel, in der die Glut das Eisen durchdringt, als feurig erscheint. Es hat die Eigenschaft, sich in vielerlei zu verwandeln, es ist in sich verfließend und besteht in Teilen, die alle mögliche Gestalt annehmen können, so wie sich Gold, Wachs oder Lack in vieler¬lei Gestalt bringen lassen, Es ist die Grundlage aller wurzelhaften Wesenheiten (tattva: Das-heiten, So-seins-heiten), aus deren wech¬selnder Mischung sich die fünf Elemente und aus diesen alle Erscheinungen aufbauen.

Es wohnt im Herzen, wie die Sehkraft im Auge und das Hören im Ohr. Es gibt dem persönlichen Selbst sein Wesen. Wenn es einen Gegenstand vorstellt, der bereits mit dem Innewerden in Berührung ist und im Hirn gespiegelt wird, so nimmt es dessen Gestalt an als Vorstellung, Gedanke, Regung und steht in Be¬ziehung zu dem äußeren Gegenstand durch die fünf Sinne vermittels des Gehirns. Dann eignet es sich das Wahrgenommene zu mit dem Gefühl: »ich genieße dieses und jenes«, genießt den Ge¬genstand und findet seine Befriedigung daran. Zu denken, ob etwas gut zu essen sei, ist eine gedankliche Gestalt, die das Gemüt in einer seiner unablässigen Selbstverwand¬lungen annimmt. »Das ist gut — oder nicht gut, das kann man essen oder nicht«, solche unterscheidenden Meinungen machen den unterscheidenden Verstand aus. Das Gemüt allein bildet das wur¬zelhafte Wesen, das sich als einzelne Person (Individuum) dar¬stellt oder als Gott und als Welt.

Wenn das Gemüt vom Selbst als reinem Innesein aufgesogen wird, in ihm untergeht und sich auflöst, so ist das die schließliche Erlösung, »kaivalya« (Integration) genannt: das ist Brahman, das Unbedingte, das höchste Wesen.

Die Sinne liegen nach außen und helfen zur Erkenntnis der äußeren Dinge, das Gemüt ist innen, es ist der innere Sinn. Innen und Außen gelten nur vom Leibe her, dem Unbedingten in uns meint beides nichts. Um anzudeuten, daß die ganze Dingwelt innen und nicht außen sei, lehren die heiligen Schriften, das Weltall habe die Gestalt des lotoskelchförmigen Herzens. Das Herz aber ist das Selbst.

Die Wachskugel des Goldschmieds birgt feine Teilchen Goldes in sich, wirkt aber wie ein bloßer Wachsklumpen, So gewahren die im Dunkel ahnungslosen Nichtwissens Versunkenen, vom all¬umfangenden Schleier der Mâyâ umsponnen, bloß ihr Nichtwissen in ihrem Lebensschlaf, Aus Nichtwissen entsprang das Ich, der feinstoffliche Leib (subtle body). Dieses Gemüt muß in das Selbst verwandelt werden, es ist nichts anderes als die Ich-Vorstellung; Gemüt und Ich sind dasselbe. Verstand und Wille, Ich und Persönlichkeit bilden zusammen ein und dasselbe Gemüt, sind wie ein und derselbe Mensch, der je nach seinen verschiedenen Betäti¬gungen und Beziehungen (in Beruf und Gesellschaft, Familie und Verwandtschaft) verschieden benannt wird, Zusammen mit dem Ich tritt das Gemüt in Erscheinung, vereint mit dem Spiegelbild des Selbst. Ich und Selbst sind so untrennbar voneinander wie bei einer rotglühenden Eisenkugel Glut und Kugel. Es ist kein anderes Selbst, das dem Ich als unberührter Zeuge zu¬schaut, als das persönliche Ego, das sich als Ich betätigt, d. h. als das Gemüt, in dem das Innesein des Selbst sich spiegelt, Eben dasselbe Selbst leuchtet unberührt im Herzen und ist grenzenlos wie der weite Raum. Wie die Glut der glühenden Kugel unberührt bleibt von den Hammerschlägen des Schmiedes, die auf die Gestalt der Kugel treffen und sie verändern, treffen die Schläge des Lebens in Lust und Qual das Selbst ebensowenig.

Das Selbst ist Licht aus sich selbst im Herzen als reines Sich-selbst-Innesein, einig ohne ein anderes neben sich, Es offenbart sich weltweit als ein und dasselbe in allen Wesen und wird der Höchste Geist genannt. »Herz« ist nur ein anderes Wort für diesen, weil ER in aller Herzen ist, Die rotglühende Eisenkugel ist die Individuation, die Glut in ihr das still zuschauende Selbst, das Eisen ist das Ego. Reines glühendes Licht ist der Höchste Geist, allem inne und alles gewahrend.

Das persönliche Selbst wohnt, wenn der Mensch wach ist, in seinem Auge; schläft er und träumt, im Nacken (medulla oblon¬gata), während des traumlos tiefen Schlafes wohnt es im Herzen. Das Herz aber ist die höchste dieser Stätten, daher verläßt das persönliche Selbst das Herz nie ganz, Anderseits heißt es abweichend, der Nacken sei der Sitz des Verstandes und das Herz die Stätte für den Gesamtkörper des Ich. Aber die heiligen Schrif¬ten lehren bündig, das Herz sei der Sitz der Gesamtheit innerer Kräfte, die das Gemüt ausmachen. Die Weisen, die allen ver¬schiedenen Auffassungen in zahllosen heiligen Schriften nach¬gegangen sind, haben knapp und treffend die ganze Wahrheit dahin zusammengefaßt, es sei jedermanns Erfahrung, daß das Herz der ursprüngliche Sitz des Ich ist.

Der Schleier des Nichtwissens kann das persönliche Ich nie ganz verhüllen, auch die in Nichtwissen Befangenen sprechen vom Ich, aber der Schleier verhüllt die Wirklichkeit »ich bin das Selbst«, er verhüllt das Ich als reines Innesein, und so wird das Ich mit dem Leibe verwechselt, aber er kann das Selbst nicht so völlig verhüllen, daß man nicht darum wüßte. Das Gemüt ist im Grunde nichts anderes als Gewahrsein; von Haus aus ist es rein und durchsichtig, aber in diesem reinen Stande kann es nicht »Gemüt« heißen. Das fälschliche Gleichsetzen eines Dinges mit einem anderen ist das Werk des getrübten Gemüts.

Rein und ungetrübt ist das Gemüt vollkommenes Gewahrsein, aber seines ursprünglichen Wesens vergessend, wird es von der Eigenschaft dumpfer Dunkelheit (tamas) überwältigt und entfaltet sich als physische Welt, Desgleichen wird es von der Eigenschaft leidenschaftlicher Bewegtheit (rajas) überwältigt und setzt sichselber mit dem Leibe gleich und erscheint in der entfalteten Welt als Ich und nimmt sich selber für wirklich. Und von Liebe und Haß getrieben verübt es Gutes und Schlimmes und wird demzufolge im Kreislauf der Geburten und Tode befangen. Aber die Eigenschaft der lichten Klarheit (sattva) ist das wahre Wesen des Gemüts; die Klarheit des lauteren Firmaments bezeichnet die Weite des Gemüts.

Angestachelt von der leidenschaftlichen Bewegtheit (rajas) wird das Gemüt rastlos; unter der Einwirkung der dumpfen Dunkelheit (tamas) erscheint es als die physische Welt. Wird das Gemüt sa einerseits rastlos und schlägt sich anderseits als undurchdringliche Stofflichkeit nieder, dann ist das Wirkliche als solches nicht mehr zu erkennen. Feine Seide läßt sich nicht mit grobem Schiffchen weben, die zarten Töne einer Malerei sind nicht beim Schein einer im Winde flackernden Lampe zu unterscheiden, — so ist die Erfahrung der wahren Wirklichkeit nicht möglich, wenn das Gemüt durch dumpfe Dunkelheit (tamas) grob und stumpf und durch leidenschaftliche Bewegtheit (rajas) rastlos und unstät geworden ist, Denn die Wahrheit ist überaus zart und fein und von erhabener Lauterkeit.

Das Gemüt kann von seinen Unreinigkeiten nur durch verlangensloses Erfüllen aller menschlichen Pflichten in mehr als einem Leben geläutert werden, wenn einer den würdigen Meister findet, von ihm lernt und unablässig über das Höchste meditiert. Die Selbstverwandlung des Gemüts in die Welt regloser Stofflichkeit dank seiner dumpfen Dunkelheit und seiner Rastlosigkeit auf Grund leidenschaftlicher Bewegtheit finden dann ihr Ende, es gewinnt seine Feinheit und gesammelte Ruhe wieder. Die Seligkeit des reinen Selbst kann sich nur in einem Gemüt entfalten, das fein und stet geworden ist dank ständig geübter Meditation, Wer diese Seligkeit in sich erfährt, ist »bei Lebzeiten erlöst« (jivan-mukta).

Wird das Gemüt durch ständige Meditation seiner dumpfen Dunkelheit und leidenschaftlichen Bewegtheit entkleidet, so wird sich die Seligkeit des Selbst im fein und zart gewordenen Gemüt mit großer Klarheit offenbaren. Dank dieser Weitung des Gemüts ins Grenzenlose erlangen die Yogin Allwissenheit. Nur wer sein Gemüt zu dieser Feinheit gebracht und die Wirklichkeit des Selbst erfahren hat, ist »bei Lebzeiten erlöst«. Die »Râma-Gîtâ« nennt diesen Stand das »eigenschaftslose Brahman«, das einige weltweite, zu keiner Unterschiedlichkeit entfaltete Geistige.

Wer aber den unwandelbaren ewigen Stand, der jenseits davon liegt und über Gedanke und Wort hinaus ist, erlangt hat, heißt »leiblos erlöst« (videha-mukta). Wenn nämlich das feine Gemüt vernichtigt ist, so hat damit die Erfahrung der Seligkeit durch das individuelle Subjekt gleichfalls ihr Ende. Es ertrinkt im bodenlosen Meer der Seligkeit und löst sich darin auf, eines mit ihm, und wird nichts mehr gewahr. Das ist »leiblose Erlösung« (videhamukti), Ueber diesen Stand hinaus ist nichts: er ist das Ende. Indem man länger anhaltend dem Selbst innewohnt, wächst die Erfahrung: »ich bin der Höchste Geist«; sie wird geläufig. Ent¬sprechend verlöschen die Rastlosigkeit des Gemüts und die Vor¬stellung der Welt.

Weil kein Erlebnis ohne das Gemüt möglich ist, wird die Wirklichkeit des Selbst durch das feine Gemüt erfahren, Da nun »leib¬lose Erlösung« (videha-mukti) die völlige Auflösung auch des feinen Gemüts im bodenlosen Meer reiner Seligkeit bedeutet, entzieht dieser Stand sich der Erfahrung. Es ist der schlechthin jen¬seitige Stand. »Ich bin nicht der Leib, bin rein Geistiges« ist die klare, zweifelsfreie Erfahrung des »bei Lebzeiten Erlösten« (jîvan-mukta). Solange das Gemüt nicht restlos vernichtigt ist, besteht immerhin die Möglichkeit, daß einer unglücklich wird, weil ihm gelegentlich begegnet, was ihm aus früher ausgesponnenem Schicksal (prârabdha karman) zureift. Ueberdies hat er nicht das unwandelbare ewige Seligsein erfahren, da sein Gemüt nicht völlig erloschen ist.

Die Seligkeit der Befreiung bei Lebzeiten ist nur bei einem Gemüte möglich, das fein und lauter geworden ist in langer andauernder Meditation.

Siehe auch


Literatur

  • Der Weg Zum Selbst von Heinrich Zimmer, Rascher Verlag Zürich, 1944, 1. Auflage

  1. Bhagavadgita: Das Lied der Gottheit in der Übersetzung aus dem Sanskrit von Robert Boxberger
  2. Bhagavadgita in der Übersetzung aus dem Sanskrit von Leopold von Schroeder
  3. Bhagavadgita, Sechster Gesang, Vers 6 in der Übersetzung aus dem Sanskrit von Robert Boxberger
  4. Bhagavadgita, Sechster Gesang, Vers 32 in der Übersetzung aus dem Sanskrit von Robert Boxberger