Sankhya-Philosophie

Aus Yogawiki

Subjektives über den Aufbau der Sankhya- + Yoga- Philosophie

Was mich bisher immer verwirrt hat, ist im Sankhya die Trennlinie der Gunas, die zwischen belebter Materie und unbelebter Materie trennt, und zwar über die Eigenschaften Trägheit, Unruhe und Reinheit. Sie passt einfach nicht in die Gesamtheit der Beschreibung, wenn sie die Schöpfung beschreiben soll, hinein. Da gibt es in meinem Empfinden einen logischen Bruch. Ein weiteres Defizit sehe ich in der Eingliederung von Brahman, das wie auf das Schaubild einfach aufgesetzt wirkt und irgendwie nicht so recht in die gottlose Philosophie des Sankhya passen will. Das System erscheint zutiefst pessimistisch in negativem Sinne und vollkommen auf ein „Ende vom Rad der Wiedergeburt“ bezogen, verneint das Leben selbst und gibt für dieses Leben jetzt keine Perspektive. Ich möchte nachfolgend versuchen, diese Brüche bzw. Widersprüche zu verbinden bzw. zu kitten. Sankhya nennt sich selbst eine Aufzählung, eine Gliederung der Welt. Die Welt kann aber nur von einem Menschen gegliedert werden, der nicht in Abhängigkeit steht von den Organen seiner Wahrnehmung, die ihm das Bild der Welt vermitteln. Weiterhin entstand diese Gliederung in einer Zeit, in der dieser Mensch über keinerlei Technik verfügte, die nicht-sinnlich wahrnehmbare Phänomene zu messen und zu beschreiben vermochte. Weiterhin stand dieser Mensch in der Befangenheit seiner Kultur und seines Glaubens, die eine größere Macht als er selbst (Atman-Brahman) als weltanschauliche Grundansicht postulierten. So erklärt sich auch der Aufbau dieser Systematik, der entgegen der Evolutionstheorien heutiger Tage eine Differenzierung von „oben“ nach „unten“, also von Gott zur Materie vorschreibt. Wie ich überraschender Weise feststellen durfte, teilt Paul Deussen in seinem Werk „Philosophie“ in Band 2 zum Abschluss der Besprechungen über die Upanishaden diese Ansicht über den Sankhya und erklärt: Für den sekundären Charakter der Heilslehre des Sankhyasystems zeugt auch der in ihr herrschende Pessimismus. … Ihren Höhepunkt erreicht diese pessimistische Strömung im Sankhyasystem, für welches die ganze Philosophie nur eine Forschung nach der Ursache der Abwehr der dreifachen Schmerzen ist. Ein solcher Standpunkt ist überall, wo er in der Philosophie auftritt, ein Symptom der Ermüdung. Ursprünglich wurzelt die Philosophie in dem reinen Triebe nach Erkenntnis und kennt keinen anderen Zweck als die Erforschung der Wahrheit. Erst nachdem dieser Trieb erlahmt ist, wird die Philosophie zu einem reinen Mittel zum Zweck, zu einem „remedium“ (gesetzlich erlaubtes Hilfs- oder Heilmittel) der Leiden des Daseins: so in Griechenland in den nacharistotelischen Schulen; so in Indien im Sankhyasystem und im Buddhismus. (Zitat aus Deussen, Geschichte der Philosophie, Bd 1.2, Seite 229-230) Betrachtet man die Einteilung (Gliederung) des Systems einmal unbedarft und offen, findet sich schnell der Gedanke wieder, dass diese Beschreibung mit der wahrgenommenen Wirklichkeit schlecht übereinstimmt:

  • Wie kommt es, dass aus einer Eigenschaft (guna) des „Ich“ die materielle Welt entstehen soll, während aus einer weiteren dieser Eigenschaften die geistige Welt entsteht?
  • Warum sind die Organe des Handelns mehr der geistigen Welt zugeordnet? • Warum sind die Sinne der geistigen Welt zugeordnet, spielen aber in der materiellen Welt, die sie wahrnehmen, keine deutliche Rolle? Wir können diese Fragen weiter und weiter stellen, sie beantworten sich nicht, solange wir das System als eine Beschreibung der Welt betrachten. Auch die Versuche, in idealistischer Weise die beschriebene Welt als eine geistige zu betrachten, hält einer intensiven Hinterfragung nicht stand. Erst wenn der Sankhya als eine Beschreibung des Bewusstseins aufgefasst wird, das der Mensch entwickeln konnte, bekommt die Gliederung einen gewissen Charme.

Die Sankhya-Philosophie als Beschreibung des menschlichen Bewusstseins

Betrachten wir unser Bewusstsein etwas genauer: Als Bewusstsein betrachten wir die seltsame Tatsache, dass wir uns der Möglichkeit bewusst werden, uns selbst wahrzunehmen. Wir werden uns sozusagen bewusst, dass wir bewusst sein können. An und für sich ist das eine unmögliche Formulierung, ein Ringschluss sozusagen, und doch ist diese Unmöglichkeit die richtige Beschreibung unserer Wirklichkeit, mit der wir uns konfrontiert sehen. Das ist nicht einfach zu verstehen, nicht einfach zu beschreiben, und daher auch nicht einfach zu erleben. Ich wundere mich daher immer wieder, dass Probleme dieser Komplexität zu mit sehr einfachen und simplen Beschreibungen gelöst werden sollen. Der Mensch, der Bewusstsein in sich entdeckt, wird doch mit der Tatsache, bewusst sein zu können, unmittelbar konfrontiert. Es ist also bereits da. Er wird hinein geworfen in dieses Wissen, und er/sie kann sich nicht entscheiden, ob er/sie Bewusstsein haben möchte oder nicht. Das heißt doch nichts anderes als dass wir lernen müssen mit Bewusstsein zu leben. Jeder Mensch steht vor dieser Aufgabe, und diese ist nicht einfach, wie wir an unseren (besonders den pubertierenden) Kindern immer wieder feststellen können. Normalerweise wird Bewusstsein als Fähigkeit betrachtet, sich zu erinnern, zu lernen, Vorstellungen zu entwickeln und umzusetzen usw. Aber seien wir einmal ehrlich. Kann das z.B. ein Löwe nicht auch? Lernt er nicht zu jagen, die Abwehr seiner Opfer vorauszuschauen und zu umgehen, erinnert er sich nicht auch daran, dass ein Beutetier leichter zu jagen ist und vielleicht auch noch besser schmeckt als ein anderes? Und weiß er nicht, wo er Wasser findet auch in trockenen Zeiten? Und weiß er nicht, dass auch er als König der Tiere Feinde wie Giftschlangen oder Elefanten hat, die ihm gefährlich werden können, wenn er sich diesen unbedarft nähert? Worin unterscheidet sich also das typisch menschliche Bewusstsein von dem des Löwen? Meiner Ansicht nach liegt der wesentliche Unterschied darin, das sich der Mensch eines Gefühles erinnern kann und daraus direkt Handlungen und Strategien ableitet, dieses Gefühl wieder zu erlangen oder zu vermeiden. Eine Löwenfamilie dagegen wird in Tierfilmen häufig schlafend unter einem Baum gezeigt, satt nach vollbrachter Jagd und so friedlich, dass sich selbst die typischen Beutetiere wie Gnu und Zebra sich in ihre Nähe wagen. Würden Menschen das auch so tun? Nein, eigentlich nicht. Der Mensch würde sich des letzten Hungers erinnern und schon mal vorsorglich ein Beutetier erlegen, denn Hunger ist unangenehm und sollte vermieden werden und die Chancen stehen doch auch gerade günstig, so von Gnu und Zebra umringt. Und die Folgen dieser Handlung sind doch absehbar. Vermeidungs- und Erlangungsstrategien für Gefühlszustände sind die Äpfel vom Baum der Erkenntnis, die uns aus dem Paradies katapultiert haben. Nicht das Jagen einer Beute, nicht die Faulenzerei unter einem Baum, sondern vorausschauendes Handeln ist die „Sünde“. Kommen wir zurück zum Sankyhasystem. Setzen wir diese Erkenntnis ein, so finden wir uns noch immer nicht in einer Klärung der oben benannten Fragen wieder! Wir müssen vielmehr noch einen Schritt weiter gehen und uns vergegenwärtigen, das wir uns nicht im Bewusstsein wieder finden, sondern richtiger gesagt im „Bewusstsein des Bewusstseins“. Diese zweite Formulierung sozusagen als Ableitung eingesetzt in das System, ergibt eine andere Beschreibung: Der Mensch findet sich im „Ich“-Bewusstsein wieder, und je nach Tiefe seiner Erkenntnis lebt er dieses „Ich“ in grober, träger Form (tamas), in bewegter oder lebendiger Form (rajas) oder lichter oder selbstbewusster Form (sattwa). Selbstbewusst heißt hier, sich seines Bewusstseins und dessen Auswirkungen bewusst zu sein; lebendig heißt hier, diese Auswirkungen in Maßen zu halten; und grob und träge heißt, sich dieser Auswirkungen gar nicht oder nur begrenzt bewusst zu sein. In sattwiger und rajasiger Form ist der Mensch sich der Gefahren der Sinnes- und Handlungsorgane bewusst und hält sie in Grenzen, in tamasiger Form lebt er diese unhinterfragt oder unbewusst und ist ihnen damit ausgeliefert in all ihren negativen Folgeerscheinungen, die sich in natürlicher Weise auch einstellen werden. Tamas ist damit ein Ausgeliefertsein an die Regeln der Natur (Hunger, Tod, Krankheit) und diese bewusst zu erleben (Leiden). In der zunehmend sattwigen Bewusstseinshaltung, die über rajas (die Bewegung, die Veränderung, das Lernen) führt erkennt der Mensch die in ihm wohnenden Kräfte und Gefahren und verhält sich zunehmend so, dass deren Auswirkungen nicht ins Leiden führen. Wünsche, Werturteile und Dogmen werden zurückgewiesen und es wird eine freiere, aber immer auch bescheidenere Lebensführung gewählt. Unsere westliche Philosophie würde das nach Kantscher Definition als ein Leben in Vernunft bezeichnen. Vernunft in indischen Systemen nennt sich Buddhi. Ein Leben in Buddhi (Vernunft) kennt kein rücksichtsloses Ich. Das negative Ich zu überwinden und zur Buddhi zurückzukehren ist also die Rückkehr ins Paradies, von der die mystischen, spirituellen Traditionen erzählen. Daher gibt es darin diese Feindschaft zum Ich, diese Feindschaft zum Ego! Meiner Ansicht nach sind wir heute nicht mehr in der Lage, diese Rückbesinnung zu erreichen. Zu tief sind wir hineingezogen ins Bewusstsein unserer selbst und der Erkenntnis darüber. Was bleibt, ist der Weg durch die Dunkelheit des Halbwissens hindurch (durch die tiefe Nacht der Seele nach Eckhard oder durch das dunkle Zeitalter der Hindus) zu gehen in der Hoffnung, danach oder drüben Licht (Buddhi, Samadhi, Satori) zu finden. Dieser Weg ist Yoga. Im Sankhyasystem ist er der Übergang in den Gunas von tamas mittels rajas zu sattwa. Letztlich gesehen jedoch liegt das Ziel eines modernen Yoga jenseits der Gunas bzw. in deren Überwindung. So entsteht aus der Nacht, in der wir uns zu befinden glauben, letztlich erst der Tag des Erwachens; so wie der Tag die Existenz der Nacht erst begründet.