Philosophie

Aus Yogawiki
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Die philosophischen Systeme

Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906, S. 19 - 26.

Parallel mit diesen Fortbildungen der Vedalehre entstanden schon früh in Indien aus den in den Brahmanas und älteren Upanishaden enthaltenen Keimen nebeneinander eine ganze Reihe philosophischer Systeme, welche in mannigfacher, teils sich anlehnender, teils bekämpfender [Beziehung] zum Veda wie zueinander stehen, und in denen wir alle Schattierungen einer philosophischen Anschauung der Welt von dem krassen und zynischen Materialismus der Carvakas an bis hinauf zum orthodoxen Glauben an das Vedawort verfolgen können. Sechs unter ihnen wussten das Ansehen der Orthodoxie, d. h. der Vereinbarkeit ihrer Lehren mit dem Vedaglauben oder den Schein derselben zu erringen; die übrigen, unter ihnen der Buddhismus, galten für heterodox und ketzerisch. Die sechs orthodoxen Systeme (ein Name, auf welchen in vollem Sinne nur die beiden Mimansas machen können) sind folgende:

  • 1) Das Sankhyam des Kapila, dem Buddhismus, wie man annimmt, als Grundlage dienend, eine höchst geistvolle Theorie der Weltentfaltung zum Zwecke der Selbsterkenntnis und daraus folgenden Erlösung, welche jedoch bei einem nicht überwundenen Dualismus zwischen der sich entfaltenden Urmaterie (Prakriti, Pradhanam) und einer ursprünglichen Pluralität individueller Geister (Purusha) stehen bleibt.
  • 2) der Yoga des Patanjali, welcher, das Sankhya-System theistisch umdeutend, den Weg zu Weisen unternimmt, um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen, indem er in vier Teilen 1. von der Kontemplation (Samadhi), 2. von den Mitteln zu ihrer Erreichung (Sadhanam), 3. von der dadurch erlangten Herrschaft über die Natur (Vibhuti), 4. von dem Zustand der Absolutheit (Kaivalyam) handelt.
  • 4) Das Vaisheshikam des Kanada, häufig (z. B. im Bhashaparicceda, in der Tarkabhasha) mit dem Nyaya zu einem Ganzen verwoben, welches eine Entstehung der Welt aus Atomen (Paramanu) lehrt und eine naturwissenschaftliche Klassifizierung des Seienden unter den sechs Kategorien der Substanz, Qualität, Aktion, Identität, Differenz und Inhärenz (Dravyam, Guna, Karman, Samanyam, Vishesha, Samavaya) unternimmt. Das allmähliche Heranwachsen und Erstarken dieser und anderer Systeme mochte die strengen Anhänger des Veda auch ihrerseits zu einer wissenschaftlichen, systematischen Forschung (Mimansa) über den Inhalt des Veda anregen, woraus
  • 5) die Karma Mimamsa, Purva Mimansa, gewöhnlich schlechthin "Mimansa" genannte Lehre des Jaimini, als ein System des Werkdienstes, welches die vom Veda gebotene Pflicht (Dharma) nebst der an sie geknüpften Vergeltung (Phalam) untersucht, und
  • 6) die Sharira Mimansa, Uttara Mimansa, meist nach ihrer Quelle "Vedanta" genannte Lehre des Badarayana hervorging, welche den Inhalt der Upanishaden zu einem theologisch-philosophischen System verknüpft.

Beide Mimamsas mögen gleichzeitig nebeneinander entstanden sein, sofern Jaimini und Badaryana sich wechselseitig oft zustimmend, oft bekämpfend zitieren, beide Systeme ergänzen sich in der Art, dass sie vereint die Gesamtheit der vedischen Theologie darstellen, wie denn insbesondere der Vedanta durchaus an dem Vergeltungssysteme der Karma Mimansa festhält (vgl. 2,3,42. 3,1,25. 3,2,9 und p. 1076,13), und beide stehen in einem durchgängigen, prinzipiellen Gegensatz, der seinen Grund im Veda selbst hat. Dieser nämlich zerfällt (wie Shankara ad Brih. p. 4 fg. ausführt) nach vedantischer Anschauung in zwei Teile, die eine tiefgehende Analogie mit dem Alten und Neuen Testamente zeigen, einem Werkteile (Karma Kanda), welcher die Mantras und Brahmanas im allgemeinen, und einem Erkenntnisteile (Jnana Kanda), welcher die Upanishaden und was zu ihnen gehört (z. B. das Agnirahasyam, Shatap. Br. X, worüber zu vergleichen 3,3,44-52, p. 943-952), befasst. Ersterer befiehlt die Werke, d. h. Opfer und sonstige Zeremonien, indem er, wie das Alte Testament, Lohn verheißt und Strafe androht, nur dass er zumeist, durch Verlegung derselben ins Jenseits, dem Konflikt mit der Erfahrung ausweicht; die Untersuchung dieser Verhältnisse, der religiösen Werke und des durch sie begründeten Verdienstes, welches als ein „neues Moment" (Aparvam) in den Komplex der eine jenseitige Vergeltung erheischenden Taten des Menschen tritt, macht den wesentlichen Inhalt der Karma Mimansa des Jaimini aus. Sie geht dem Vedanta nicht sowohl der Zeit, als der Ordnung nach vorher und wird von Shankara in seinem Kommentare zu den Vedanta Sutras häufig als „der erste Teil", „das erste Lehrbuch" zitiert (z. B. p. 848,6. 807,1. 919,9. 944,4. 931,3. 1011,12).

Im Übrigen ist, wie wir sehen werden (Kap. IV, 3), ihre Kenntnis nicht erforderlich zum Studium des Vedanta, welcher sich allein auf den Erkenntnisteil des Veda, d. h. auf die Upanishaden gründet. Zu diesen verhält sich das Werk des Badarayana wie die christliche Dogmatik zum Neuen Testament: Es untersucht ihre Lehren von Gott, der Welt, der Seele in ihren Ständen der Wanderung und der Erlösung, beseitigt scheinbare Widersprüche derselben, knüpft sie systematisch zusammen und ist vor allem bemüht, dieselben gegen Angriffe der Gegner zu verteidigen. Als solche gelten nicht nur die heterodoxen Philosophen, die Buddhisten (deren Lehre 2,2,18-32 nach ihren verschiedenen Formen geprüft und als eine Ausgeburt des Hasses gegen das Menschengeschlecht p. 581,2 gänzlich verworfen wird), die Jainas (2,2,33-36), die Pashupatas (2,2,37-41) und die Pancaratras (2,2,42-45), sondern auch die Anhänger der übrigen orthodoxen Systeme, wie sich denn Badarayana 2,1,11 prinzipiell gegen jede Möglichkeit ausspricht, die Wahrheit auf dem Wege der Reflexion (Tarka) zu ergründen. Das Nähere hierüber Kap. V, 2. — Für die Zeitbestimmung des Badarayana ist es wichtig, darauf zu achten, wie er die vier nichtvedischen Systeme behandelt; der Nyaya wird von Badarayana gar nicht erwähnt und nur von Shankara gelegentlich ein paar Mal (p. 67,6. 594,1), doch mit Anerkennung, zitiert, vielleicht, weil er zur Polemik keinen weiteren Anhalt bot (doch vgl. ad Brih. p. 801,8); der Yoga kommt, so viel uns bewusst (1,1,19 bedeutet das Wort etwas anderes), außer 4,2,21 (wo sich indessen „Yoginah" zunächst auf Bhag. G. 8,23 bezieht) nur noch 2,1,3 vor, wo er kurz mit der Bemerkung abgefertigt wird, dass das gegen das Sankhyam Gesagte auch von ihm gelte.

Die Vaisheshika-Lehre wird 2,2,11-17 widerlegt, mit der Bemerkung, dass man auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen habe, weil doch keiner sie annehme (2,2,17: Aparigrahac Ca Atyantam Anapeksha), ein Beweis, dass zur Zeit, oder im Lande des Badarayana die Lehre Kanadas darnieder lag. Umgekehrt müssen wir aus der Art, wie er das Sankhyam behandelt, schließen, dass dieses (durch Autoritäten wie Manu und das Mahabaratam empfohlene) System zu seiner Zeit in hohem Ansehen stand. Bei jeder Gelegenheit kommt er auf dasselbe zurück, teils in längeren Ausführungen (wie 1,1,5-11. 1,4,1-13. 2,1,1-12. 2,2,1-10), teils in vereinzelten Hinweisungen (1,1,18. 1,2,19. 1,2,22. 1,3,3. 1,3,11. 1,4,28. 2,1,29. 2,3,51. 4,2,21), wobei zuweilen andere damit zusammengefasst werden (2,1,3 und 4,2,21 der Yoga, 2,1,29 und 2,3,51 das Vaisheshikam, 2,1,4-11 die Reflexionssysteme im allgemeinen), und wiederholt (1,4,28. 2,1,12) die Bemerkung gemacht wird, dass mit dem Sankhya-Systeme auch die übrigen alle besprochen seien. Bemerkenswert ist es, dass Badarayana keines der anderen Systeme (ausgenommen den Yoga 2,1,3 und die Yogins 4,2,21, welche dem Veda schon näher stehen) und keinen ihrer Urheber mit Namen nennt, ja auch es vermeidet, die üblichen Bezeichnungen für ihre Grundbegriffe in den Mund zu nehmen, wie er denn statt Pradhanam (Urmaterie der Sankhyas) vielmehr Smartam (1,2,19), Anumanam (1,1,18. 1,3,3), Einunzanikam (1,4,1) „das Überlieferte", „das Erschlossene" sagt, wohingegen Pradhanam bei ihm 3,3,11 das Brahman bedeutet.

Je mehr er aber beflissen ist, die Namen der Gegner der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, um so häufiger nennt er, meist bei Erörterung kleiner Differenzen zwischen ihnen, die Lehrer der beiden Mimansa-Schulen. Als solche treten bei ihm auf: Badarayana (1,3,26. 1,3,33. 3,2,41. 3,4,1. 3,4,8. 3,4,19. 4,3,15. 4,4,7. 4,4,12), Jaimini (1,2,28. 1,2,31. 1,3,31. 1,4,18. 3,2,40. 3,4,2. 3,4,18. 3,4,40. 4,3,12. 4,4,5. 4,4,11), Badari (1,2,30. 3,1,11. 4,3,7. 4,4,10), Audulomi (1,4,21. 3,4,45. 4,4,6), Ashmarathya (1,2,29. 1,4,20), Kashakritsma (1,4,22), Karshnajini (3,1,9) und Atreya (3,4,44). — Es sind dies, bis auf zwei Ausnahmen (1,1,30. 1,3,35), überhaupt die einzigen Nomina Propria, die in den Satras des Badarayana vorkommen.

Als Erkenntnisquellen dienen unserm Autor die Shruti und, in zweiter Linie, zur Bestätigung und ohne bindende Kraft die Smriti, wobei er höchst seltsamerweise die Namen, welche in den andern Systemen zur Bezeichnung der natürlichen Erkenntnisquellen dienen, zu den seinigen umdeutet, so dass wiederholt bei ihm Pratyaksham (die Wahrnehmung) für SHruti und Anumanam (die Folgerung) für Smriti gesagt wird (1,3,28. 3,2,24. 4,4,20), und zwar, wie (Ankara p. 287,11 erklärt, weil letztere einer Erkenntnisbasis (Pramanyam) bedürfe, erstere hingegen nicht. Unter Shruti (Offenbarung, heilige Schrift) versteht Badarayana nicht nur die ältern Upanishaden, Brihadaranyaka, Chandogya, Kathaka, Kaushitaki (2,3,41), Aitareya (1,1,5), Taittiriya (1,1,15) u. a., sondern auch gewisse Upanishaden des Atharvaveda, wie besonders die häufig zitierten Mundaka und Prashna, ja sogar Produkte so späten Ursprungs wie die Shvetashvatara (1,1,11. 1,4,8. 2,3,22) und vielleicht gar die Jabala Upanishad (1,2,32. 4,1,3); auf eine unbekannte Upanishad des Atharvan bezieht sich 3,3,25.

Angemerkt zu werden verdient noch, dass das Sutram 2,3,43 auf einen Vers des Atharvaveda anspielt, der sich in der gedruckten Rezension desselben nicht vorfindet. Unter Smriti (Tradition) versteht unser Autor, nach Shankara, von dessen Erklärungen wir bei allen Zitaten völlig abhängig sind, das Sankhya- und Yoga-System (4,2,21), das Mahabharatam, besonders die Bhagavad Gita genannte Episode desselben, das Gesetzbuch des Manu und vielleicht noch anderes (vgl. 4,3,11). Daneben erscheint 3,4,43 das Herkommen (Acara; vgl. 3,4,3. 3,3,3). Als vollkommen bekannt werden die nach den Vedaschulen (Shakhas) verschiedenen Rezensionen desselben Shruti-Werkes erwähnt: So berücksichtigt Badarayana insbesondere die Übereinstimmung und Verschiedenheit in der Kanva- und Madhyandina-Rezension der Brihadaranyaka Upanishad (1,2,20 Ubhaye: 1,4,13 Asati Anne), wie denn das häufig vorkommende „Einige"(Eke) meist auf die Unterschiede der Vedaschulen sich bezieht (1,4,9. 3,2,2. 3,2,1 3. 4.1,17, und So Anye 3,3,27), zuweilen aber auch verschiedene Schriftstellen (4,2,13. 2,3,43) und Mimansa-Lehrer (3,4,15. 3.4.43) und einmal sogar (3,3,53) etwas ganz anderes, nämlich die Materialisten bedeutet.

Sein eigenes Werk zitiert unser Autor durch die Worte „Tad Ukta" (darüber ist gesprochen worden), durch welche er 1,3,21 auf 1,2,7, ferner 2.1,31 auf 2,1,27 und 3,3,8 auf 3,3,7 zurückweist, ebenso wie durch das gleichbedeutende „Tad Vyrakhyatam 1,4,17 auf 1,1,31. — Weiter dient aber dieselbe Formel „Tad uktam" häufig, um auf die Karma Sutras des Jaimini zu verweisen, so 3,3,33 (Jaim. 3,3,9), 3,4,42 (Jaim. I,3,8-9), 3,3,26; (p. 903,9: Dvadashalekshanyam, 3,3,43 (p. 942,5: Sankarshev 3,3,44 Tadapi (Jaim. 3,3,14), 3.3,50 fp. 951,3: Pratama Kandev, woraus man vielleicht schließen darf, dass die Werke des Jaimini und Badarayana, von denen ja auch jeder sowohl sich selbst als den andern mit Namen zitiert, von einem späteren Redaktor im Sinne eines einheitlichen Ganzen überarbeitet und mit den erwähnten und andern Zusätzen versehen worden seien.

Auf einen solchen würde der (nach Colebrooke M. E p. 352) neben Badarayana vorkommende Autorname Vyasa (der Ordner) vortrefflich passen, und derselbe könnte ganz wohl Vyasa, der Vater des Shuka, Lehrers des Gaudapada, Lehrers des Govinda, Lehrers des Shankara, und damit 200-300 Jahre älter als sein Kommentator Shankara sein (Windischmann, Sanc. p. 85), wiewohl Shankara unter Vyasa an allen Stellen, wo dieser Name vorkommt (p.313,9. 440,6. 690,11. 764,10 und Vedavyasa p. 298,5, vgl. Mahabh. XII, 7660), wohl nur den Redaktor des Mahabharatam versteht, während er den Autor der Sutras p. 1153,8 Bhagavan Badarayana Acharya nennt.

Siehe auch

Literatur

  • Vedanta für Anfänger von Swami Sivananda
  • Vedanta - Der Ozean der Weisheit von Swami Vivekananda
  • Paul Deussen: Das System des Vedanta, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.
  • Soami Divyanand: Vedamrit - Die Botschaft der Veden. ISBN 3-926696-03-6 (Übersetzung der Veden auf Deutsch, Bd. 1); ISBN 3-926696-13-3 (Bd. 2); ISBN 3-926696-26-5 (Bd. 3)
  • Wilfried Huchzermeyer: Die heiligen Schriften Indiens - Geschichte der Sanskrit-Literatur.(edition-sawitri.de) ISBN 3-931172-22-8
  • Moritz Winternitz: Geschichte der Indischen Literatur, Leipzig, 1905 - 1922, Vol. I - III. Reprint in englischer Übersetzung: Maurice Winternitz: History of Indian Literatur, Motilal Barnarsidass, Delhi, 1985, Vol I - III
  • Sri Aurobindo: Das Geheimnis des Veda, 2. Auflage 1997, Hinder + Deelmann, ISBN 3-873481-65-0
  • Lokamanya Bâl Gangâdhar Tilak: Orion ou Recherches sur l'Antiquité des Védas, Milan, Éditions Archè, 1989

Weblinks