Sanskrit Kurs Lektion 71

Aus Yogawiki

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.

Das Indefinitpronomen (4)

In den Lektionen 68 bis 70 haben wir das Indefinitpronomen behandelt. Der folgende Beispielvers enthält ein solches Indefinitpronomen.

Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein Vers aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Der 61. Vers steht im Kontext der Absorption (Laya) des Geistes (Manas) in das Selbst.


मनोदृश्यमिदं सर्वं यत्किञ्चित्सचराचरम् |
मनसो ह्य् उन्मनीभावाद् द्वैतं नैवोपलभ्यते || ४.६१ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
manodṛśyam idaṃ sarvaṃ yat kiñcit sacarācaram |
manaso hy unmanībhāvād dvaitaṃ naivopalabhyate || 4.61 ||


  • vereinfachte Transkription:
manodhrishyam idam sarvam yat kinchit sacharacharam |
manaso hy unmanibhavad dvaitam naivopalabhyate || 4.61 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
mano-dṛśyam : (ist) etwas durch den Geist (Manas) sichtbares, erschaubares, wahrnehmbares (Drishya, Nom. Sg. n.)
idam : diese (Welt, Idam, Nom. Sg. n.)
sarvam : ganze (Sarva, Nom. Sg. n.)
yat kiñ-cit : was (Yad) auch immer ("irgend etwas", Kinchid, Nom. Sg. n., Indefinitpronomen)
sa-carācaram : samt (Sa) den beweglichen und unbeweglichen (Dingen, Charachara, Nom. Sg. n.)
manasaḥ : des Geistes (Manas, Gen. Sg. n.)
hi : doch (Hi, indekl.)
unmanī-bhāvāt : aufgrund des Zustandes jenseits des Geistes (Unmanibhava)
dvaitam : Dualität ("Zweiheit", Dvaita, Nom. Sg. n.)
na : nicht (mehr, Na, Partikel)
eva : gewiss, gar (Eva, Partikel)
upalabhyate : wird wahrgenommen (upa + labh, Verb)


  • Übersetzung:
Diese ganze Welt, samt den beweglichen und unbeweglichen Dingen, was auch immer es sei, ist nur ein durch den Geist wahrnehmbares Objekt,
doch infolge des Zustandes jenseits des Geistes wird Dualität (also die Welt) überhaupt nicht mehr wahrgenommen.

Erläuterungen

  • Der Nominativ (Prathama) mano-dṛśyam "etwas durch den Geist Wahrnehmbares" ist ein Kompositum (Samasa) vom Typ Tatpurusha und bezieht sich auf das Demonstrativpronomen idam. Das Kompositum besteht aus zwei Gliedern: manas (Manas "Geist") und dṛśya (Drishya "sichtbar, Objekt").
  • Das Demonstrativpronomen idam "dieses" meint hier "diese Welt". Die Verbform "ist" wird hier im Sanskrit mitverstanden, da es sich um einen sogenannten Nominalsatz, d.h. einen Satz (Vakya) ohne finite Verbform, handelt.
  • Das Adjektiv sarvam bezieht sich auf Demonstrativpronomen idam und steht daher ebenfalls im Nominativ Singular Neutrum.
  • Das Relativpronomen yat "was" bezieht sich ebenfalls auf das Demonstrativpronomen idam und steht daher gleichfalls im Nominativ Singular Neutrum.
  • Das Indefinitpronomen kiñ cit "(irgend) etwas" bezieht sich auf das Relativpronomen yat und steht daher ebenfalls im Akkusativ Singular Neutrum.
  • Das Adjektiv sa-carācaram bezieht sich ebenfalls auf das Relativpronomen yat und steht daher gleichfalls im Akkusativ Singular Neutrum. Es ist ein Kompositum vom Typ Bahuvrihi und besteht aus drei Gliedern: sa (Sa "mit, samt"), cara (Chara "beweglich") und acara (Achara "unbeweglich"), wobei die beiden letzten Glieder für sich genommen bereits ein eigenständiges Kompositum carācara (Charachara "beweglich und unbeweglich") vom Typ Dvandva bilden.
  • Das Indeklinable (Avyaya) hi steht hier im Sinne der Konjunktion "doch".
  • Der Ablativ (Panchami) unmanī-bhāvāt bezeichnet hier eine Ursache. Es handelt sich hierbei um ein Kompositum vom Typ Tatpurusha, das aus zwei Gliedern besteht: unmanī (Unmani "jenseits des Geistes") und bhāva (Bhava "Sein, Zustand").
  • Der Nominativ dvaitam ist das logische Objekt (Karman) der Verbalhandlung upalabhyate.
  • Die Verbform upalabhyate ist die 3. Person Singular Passiv der Gegenwart der Verbalwurzeln (Dhatu) labh "erhalten, erlangen", die in Verbindung mit dem Verbalpräfix (Upasarga) upa "wahrnehmen" bedeutet.
  • Sandhi: Die Formen mano- und manaso stehen für manaḥ- und manasaḥ, da auslautendes -aḥ vor stimmhaftem Konsonant (hier: d bzw. h) zu -o wird, auch in Komposita. Die Endung m von idam, sarvam und dvaitam geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara () über. Die Form kiñ cit (alternative Schreibung: kiṃ cit) steht für kim cit, da m vor einem Konsonanten zu Anusvara () bzw. zum entsprechenden Klassennasal (hier ñ vor palatalem c) wird. Gleichartige Vokale (Svara) verschmelzen am Wortende und -anfang sowie in Komposita zu einem Langvokal: a + a wird zu ā in sa-carācara (sa + cara + acara). Die Form hy steht für hi, da ein auslautendes i vor Vokal zum Halbvokal (Antahstha) y wird. Die Form °bhāvād steht für °bhāvāt, da ein auslautendes t vor stimmhaftem d ebenfalls stimmhaft wird. Ein auslautendes a verschmilzt mit anlautendem e zu ai und mit anlautendem u zu o: naivopalabhyate (na + eva + upalabhyate).


Metrische Analyse des 1. und 2. Pada

Betrachten wir das erste (Prathama) und zweite (Dvitiya) Versviertel (Pada) dieses Shloka noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal, oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:


Silbe 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
Devanagari नो दृ श्य मि दं र्वं त्कि ञ्चि त्स रा रम्
Transliteration ma no dṛ śya mi daṃ sa rvaṃ ya tki ñci tsa ca ca ram
Silbenlänge kurz lang lang* kurz kurz lang* lang* lang lang* lang* lang* kurz kurz lang kurz lang
Symbol υ υ υ υ υ υ


Hinweise zur Aussprache: Alle acht Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten. Die Positionslänge der 3. und 7. Silbe (Pada 1) bzw. der 1., 2. und 3. Silbe (Pada 2) ergibt sich durch die Aufteilung in dṛś-ya und sar-vaṃ bzw. yat-kiñ-cit-sa.


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