König

Aus Yogawiki

König, Sanskrit Raja, regiert ein Land.

Die Geschichte vom indischen König mit dem Leichnam

Artikel von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Weisheit Indiens. Märchen und Sinnbilder" 1938 im L.C. Wittich Verlag in Darmstadt erschienen. S. 79-101.

Indien kennt die Geschichte von einem König, der den Leichnam eines Gehenkten vom Galgen holen muss, aber es sitzt ein Gespenst in dieser Leiche und hext sie immer wieder fort zur Stätte, an der sie hing. Und vier- und zwanzigmal muss der Beherzte standhaften Sinnes zur Richtstätte über den Leichenplatz seiner Stadt hinwandern, hin und her, an Toten und Gespenstern vorüber, im Hexensabbat verrufener Neumondnacht. Und vierundzwanzig Geschichten vernimmt er aus dem Munde des Gespenstes, alle münden in eine Rätselfrage, die er lösen soll. Was bannt uns am Bilde dieses Königs und was hat Indien daran gebannt, dass es seine Geschichte in der Fülle seiner Erzählungen bewahrte, die über Jahrhunderte hinfließend schließlich ins „Meer der Geschichten" — Kathasaritsagara — mündeten, dem Somadeva aus Kaschmir im 11. Jahrhundert die unvergängliche Form gab? Was trug die Geschichte, die Indien sich in vielerlei Gestalt erzählt, über seine Grenzen zu anderen Völkern, zu uns zu wie den Kalmücken?

Es ist die Geschichte einer Nacht voll grausiger und wunderbarer Begebenheiten, und wunderbar ward der König in sie verstrickt. Zu seiner Audienz kam alle Tage ein Mann im Kleide bettelnder Asketen und reichte ihm aufwartend eine Frucht. Der König aber reichte sie achtlos seinem Schatzverwalter, der bei ihm am Throne stand. Und ohne ein Wort, ohne Anliegen oder Bitte, entfernte sich der Mann im heiligen Gewande, ohne ein Zeichen von Ungeduld oder Enttäuschung tauchte er unter in der Menge der Aufwartenden, Bittenden, Rechtheischenden und verschwand. So ging es zehn Jahre lang. Aber einmal kam ein zahmer Affe zum Throne seines Herrn in die Halle gesprungen, er war seinen Wärtern im Innern des Palastes entwischt; der König reichte ihm zum Spiel die Frucht, die der Asket ihm wortlos dargeboten hatte, der Affe biss hinein, — da fiel ihr Kern heraus: ein kostbares Juwel. Der Geber dieser wunderbaren Frucht war schon wieder verschwunden, der König fragte verwundert, wo ihresgleichen geblieben sei.

Da gestand der Schatzverwalter, er habe sie immer unbesehen und ohne nur die Tür des Schatzhauses aufzusperren, oben durchs Fenster hineingeworfen. Er eilte nachzuschauen, schloss auf und fand die Früchte all der Jahre vermodert und zerfallen: an ihrer Stelle lag ein Haufe Edelsteine da. Der König war zufrieden und schenkte ihm die Steine. Ihn verlangte, ein Wort mit dem geheimnisvollen Geber solcher Geschenke zu haben. Als der am nächsten Tage wiederkam, stumm seine Frucht darreichte und verschwinden wollte, nahm sie der König nicht, es sei denn, dass er rede. Da verlangte der Asket ein Gespräch mit dem Könige ganz allein und brachte seine Bitte vor, er bedürfe zu einem Zauberwerk des Beistandes eines unerschrockenen Mannes. Denn die Waffe der Helden hat dämonenbannende Kraft. Der König sagte ihm seinen Beistand zu, da verlangte der Wundermann, er solle sich in der kommenden Neumondnacht auf dem großen Leichenplatze einfinden, wo die Toten der Stadt verbrannt werden. Dort werde er seiner warten. Der König gab sein Wort, und der Asket — mit dem schönen Namen „Geduldreich" — empfahl sich.

Die Neumondnacht kam und der König machte sich heimlich auf, unkenntlich in dunklem Gewande, das Schwert in der Hand. Furchtlos schritt er über die grausige Stätte, die von schwelenden Gluten der Scheiterhaufen schwach erhellt, den Blick verkohlte Skelette und Schädel ahnen ließ, indes den Ohren grausen mochte vor dem Gebrüll und ausgelassenen Lärmen der Dämonen und Gespenster, die an solcher Stätte heimisch sind. Er fand den Asketen am verabredeten Ort, er war beschäftigt, einen Zauberkreis zu zeichnen, — „hier bin ich, was soll ich für dich tun?" fragte er ihn; da bat ihn der, wofern er seiner Gunst versichert sei, ans Ende des Leichenplatzes zu gehen und ihm dort den Leichnam eines Gehenkten vom Baume zu schneiden und zu bringen. Der König sagte es zu und fand sich beim glimmenden Schein der Leichenfeuer in der mondlos dunklen Nacht, — es war ein Wunder wie? - durch Spuk und Grausen furchtlos zu jenem Baum, fand den Gehenkten, stieg auf den Baum und schnitt ihn ab. Wie der herunterpurzelte, stöhnte er, als sei er zu Schaden gekommen. Der König meinte, es sei noch Leben in ihm, und tastete ihn ab, — da stieß der Tote ein gelles Lachen aus. Der König merkte, dass ein Gespenst in ihm saß, „was lachst du ... ?" fragte er ihn, aber indes er sprach, war der Tote ver-. schwunden, — er hing wieder oben am Ast. Da stieg der König wieder auf den Baum und holte ihn herunter, — denn die Herzen der Helden sind fest wie Demant. Furchtlos lud er ihn sich auf den Nacken und schritt schweigend mit ihm von dannen, aber das Gespenst hub an, aus dem Leichnam zu reden, „O König, ich will dir mit einer Geschichte den Weg verkürzen".

Das Mädchen und der Prinz

Es erzählt ihm die abenteuerliche Geschichte von einem Prinzen, der mit seinem Freunde, dem Sohne des Ministers, auf der Jagd versprengt, im wilden Walde rastend am anderen Ufer eines Sees ein wunderschönes Mädchen beim Baden erblickt. Beide sehen einander und verlieben sich sterblich; das Mädchen macht ihm, ungesehen vom eigenen Geleit, Zeichen, die er nicht versteht, sein kluger Freund aber weiß sie ihm zu deuten, nachdem die lockende Vision entschwunden ist und er, heimgekehrt, in Sehnsucht nach der Unbekannten sich verzehrt. Sie hatte ihren Namen verraten, dazu ihre Familie und das Reich, in dem sie lebt, und ihm ihre Liebe gestanden. Unter dem Scheine eines Jagdausflugs machen sich die beiden Freunde auf, entkommen ihrem Gefolge und gelangen in die Stadt des Mädchens; dort finden sie unerkannt im Hause einer alten Frau Quartier, die als Botin zur Geliebten taugt. Das Mädchen ist von ihrer Ankunft entzückt, verrät sich aber nicht der Zwischenträgerin; mit Zeichen, die nur der kluge Freund errät, verabredet sie ein Rendezvous und verschiebt es wieder und weist dem Prinzen schließlich durch die nichtsahnende Alte einen geheimen Weg zu sich.

Die Liebenden finden sich im Hause des Mädchens und werden miteinander glücklich. Aber das listige und leidenschaftliche Mädchen entlockt dem Geliebten, dass er keins seiner Zeichen verstand, alles vollbrachte der Freund, der alle seine Schritte lenkt. Da versucht die Liebende in ihrer Leidenschaft, um den ihr verfallenen Prinzen ganz an sich zu ketten, den Sohn des Ministers zu vergiften, aber der Kluge durchschaut ihren Anschlag. Er übertrumpft ihre Ränke, indem er sie ohne Wissen und Wollen mit dem Prinzen glücklich in die Heimat entführt, und straft sie zugleich, indem er sie ihr schließliches Glück mit Todesangst und Verzweiflung erkaufen lässt. Dazu zettelt er ein gefährliches Spiel an, in dem er selbst die Rolle eines bettelnden Asketen übernimmt und dem Prinzen die Rolle seines Schülers zuweist, das Mädchen aber drängt er in die Rolle einer Zauberin und Hexe, die sein heiliger Mund beim Könige des Landes verklagt, dem kleinen Sohn des Königs, dessen jähes Sterben der Vater beklagt, den Tod gebracht zu haben. Sie scheint überführt und wird zum Tode verurteilt, nackt wird sie vor der Stadt den wilden Tieren preisgegeben. Aber der Prinz und sein Freund sind schon zur Stelle, sie haben ihre Masken abgelegt und entführen die Schöne auf schnellen Pferden in die Heimat, dass sie des Prinzen Gattin werde.

Freilich den beiden Eltern des Mädchens bricht der Gram über das grauenvolle Ende ihres Kindes das Herz, — „wer ist nun schuld an ihrer beider Ende" fragt das Gespenst im Leichnam den König, der ihn trägt, „weißt du's und schweigst, soll dir dein Kopf in hundert Stücke springen!" — Der König weiß es und die Furcht vor der Verwünschung löst ihm die Zunge: nicht das Mädchen ist schuldig, auch nicht der Prinz, sie waren beide vom Feuerpfeil des Liebesgottes entflammt und nicht verantwortlich für das was sie taten; der Ministersohn handelte im Dienste seines Herrn und nicht auf eigene Verantwortung; schuld war allein der König, der alles das in seinem Lande geschehen ließ, der den angezettelten Schwindel nicht durchschaute, den Bettelasketen nicht entlarvte, der das ganze Treiben dieser Fremden, ja ihren Aufenthalt in seinem Lande überhaupt nicht bemerkte und vor der Pflicht, allsehendes alldurchdringendes Auge seines Reiches zu sein, strafwürdig versagte.

So fällt der König, der den Leichnam trägt, sein Urteil über jenen anderen König, der einem Schwindler im Gewande eines Bettelasketen schuldhaft erlag, — aber indes er sein Schweigen bricht, ist der Leichnam schon von seinem Nacken verschwunden; stöhnend liegt er wieder unter dem Baum. Entschlossen kehrt der König um und holt ihn wieder. Er lädt ihn wieder auf die Schulter, da spricht das Gespenst zu ihm, „große und ungewohnte Plage hast du dir aufgeladen, Verehrter, da will ich dir mit einer Geschichte die Zeit verkürzen, — vernimm!" und erzählt ihm eine zweite Geschichte.

Drei Brahmanen lieben eine Frau

Es waren einmal drei junge Brahmanen bei einem Lehrer, die liebten alle drei seine wunderschöne Tochter. Der Vater mochte sie keinem geben, aus Angst, den beiden anderen bräche es das Herz. Da starb das Mädchen plötzlich, von einer Krankheit weggerafft. Verzweifelt verbrannten die drei ihre Leiche; dann zog der eine als bettelnder Asket in die Welt, der andere nahm das Gebein der Geliebten und pilgerte damit zu den lebenspendenden Fluten der heiligen Ganga. Der dritte aber baute sich eine Asketenhütte über ihrer letzten Stätte und schlief auf ihrer Asche.

Der durch die Welt zog ward einmal Zeuge eines wunderbaren Vorgangs, er erlebte, wie jemand mit einem Zauberspruch aus einem Buche ein verbranntes Kind aus seiner Asche leibhaft wieder ins Leben rief. Da stahl er das Buch und eilte heim zur Asche der Geliebten; eben kehrte auch der Andere zurück, der das Gebein des Mädchens in den lebenspendenden Wassern des göttlichen Flusses genetzt hatte. Über Asche und Knochen ward der Zauber vollzogen: Da stand die Geliebte wieder da, herrlicher noch als einst. Und ein Streit erhob sich unter den dreien: Der eine hatte ihre Asche gehütet, der andere ihr Gebein im Wasser des Lebens genetzt, der dritte den Zauber gesprochen, — wem gehörte sie? — „Ja: Wem gehört sie?" fragt das Gespenst im Leichnam den König, — „Der Kopf soll dir zerspringen, wenn du es weißt und nicht sagst!" — Der König weiß und spricht: Der ohne Beschwer davon zu haben mit dem Zauberspruch sie ins Leben rief, ist ihr Vater; der ihrem Gebein den letzten Liebesdienst erwies, ist ihr Sohn, der aber auf ihrer Asche schlafend sie umfing und auf dem Leichenplatz aus Liebe zu ihr als Asket lebte, der muss ihr Gatte heißen.

Ein weiser Richterspruch, aber ehe sich's der König versieht, ist der Leichnam wieder von seiner Schulter verschwunden. Er holt ihn wieder, und wieder erzählt ihm das Gespenst eine Geschichte, — den Weg ihm zu verkürzen, wie es ihn zu narren sagt, — und gibt ihm ihr Wirrsal aufzulösen, um mit der Antwort des Königs wieder zu entschwinden. So treibt das Gespenst ihn hin und her, aus seinem Munde quillt Geschichte auf Geschichte, verschlungenes Geschick und Lebenswirrnis mit immer anderen Gestalten, — das Leben trieft aus seinem Mund mit all seinem Grauen und mit seiner Lust, und immer schlingt sich sein Gespinst zu seinem Knoten von Schuld und Recht, von Anspruch und Verfehlung, den der König entwirren soll. Wo ist im Undurchsichtigen, Verworrenen des Scheins der Kern, der gilt?

Der Sohn des Diebes

Da ist die Geschichte vom nachgeborenen Sohn des Diebes, der seinem Vater das Totenopfer am Brunnen bringen wollte. Eine Frau hatte mit ihrer Tochter fliehen müssen — ihr Mann war gestorben und die Verwandten nahmen sich das Erbe —, auf der Flucht stieß sie nachts auf einen Dieb, der gepfählt und schon im Sterben war. Der Dieb wollte mit der Tochter vermählt sein, damit ein Sohn von ihr, wer immer ihn zeugte, ihm als der seine gehöre und ihm die Totenspende bringe. Dafür verriet er den Frauen sterbend seinen versteckten Diebesschatz. Später verliebte sich das Mädchen in einen schönen jungen Brahmanen und gewann ihn, ihr beizuwohnen; aber er nahm Geld dafür, denn er liebte eine Hetäre und wollte ihre Gunst erkaufen. Das Mädchen gebar dann einen Sohn und legte ihn, einem Traumgesicht folgend, mit tausend Goldstücken dem Könige auf die Schwelle seines Palastes. Der König war kinderlos und ihm hatte zur gleichen Nacht von einem Kind vor seiner Schwelle geträumt: So zog er den Findling als seinen Erben auf. Als der Prinz aber nach seinem Tode ihm das Totenopfer bringen wollte an einem Brunnen, aus dem die Toten ihre Geisterhände recken, es zu empfangen, hoben sich seiner Gabe drei Hände entgegen: die Hand eines gepfählten Diebes, eines Brahmanen und eines Königs. Wer war sein Vater? — Er wusste nicht, in welche Hand die Gabe legen, die Priester wussten es auch nicht, — „Ja, in welche Hand hätte er die Gabe legen sollen?" fragt das Gespenst den König. Der nennt die Hand des Diebes, der hatte den Sohn sich ausbedungen und durch die Vermählung sich zugeeignet, für ihn ward er empfangen; der Brahmane hatte sich verkauft, der König hatte mit den tausend Goldstücken Entgelt für seine Vaterrolle erhalten.

Der König spricht's und wieder ist der Leichnam fort. Wann endet dieser Spuk? Ist es der Gipfel des Spotts oder das Ende einer Prüfung, deren Sinn mit keinem Worte angerührt wird, dass dem Könige schließlich nach dreiundzwanzig anderen das Rätsel einer Geschichte vorgelegt wird, auf das seine Klugheit keine Antwort weiß?

Vater und Sohn, Tochter und Mutter

Ein Fürst und sein Sohn sind auf der Jagd. Sie stoßen in der Wildnis auf die Spuren zweier Frauen, die aus edlem Hause scheinen und offenbar auf der Flucht sind. Der Junge schlägt dem Vater, der seine Frau verloren hat, vor, sie beide wollen die beiden heiraten, wenn sie ihrer habhaft werden; augenscheinlich sind es Mutter und Tochter, die kleinere Spur gehört der Jüngeren, die größere muss von der Mutter stammen. Der Vater weigert sich lange, aber der Sohn beschwört ihn: Er soll die Frau mit der größeren Fußspur nehmen, wie er die andere. Schließlich willigt der Vater ein und sie tauschen feierlich ihr Wort. Sie finden dann die Frauen. Es ist wirklich eine schöne Königin mit ihrer schönen Tochter. Sie haben nach dem Tode des Königs aus ihrem Reiche fliehen müssen. Die beiden Männer machen wahr, was sie beschworen haben, aber die kleinen Füße gehören der Mutter, die größeren der Tochter. So heiratet der Vater die Tochter, der Sohn nimmt, wie er es beschworen hat, die schöne Mutter. Beide haben Kinder. Wie sind nun diese Kinder untereinander verwandt, was sind sie alles füreinander, — ja was sind sie nicht?

Über dieser Rätselfrage verstummt der König; für das vollkommene Knäuel dieser Beziehungen fehlt ihm die entwirrende Antwort. So geht er mit dem Leichnam auf der Schulter schweigend seines Weges. Diese Kinder sind ja einander alles Mögliche zugleich, jeder Bestimmung an ihnen steht eine andere mit gleichem Recht entgegen, sie sind durchaus das Eine und das Andere füreinander. Ist so nicht überall Eines auch immer das Andere und Alles irgendwie Alles zugleich? Ist jenseits aller Entscheidungen über Schuld und Recht, alldurchdringenden Auges gefällt, auch wieder Alles ineinander: ein Unkönigliches im Königlichen und ein Unheiliges geheim im Heiligen? — Ist das der Sinn dieser Geschichte, über dem der König verstummt und wissender geworden als er schon durch die früheren Rätsellösungen ward, seines Weges schreitet?

Das Gespenst bewundert ihn, wie er, seines Schweigens froh, leichten Fußes dahingeht, und, wie verwandelt, spricht es zu ihm, „heiter scheinst du bei all diesem Hin und Her über den nächtig grausigen Leichenplatz und Wanken ist dir fremd. Dieses Wunder deiner Festigkeit erfreut mich. Nimm jetzt den Leichnam mit, ich ziehe aus ihm aus."

Aber es wäre ein sinnarmes müßiges Spiel, das dieser Geist im Leichnam mit dem König getrieben hätte, wenn das sein letztes Wort wäre. Was beide aneinander bindet ist mehr als die schadenfrohe Lust eines Gespenstes, einen Lebenden zu narren, ist wohl auch mehr als dieser Leichnam, an dem beiden gelegen ist: Der eine soll ihn holen, der andere haust in ihm, — was fesselt diesen Dämon an diesen Sterblichen, daß er seine Standhaftigkeit erprobt mit Geschichten ohne Ende? Ist es ein gemeinsames Schicksal? eine Gefahr für beide? — das Gespenst warnt den König vor dem Asketen, der im Gewand der Seelenruhe Machtgier und Mordlust birgt. Er hat sich den König nicht nur zum Gehilfen seines großen Zaubers ausersehen, er soll ihm auch zum Opfer fallen, „Höre, was ich dir zu deinem Heile sage und tu es! Der Bettelasket ist ein gefährlicher Schwindler; mit seiner Beschwörung wird er mich zwingen, wieder in den Leichnam einzugehen, dann wird er mich anbeten und versuchen, dich mir als Opfer darzubringen. Dazu wird er dich heißen, vor mir niederzufallen, und wenn du mit Haupt und Händen flach am Boden liegst, wird er dir mit deinem Schwert den Kopf abschlagen wollen. Da sag ihm, ,mach mir das vor, wie man sich niederwirft, und wenn er vor dir liegt, schlag ihm den Kopf ab. Dann wird die Herrschaft über die Geister, nach der ihn mit seinem Zauber gelüstet, dir zufallen, — sie sei dein!"

Damit entschwindet das Gespenst aus dem Leichnam, der König aber bringt ihn unverweilt zum zaubernden Asketen. Dem scheint die Zeit indes nicht lang geworden, dass er besorgte, es könne tagen, ehe der König den Leichnam zur Stelle schaffte. Er zeigt kein bisschen Ungeduld oder Verwundern, dass der König nicht früher kam, er hat nur Bewunderung für den Helden, der seinen unheimlichen Auftrag furchtlos erfüllte. Sein Zauberkreis ist fertig, sinnreich gemalt mit manchem Grausigen, das ihm die Unheilsstätte hergab: Knochenmehl und Blut der Toten, und liegt im Licht von Lämpchen voll Leichenfett. Er wäscht und salbt den Leichnam, schmückt ihn wie ein Götterbild und setzt ihn als Kultfigur in die Mitte des Zauberkreises. Mit seiner Yogazauberkraft zieht er das Gespenst herbei, zwingt es, in den Leichnam einzugehen, und verehrt es in ihm wie einen Gott, den man in sein Kultbild hineinbeschworen hat.

Als er aber den König heißt, sich anbetend niederwerfen, tut der wie ihm gesagt ward; der Asket darf ja nicht erwarten, dass einem Könige diese sklavische Form des Niederfallens geläufig sei. Da schlägt der König dem Asketen den Kopf ab, reißt ihm das Herz aus der Brust und bringt beides als seine Opfergabe dem Gespenst im Leichnam dar. Und ein Jubel der Geisterscharen bricht rings aus der Nacht und zollt ihm Beifall; das Gespenst aber spricht befriedigt aus dem Leichnam, „Die Herrschaft über die Geister war das Begehren des Bettelasketen, — dein wird sie sein, o König, wenn du dein Leben enden wirst, es wird dir aber zuvor die Herrschaft über die ganze Erde schenken. — Ich habe dich geplagt, darum gebe ich dir einen Wunsch frei!" Da bittet der König als Lohn für diese wundersamste aller seiner Nächte, dass die vierundzwanzig Rätselgeschichten, die das Gespenst ihm erzählte, und dazu als letzte, sie endende, auch die Geschichte dieser Nacht bekannt auf Erden und in Ehren stehen sollen. Das Gespenst verheißt ihm, sein Wunsch werde in Erfüllung gehen, diese Geschichten sollen bei aller Welt, ja bei Shiva selbst, dem ,Großen Gotte, dem Herrn der Geister und Dämonen, dem großen Yogi und Bettelasketen unter den Göttern, in Ehren stehen, und Geister und Dämonen aller Art sollen keine Macht haben, wo sie erzählt werden; wer aber auch nur einen Vers daraus andächtig aufsagt oder vernimmt, soll von Sündenschuld frei werden. Damit scheidet das Gespenst.

Aber von den Göttern umringt offenbart Shiva selbst sich dem Könige und lobt ihn, dass er das Geisterreich vor den unsauberen Händen des Betrügers errettet hat, die schon nach seiner Herrschaft langten. lhm werden nun bald die Geister dienen, die jener mit Gewalt sich unterjochen wollte zu maßlosem Missbrauch geisterhafter Macht. Zuvor aber wird die ganze Erde ihm gehören, das Schwert „Unbesiegbar", das Shivas Hand dem Könige reicht, verleiht ihm die Herrschaft über sie. Dieses hohe Amt ist dem Könige bestimmt, denn er ist ein Anderer, Höherer als der er sich wusste: Der Gott zieht den Schleier von dem Trennenden, das abgründig zwischen Mensch und Gott klafft, und offenbart dem Könige, dass er ein Teil der göttlichen Allkraft sei. Er selbst, der Allgott ist in ihm, dem Könige, mit einem Stück von sich zur Erde herniedergestiegen, hat sich in ihm als Mensch verlarvt, um das Böse, das in Menschengestalt geschlüpft ist, als Mensch zu bekämpfen und der göttlichen Ordnung auf Erden Raum zu schaffen. Wenn der König die Herrschaft über die Geister genossen hat, wird er schließlich wieder zum Allgott eingehen, wie er aus ihm kam.

Begnadet kehrt der König in seine Stadt zurück; es tagt, und die wunderbare Erfüllung aller Weissagungen, die ihm geworden sind, erfüllt seinen Erdentag, schlägt ihm die Brücke ins Geisterreich, geleitet ihn zum höchsten Ursprung heim, dem er entsprang.

Wie von einem Traum befangen, wie durch eine Reihe von Träumen, die sich schier endlos dehnt und doch in wenig Augenblicke geht, schreitet dieser König hin und wider über den Leichenplatz, — wie einer träumend sich hin und her wirft. Und wie einer erwachend überschaut, was tags zuvor ihm Wirrsal war und tieferes Wirrsal, als er ahnte, und wie ein tiefer Traum ihn verwandeln kann, dass er nun ein Wesenhaftes in sich und außen greift, das ihm bislang entzogen blieb, so kehrt dieser König als ein Wissender und Verwandelter aus seiner Nacht in seine Tagwelt zurück.

Diese fünfundzwanzig Geschichten vom Gespenst im Leichnam sind wie eine Folge von Träumen, und wie einer bedeutsame Träume lebenslang nicht vergisst, ja sie immer wieder träumt, so bewahrt das Gedächtnis eines Volkes solche Geschichten, als wären es seine Träume: schauerlich und lieblich sind sie wie Träume sinngewaltig genug, um immer wieder neu bedacht, neu geträumt und gedeutet zu werden.

Was war mit diesem Könige und was geschah ihm? Was meint dieses Märchen unserer Seele?

Ein Mann hat sein Wort gegeben, eine Schuld einzulösen und zu tun, was man von ihm verlangt, denn er ist großmütig und tapfer, um und um eine königliche Natur, aber wohl auch etwas unbedacht, sich so unbesehen einem dunklen Abenteuer anheimzugeben. Ein großes Selbstvertrauen ist in ihm; der Glaube, dass nichts Ungeheures als sinnloses Schicksal ihn treffen kann, ist in ihm wach, — aber Tiefblick und Umsicht schlafen noch. Hier häkelt das Schicksal an, hier findet es den Spalt im Panzer der Person, wo es hindurchgreifen kann und ins innere Leben langt.

Seltsames Gebaren dieses Bettlers, — wie unbedacht, es hingehen zu lassen jahraus jahrein. Aber bekommen wir nicht alle Tage von einem unbekannten Bettler eine unbedeutend aussehende Frucht geschenkt und heißen sie zu den übrigen wandern? Steht nicht das Leben in alltagshafter Bettelgestalt ohne Ankündigen, Prunken und Heischen jeden Morgen vor uns da und bietet uns den Tag, einen Tag nach dem anderen? Aber wir müssten dieses bettelhafte allgemeinste Geschenk, — eine Frucht von einem Baum, was ist daran? Wie viele Früchte trägt ein Baum? Wie viele Bäume trägt ein Land! — Wir müssten diese Frucht, den Tag, öffnen können und als sein Geheimnis das ganz Andere herausnehmen, das Einzige und Kostbare, — aus dem zum Welken Reifen, aus dem bald Schrumpfenden, Verfaulenden, dem Tode ganz Anheimgegebenen das unvergänglich Strahlende herausnehmen. Fortwährend werden uns solche Früchte geboten, nicht bloß die Tage, jeder Augenblick und was immer er bringt, — sind es nicht solche Früchte? Und sind wir selbst nicht solch eine Frucht, unfähig uns zu öffnen für uns selbst und unseren eigenen Kern, das unvergängliche Juwel, das blitzende, zu greifen? Ist es nicht der ewigtägliche Stand des Menschseins: Dieser König auf dem Thron und der schweigende Bettler, der täglich in die Empfangshalle tritt, unter heischenden und prunkenden Gestalten fast verschwindet, sich nicht zu erkennen gibt in seiner Absicht, seine Frucht darreicht, Jahr um Jahr die gleiche, und sich ohne Murren, ohne Zögern auslöscht und wieder davonmacht? Das Alles sind wir selbst.

Wir nehmen diese Frucht und finden nichts Besonderes an ihr, reichen sie unbesehen, gleichmütig, als müsste das alles so sein, dem anderen Manne hinter uns, der wie ein zweites, drittes oder fünftes Ich von uns unseren Schatz verwaltet, aus dem wir königlich spenden und leben, durch den wir Könige in unserem kleinen oder großen Reiche sind. Der Andere ist ganz wie wir, ein Ich, das hinter unserem königlichen steht, um aufzuhorten und zu verwalten, was wir verschenken und verschwenden: Er prüft was jeder Tag geheimnisvoll herschenkt genau so wenig, er sperrt um so geringes Gut die Tür des Schatzes nicht erst auf, wirft's durch das Fenster oben zu dem Übrigen.

So geht das Spiel lange Zeit. Aber da ist noch ein anderes Ich, vielleicht unser elftes oder zwölftes, mit dem wir spielen, wenn wir von unserer königlichen Natur uns ausruhen und ihre große Gebärde, ihre Pflichten und Vorrechte vergessen wollen, — da ist unser Affe. Er hat in Thronsaal und Schatzhaus nichts zu suchen, da richtet er nur Unfug an. Aber wie es der Gang der Dinge dank der alles mischenden Weisheit des kreisenden Lebens ist, kommt irgendwann einmal Alles zu Allem: Auch der Affe macht sich einmal los, entwischt seinen Wärtern und kommt aus den inneren Gemächern unseres Wesens, den privaten, wo wir mit Frauen und Spielereien in königlicher Lässigkeit uns zu ergötzen lieben, ins staatliche Zeremoniell der Audienz gesprungen. Da erwischt er die Frucht, und das Genäschige, Neugierige, das an den Dingen spielt und krallt, bis sie zerbrechen und ihr Inneres, ihr Geheimnis preisgeben, die Lust am Zerstören und Verzehren öffnet die Frucht und findet das Juwel, — das ihr nichts sagt.

Der Affe bricht die Frucht auf, — da bricht das Schicksal auf: die Saat all dieser Früchte in unseren Schatz, in den Boden unseres Lebens gesenkt, schießt auf. Was von langher schon angesponnen ist, ohne dass wir es merkten, woran wir täglich spannen mit Gleichgültigkeit, oberflächlichem Hinnehmen und dumpfem Weitergeben, — jetzt zieht sich dieses Gespinst zur Schlinge um uns zusammen. Wir fühlen das Unentrinnbare, dem wir uns selbst anheimgegeben haben in reinem Schleifenlassen; — das Abenteuer ist da, aber selbstvertrauend, arglos und gläubig treten wir hinein. Das Abenteuer entwickelt sich im Einzelnen völlig anders, als wir dachten, denn wir sind ja unbedacht, wie sollte es uns in seinen Teilen nicht überraschen, da wir uns von ihm als Ganzem überfallen ließen? Jetzt gilt es einen Leichnam zu holen, — anscheinend im Dienste eines anderen.

Der Lebende auf der Suche nach etwas Gestorbenem durchwandert den Leichenplatz, das Reich der Toten. Das ist eine Höllenwanderung, alle Teufel und Dämonen sind los, zwischen höllischen Feuern verkohlender Leichen und dem Gestank schmorender Verwesung, durch die doppelte Nacht, die Leichenrauch über die Neumondschwärze des Himmels schleiert. So wandert Dante durchs lebendige Totenreich des Inferno, da ihm „der rechte Weg verloren ging".

Seltsamer Auftrag für einen König, einen Toten zu holen, den Leichnam eines Gehenkten vom Baum zu schneiden, die Leiche eines Verbrechers auf den Nacken zu nehmen. Aber wer käme in seinem Leben nicht einmal dazu, dass er das Tote aufgraben muss, dazu, Begrabenes, schon halb Verwestes nächtlich und geheim aus seiner Stätte zu scharren, umjohlt, umloht von der Orgie der Hölle, und dass ein Verworfenes, das schon tot und hin ist, ihm aufgeladen wird als Last zu tragen, — für einen anderen anscheinend, aber es ist doch die Last auf dem eigenen Nacken. Denn er ist dem Anderen vielfältig verbunden, er ist — unwillentlich vielleicht, doch nicht ohne Schuld in seiner Schuld.

Aber dieses Tote ist nicht tot, es steckt gespenstiges Leben in ihm. Eine unheimliche Munterkeit, ein Übermütiges, völlig Dämonisches spricht und neckt aus ihm, es spottet, ja es droht — es hat die Geisterhand an unserer Kehle. Auf einmal geht es um unser Leben. Scheinbar die Zeit uns zu vertreiben beim scheußlichen Geschäft, offenbar uns naszuführen, geheim vielleicht uns zu prüfen, erzählt es uns Geschichten und zwingt uns Rede zu stehen; tun wirs aber, entschlüpft es uns, und schweigen wir wider besseres Wissen, wird es uns erwürgen. Wir müssen seiner Laune fronden. Und unser königliches Ich, das allem gebieten konnte, zu gehen oder zu bleiben, da zu sein und zu verschwinden, und so da zu sein wie es uns beliebte, — jetzt ist es der Knecht, der wandern muss wie fremder Aberwitz befiehlt: immer hin und her, immer wieder zurück zum Galgen des Gehenkten, das Tote zu holen, die Last zu schleppen. Und diese Nacht des Hin und Her geht nicht zu Ende, — was an Geschichten geht in sie hinein! Die Zeit scheint still zu stehen und zu lauschen auf das Pendeln dieses Ganges durch die Hölle, auf diese Sisyphusverdammnis: zu schleppen und zu schleppen, was immer wieder uns entgleitet, ehe wir es ans Ziel gebracht haben. Wann werden wir davon frei? Do fragen wir in der Hölle dieser Läuterung. Und immer geht es um das, woran wir gefehlt haben: den Sinn zu finden für alles Leben, das eine Frage an uns hat, seinen Kern herauszuspalten aus dem Fleisch, das ihn verbirgt, da wir gewohnt waren, seine Frucht gleichmütig hinter uns zu werfen ins Schatzhaus unseres Lebens, aus dem wir leben und wissen gar nicht, was es in sich schließt.

Wirrsal auf Wirrsal des Geschehens, in lockende und rührende, furchtbare und klägliche Gestalt geballt, tritt vor uns hin, wie das Gespenst in unserem Nacken schwatzt und schwatzt. Aber es narrt uns mit der Versicherung, uns damit unterhalten zu wollen, um die zeitlose Hölle des Weges uns zu kürzen, denn es gilt nicht die Verstrickungen teilnehmend und belustigt zu genießen, — immer geht es um einen Knoten, der entwirrt sein will. In allem Wirrsal steckt ein Kern von Schuld, ein Streit um Recht, der nicht Verjährung kennt, wie das Juwel in der Frucht steckt, wie Schuld und Recht im Höllenzirkel dieser Nacht mit der Verstrickung des Königs ins Teufelsnetz des Zauberers. Was du nie tatest, lerne es jetzt tun: Wirrsal spalten, ihm den Kern entreißen, Schuld erkennen, Wirklichkeit sehen. Sie ist nie offenbar, sie ist unscheinbar und innigst verwoben im Spiele der Verstrickungen, — wer ist der Schuldige, wenn die Eltern sterben, weil das Schicksal ihres Kindes ihnen das Herz brach? Nicht die Liebenden, nicht ihr allkluger Rat, aber jener König, der so unbedacht dem Augenschein vertraute, wie dieser König da, der Frucht auf Frucht beiseite legte, ohne sie zu öffnen, der wie er den Schurken im Gewand der Tugend nicht ersah. Das Offenbare ist der Schein, in ihm ist ein Verborgenes, das Wirkliche; wer sich an den Schein hält, den wird er in sich verstricken, ehe er es gewahrt, wird ihn als geisterhafte Hölle in sich schlingen und umeinander treiben, hin und wider, als Leichnam wird er seinem Nacken aufsitzen und mit Gespensterlachen zu ihm reden, da er das Wirkliche nicht zu greifen vermochte, als es in Tageshelle vor ihm stand.

Wer sich am Schein genügen lässt und wähnt, schon recht und ganz zu sein, Held und König, wird schuldig. In verhüllter Gestalt, wie arglos, tritt es ihn an, aber doch mit einer unheimlichen Forderung, der er aus seinem Wesen folgen muss, und führt ihn in die Nacht, die seinem Tage fremd ist, und gibt ihm das Geschäft, unköniglich und völlig unrein: Leichen zu schleppen wie ein Tschandala. Der Königliche muss das Werk des Auswurfs unter seinen Untertanen verrichten, nicht nur einmal und zum guten schnellen Ende, dass er freikäme und vergessen könne, wozu er sich herleihen musste in Gegenleistung verkannter Geschenke, nein wieder und immer wieder, unendlich oft, so oft wie er der Wirklichkeit nicht auf den Grund gehen mochte und den Kern ihrer Frucht verschmähte, der ihm nun grauenhaft und bitter dünken muss wie diese Nacht höllischer Plage, gemessen an seinem königlichen Tag.

Jetzt geht es um Bewährung; mit dem gewohnten Kleben am Schein ist es vorbei, Beschweigen wider besseres Wissens kostet den Kopf. Sei ganz du selbst und frage nicht, wohin es dich führt, mit deinem königlichen Ich, und wenn du ewig, Narr höllischer Gewalten, umgetrieben wirst in Rätselraten ohne Ende. Sag nicht, das Alles ginge dich nichts an, was auf dich strömt aus dem Munde des Gespenstes an Schicksal und Verstrickung — so kam es auf dich zu in der Tageshelle deines Throns, wo du zum allsehenden Auge deines Reiches bestellt als Richter saßest. Dies Wirrsal bist du selbst als König deines Reiches, nichts ist dir fern, — wo du Ferne setzest, fällst du in Schuld. Geschenkt wird nichts, jetzt tu den Gang zurück und abermals zurück, hole die Leiche des Gewesenen vom Baume des Gerichts, lausche der Stimme des Gespenstes, — nichts anderes spricht zu dir in deiner Nacht, keine andere Stimme kann dich belehren. Was deiner spottet und dir tödlich droht, Grauen und Aberwitz allein kann dich weisen. Bist du nicht selbst der Held von allem, was dich die Geisterstimme fragt? Alle diese Gestalten mit ihren Räumen und Geschicken meinen dich, wie Alles, was in deinen Träumen mit dir spielt, dich meint, sei es Wort oder Figur, Weg oder Landschaft. Du holst das Vergangene und Versäumte, das Heimgegangene deines Lebens, das unerfüllt und ungeleistet blieb und darum geistern muss, vom Galgen des Todes dir immer wieder als Leichnam und Gespenst, bis du in einer Höllennacht, die nicht zu enden scheint, Genüge tatest und an dich nahmst erkennenden Blicks, worüber du achtlos weggingst. Aber die Aufrichtigkeit und Unbedingtheit deines königlichen Sinnes, dein furchtloses Stillhalten aller fessellosen Dämonie des Rätselhaften, Narrenden, wie es von Tod und Ekel starrt, dein Bereitsein ohne Grenzen wird dein Ariadnefaden durch das Labyrinth der eigenen Nacht, durch die Rätselfragen des Lebens.

Aber welch hohen Trost hält der Ausgang der Geschichte für den Wahrhaftigen und Reinen bereit, für den Überwinder seines königlichen Ich im Dienste seiner dunklen weisen Mächte. Welchem wunderbaren Ende dürfen unsere Verfehlungen und Mängel dienen: indem sie uns in Not und Wirrsal stürzen, bringen sie uns weiter, zu uns selbst in einer umfassenderen Form und bereiten uns zu einer Macht und Herrlichkeit, die wir zuvor nicht ahnten. Über das ungewollte aber selbstverhängte Abenteuer und über die Leichenstätte unserer Versäumnisse geht der Weg zu einer höheren Wirklichkeit, die sich an uns erfüllt; unsere Schuld und Unvollkommenheit sind Flügel, die uns aufwärts tragen können zur Begegnung mit den höchsten Mächten der Welt und zu ihren Aufträgen an uns.

Aber dazwischen steht der falsche Asket und das vieldeutige Gespenst, — was meinen die beiden? Dieser Asket, — welchen Kern birgt die Schale seiner Tugend? Wie dieser „Geduldreiche" warten kann mit seinem geheimen, immer wachsenden Recht auf den Dienst des Königs, wie er mit seiner gut verhohlenen Sicherheit, des arglosen Opfers ganz gewiss, den Vielgeplagten an der Stätte, wo er ihn schlachten wird, empfängt, — so hat der König selbst ihn sich zum Gegenspieler geschaffen, ihn aus der eigenen Blindheit sich gewirkt. Aus der Fülle aller Möglichkeiten, die das Verhängnis, sich für uns drein zu kleiden, allzeit bereithält, musste es für den König diese Gestalt wählen; mit dem, worin er als König fehlte: Alldurchdringendes Auge zu sein, zog er sie an sich und zog sie sich groß. Was noch unköniglich an diesem König ist, aus diesem Stück an ihm ist sie geformt, aus dem, worin er sich selbst nicht wirklich war: nicht wirklicher König, nur sein prunkender Schein, seine leere Gebärde. So ist er vom Könige selbst herausgefordert als leibhafte Entsprechung seiner Blindheit: was er innen nicht ist, tritt ihm als Widerspiel außen entgegen, genährt aus der Versäumnis langer Jahre. Gerade dieser heuchlerische Wundermann musste diesem arglosen König begegnen: beide sind ein Ganzes. Wohin wir blicken, entrinnen wir uns nicht, ein Stück unser selbst tritt beziehungsvoll vor uns hin, tritt uns aus unserem eigenen Dunkel an, ein Wesenhaftes, Selbstgewirktes: Gespenst und Affe oder Mörder. Wie unsere Freunde sind wir selbst unsere Feinde, — geheimnisvoll weben wir selbst das Ganze unseres Lebens aus uns selbst hervor, wie die Spinne das Netz, in dem sie lebt.

Aber zwischen den schließlichen Erfolg der langgesponnenen Tücke und ihr argloses Opfer tritt das Gespenst. Nur ein Gespenst, kein Engel oder Genius, wie sie eines Kindes arglosen Schritt in Gefahr behüten, denn der König ist ja kein schuldloses Kind mehr. Da gewinnt der Unbedachte was ihm abging: bedacht zu sein. Vor immer neuen Rätselfragen tut sich sein Auge alldurchdringend auf und der lässig Arglose wird dem völlig Verhohlenen gewachsen. Da wird er wirklicher König und weiß um das Wirkliche und seine Hintergründigkeit im verfließenden Schein, — das macht ihn zum Herrn des Scheins, — da wird er selbst das Ganze und schlägt den Schein spielend mit seiner eigenen Verhohlenheit. Denn dass der Harmlose verschlagener sein könne als er selbst, ging über die Einbildungskraft des ganz Verschlagenen. Wer in sich selber ganz und wirklich wird, wie dieser König wirklicher König ward, der überwältigt den Schein, der, sein eigener Schatten, ihn tödlich bedroht.

Und dieses Gespenst im Leichnam? Diese Galgenfrucht vom Baume? — eine seltsame Frucht, wer hätte denken mögen, dass sie so einen geschwätzigen Kern in sich berge? — Aber wir alle tragen diesen Leichnam auf der Schulter: Gewesenes, Verwesendes und doch ein Ich von uns — das wievielte in der Reihe? eine Chiffre und ein Stück unseres Wesens. Und das Gespenst, das aus ihm schwatzt, — wie sehr ist es ein Ich von uns, hinter und über dem königlichen, als das wir uns bewusst sind, und ist das stärkste unter allen: mit seiner Geisterstimme droht es uns den schnellen Tod und stellt uns Bedingungen, jagt uns hin und wider, sein Totes zu holen, wie einer im Banne einer fixen Idee ein Stück Vergangenheit unsinnig endlos wiederholen muss. Dann aber sagt es uns, was uns im letzten Augenblick vorm Abgrund unverdienten Geschicks zurückreißt und uns vor dem ganz unköniglichen Ende rettet, in das wir zäh und aufrecht mit dem blinden Wollen unseres königlichen Bewusstseins drängen. Es befreit uns aus dem Netze des Gemeinen und gibt uns die einfachste aller Listen ein, aber sie überteufelt den Teufel.

Es erscheint unheimlich und schnöde, so widrig und grotesk wie überraschend, — wie sollte es uns anders erscheinen, da es der Inbegriff des von uns Versäumten, nie Vollzogenen ist, Gespenst unbewusst gehäufter Schuld? — und ist das Rettende, das uns wohl will, das Einzige in aller Welt und in der Nacht unseres Wesens, das uns aus ihrem bösen Zauberzirkel retten kann, da wir uns seinem eigenwilligen Spiel zu fügen vermochten und geduldig taten, was wie zu Hohn und Probe uns auferlegt ward.

Es ist die wissendste unter allen Gestalten unseres Wesens, das in so vielen Gestalten uns umspielt und aus uns bricht, — anscheinend weiß es alles, was je in fernen Reichen geschah mit Königen und Bettlern, Liebenden und Entsagenden, Verbrechern und immer anderen schönen Frauen. Mit der andrängenden Deutlichkeit des Traumes, unentrinnbar und spielend, verschwebend und genau, zaubert seine Geisterstimme all das an uns vorüber, hebt es lautlos aus dem Brunnen des Gewesenen in uns, dem nichts entfällt, und wirft es klingend auf die Spiegelfläche unseres Bewußtseins. Die Kraft, die nichts vergisst und aus ihrem bodenlosen Wissen alles voraus weiß und uns mit einem Wink vom Abgrund reißt, in den wir mit der Konsequenz unseres bewußten Wesens streben, — um wieviel mehr ist sie als unser königliches Ich, vermag mehr, vermag Alles.

Und gleichmütig verschwindet es wieder, taucht wieder in die Nacht der Geister und der Toten, die es auswarf, — in seine Nacht, nicht zu halten, nicht zu errufen, wie es kein Erwehren gab gegen die Willkür seines Erscheinens und Gebarens und gegen seinen fürchterlichen Zwang. Und doch hat diese Nacht mit ihren Rätseln hin und her für einen Augenblick, der zeitlos war, eine Beziehung zwischen König und Gespenst gestiftet: Sie kamen einander nah, wie Wesen der blutwarmen Welt einander nicht näher kommen können, waren verflochten wie ein Ich und Du, zusammengeschmiedet durch das gleiche Schicksal: die Gefahr, Opfer des Zauberers zu werden. Aber beide retten einander, und indem sie sich so gegenseitig retten, erretten sie zugleich die Welt.

Der greifbare König und das ungreifbare Gespenst, Welt und Überwelt, das königliche Ich des Tages und die Geisterstimme unseres Tiefendunkels, gehören zusammen, sie können nicht ohne einander sein, ohne dass beide verdürben, — sie sind ein lebendiges Ganzes. Fänden sie sich nicht zu einmütiger Tat, wären sie zumal verloren: das entscheidende Tun fällt dabei dem Könige zu, der selbstbewussten und leibhaften Seite unseres Wesens; die entscheidende Inspiration dazu aber flüstert die Geisterstimme unserer ungreifbaren Sphäre. So erlösen beide einander: das Gespenst den König vom Tode durch die Blindheit des baren Bewusstseins, und der König das Gespenst vom Bann seines Daseins als Gespenst, das verurteilt ist, im Leichnam des Gewesenen zu hausen. Dabei opfert der König dem Gespenste Herz und Haupt des Asketen: das glücklich Überwundene, das beide bedrohte, dieser Teil unseres Selbst, der uns tödlich feind war, wird in bewusster Tat vom greifbaren Ich der höheren inneren Instanz als Opfer dargebracht, die seine Überwindung befahl und den Weg zu ihr wies. Damit scheidet das Gespenst auf immer aus dem Leichnam: Es ist nicht mehr Gespenst, gebannt, im Toten zu spuken, wie der König nicht mehr gebannt ist, durch die Nacht seines Wesens über Leichenplatz und Richtstätte seiner Vergangenheit hin und her zu irren. Das Gewesene, das beide bannte und bedrohte, ist abgegolten für beide.

Aber schon sobald der König die Prüfung der Rätselfragen bestanden hat, hebt die wunderbare Wandlung am Gespenste an. Es verlässt den Leichnam und den König, der ihn trägt, nachdem beide sich gefunden haben zu gemeinsamer Rettung ihrer selbst und der Welt. Verwandelten Wesens kehrt das Gespenst dann noch einmal in den Leichnam zurück, als dieser selbst verwandelt ist, aus der Galgenfrucht zum Götterbild des Zauberkreises, aus dem Verworfenen zum Verehrung heischenden, — wenn sein Grausen machtstrahlende, segensprechende Hoheit geworden ist.

Novalis notiert einmal, „bedeutender Zug in vielen Märchen, dass, wenn ein Unmögliches möglich wird, zugleich ein anderes Unmögliches unerwartet möglich wird; dass, wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet, und ein Wunder vorgeht, das ihm das entgegengesetzte Angenehme gewährt, in dem Augenblicke, als ihm das entgegengesetzte Unangenehme angenehm ward. Die Zauberbedingungen, z. B. die Verwandlung des Bären in einen Prinzen, in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde usw. Vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt lieb gewönne; in dem Augenblick als ein Mensch die Krankheit oder den Schmerz zu lieben anfinge, läge die reizendste Wollust in seinem Arm, die höchste positive Lust durchdränge ihn."

Novalis rührt im Anschauen dieses tiefen Bezuges, dass eine entscheidende Überwindung Vieles schenkt, eine wesentliche Verwandlung alles wandelt, an ein Innerstes seelischer Möglichkeiten. Solche Verwandlung ist ein Sinn dieses Märchens, — Verwandlung wie sie an Turandot geschieht und jenen anderen in Schlaf versenkten Bildern unserer Seele. Der König nimmt Leichnam und Gespenst auf sich, er löst die Rätselfragen dieser Ausgeburt seiner inneren Nacht, — da werden sie zum Götterbild, zum rettenden segnenden Dämon, aber auch er selbst ist ein Verwandelter und jetzt gibt auch das Dunkel ihn frei, das ihn außen umfängt, es wandelt sich in ein Morgenlicht, in dessen Tagen Strahlen oberer Welten brechen.

Die Welt, wie sie als Raum und Atmosphäre um den König spielt, ist noch einmal sein Ich in drei Verwandlungen, — wir selbst sind unsere Welt; wie sie aus uns strömt, strahlt sie uns an, starrt sie uns an. Wie spiegelte der prunkende Thronsaal und was in ihm geschah das königliche Bewusstsein und die Schwäche seiner Lässigkeit, wie war der nächtige Leichenplatz der schlimme Kern dieser schimmernden Schale - die Nacht, durch die der König tappt und hin und wieder irrt, unfrei, von Verwünschung an seinem Haupt bedroht, ahnungslos dem tückischen Tode zustrebend, — diese Nacht ist das wahre Gesicht seines prunkenden Tages, wie der mordbereite Zauberer das wahre Gesicht des Asketen „Geduldreich". Aber sie vergehen ins Wesenlose vor dem glorreichen Anbruch eines neuen Tages, in dem die Überwelt des Göttlichen sich dem Könige öffnet. Wandle dich und du betrittst eine verwandelte Welt; im unwahren Prunk, im Banne der Geister und Leichen, oder berufen mit den oberen Geistern umzugehen, — nie entschreitest du dir selbst, die Welt und alle Welten höllenwärts und himmelauf sind dein Du in immer anderer Gestalt, in dem du dich ergehst.

So führt der Gang des Königs aus irdischem Herrscherprunk, dessen hohle Gebärde den Keim fürchterlichen Todes in sich trug und nährte, durch die Erfahrung des Totenreiches, das mit gespenstiger Nähe nach ihm langt, zur lichten Herrlichkeit der Geisterherrschaft, — das ist aber der Gang der Mysterien. Der führt aus einem halben, unhaltbaren, dem Tod verfallenen Dasein durch die Schauer des Grabes und der Unterwelt zu einem todentrückten, ganzen und geweihten Leben. Aber der Einweihende, der hier die Prüfungen verhängt und ihr Ende bestimmt, ist das Gespenst im Leichnam. Denn der Mystagoge auf dem Mysteriengange unseres Lebens, der uns die Weihe der Wiedergeburt zu einem vollkommenen Leben verleihen kann, erscheint in allen Masken, — ja für den Wissenden ist Alles seine Maske, alles einweihende Gebärde, für ihn liegt rings die Schwelle. Immer aber trägt seine Maske die Züge unserer Not und Schuld und spiegelt den Grad unserer Reife, deutet auf die Verwandlung, die an uns geschehen sollte. Aber wer ist solch ein Prinz, vom Schicksal begnadet, dadd Feen von ihm singen, „würd' ich mein Herz der Liebe weihn, so müsst' es dieser Jüngling sein", wem schenkt die „sternflammende Königin" die Zauberflöte, die alle Gefahren bannt? Wer ist so „tugendsam, verschwiegen und wohltätig" und „will den nächtlichen Schleier von sich reißen und ins Heiligtum des größten Lichtes blicken", dass ihn ein Sarastro in Tempelhallen empfangen sollte, den „siebenfachen Sonnenkreis der Eingeweihten" auf der Brust?

Der König wird aus dem Schein seines Wesens zu seiner Wirklichkeit geführt: Was er an sich versäumte, nimmt er an sich und wird alldurchdringendes Auge und also wahrhaft König, indes er vorher nur das Diadem trug und auf einem Throne saß. Er verwirklicht das Ganze in sich, zu dem ihn das Leben berief, darum empfängt er jetzt das Schwert „Unbesiegbar", das ihm die sichtbare Welt kampflos zu eigen gibt, darum ist ihm jetzt die Herrschaft über das Reich der Geister bestimmt, das als ungreifbare Sphäre der greifbaren Welt sie zum Ganzen rundet.

So sollen wir die Herren der Geister werden, denn sie sind in uns wie über uns, wie alles Außen, soweit es Bedeutung für uns gewinnt und Beziehung auf uns hat, schon Reflex und Spiegel unseres Innen ist und nur als solcher bedeutsam vor uns hintreten kann. Shiva selbst, der „Große Gott", Herr der Geister und Dämonen gibt sich dem Könige in seiner Glorie anzuschauen. Schöpfer, Erhalter und Vernichter aller Welt ist er der „Ganze" im höchsten Sinne, er befiehlt dem Grauen des Leichenplatzes, — die Leichenstätte ist nach dem Worte Somadevas „wie eine andere, tief grauenvolle Gestalt von ihm selbst" — und doch ist er, — das meint sein Name „Shiva" — der „Gnadenvolle". Er tritt aus allmächtiger Unsichtbarkeit ins begnadend Sichtbare und lehrt den König an seinem eigenen, ihm sichtbaren Wesen ein unsichtbar Geheimes schauen. Das Offenbare ist der Schein, im vergänglichen Fruchtfleisch seiner greifbaren Natur birgt sich ein unvergängliches Juwel, im menschlichen König verlarvt sich ein Stück Gott, Kern vom höchsten Kerne. In spielender Selbstentfremdung aus seiner weltumfassenden übergestaltigen Ganzheit spielt das Göttliche in uns. Wir alle sind seine „Abstiege in die Welt", seine „Avatare" auf wechselnden Stufen. Die Idee „Avatara" enthüllt sich als innerster sinntragender Kern aus der greifbaren Frucht des Märchens, die Indiens Genius durch die Hand seines Dichters uns reicht. In der greifbaren Schale unseres Wesens steckt als verborgener Kern das Übermenschlich-Göttliche, in diese Idee münden alle Verwandlungen und Entschleierungen des Wirklichen aus dem Schein dieser Geschichte.

Wem aber, wie diesem Könige, in einem Einweihungsgange durch sich selbst zuteil wird, sich selbst in diesem Kerne zu ergreifen und bewusst zu werden, der wird Herr des Scheins, ihn fällt kein Trug mehr an, die Gespenster seiner Tiefe verwandeln sich in segnende Dämonen, er ist geborgen in seiner Ganzheit: in der ganzen Welt, der greifbaren samt ihrer Überwelt und erfüllt ihre Weite in gelassener Herrschaft. So können wir die wirklichen Herren unserer Welt werden, außen wie innen, denn Alles ist innen für den, der es vermag, aus seiner grenzenlosen Tiefe innen die Welt zu ordnen. Wer in sich ganz Beziehung ist, den fällt nichts beziehungslos von außen an: Zufall oder Verhängnis. Wie dem Könige die Scheidewand zwischen seinem irdischen Teile und dem Göttlichen zersinkt, und dieses Göttliche in ihm wie über ihm ist, sind dem Verwandelten Innen und Außen zwei Namen für eine Wirklichkeit.

Jean Paul, der indisch-östlichste unter den deutschen Genien, ruft einmal aus, „O rechnete und lebte nur jeder nach der Sternenzeit eines geheiligten Herzens, so würde er die rechte Stunde auch außen treffen!" — eben diese Sternenzeit tut sich dem Könige auf in der Nacht seiner Einweihung. Zehn Jahre gingen ihm dahin, ohne dass er zu Kron' und Thron, die er besaß, das volle königliche Wesen fand, die Kraft dem Schein das Wirkliche zu entschälen, ohne die wir in allem Tun und Leiden Schatten unser selbst bleiben und nicht die wahren Herrscher sind, um die unsere Welt in täglich neu gewonnener Klarheit kreist. Aber in einer einzigen Nacht, der inneren Sternenzeit verfallend, wie sie mit Geisterstimme aus ihm bricht, des Schattendaseins seines Tages spottend, in einer Nacht, die an der inneren Sternenzeit gemessen schier ohne Ende ist, indes die äußere Sternenzeit still zu halten scheint, wird er verwandelt, die rechte Stunde auch außen zu treffen, dem Schein sich zu entwinden, der ihn mit Tod umfängt, wie alles Schattendasein an uns Keim zum Tode ist statt zu der oberen Sphäre, die jenseits von Tod und Schein im wissenden Umgang mit den Geistern webt.

Unser Bewusstsein ist sich rätsellos, es hat für alles Namen, darin liegt seine Blindheit. Es ist so blind wie dieser König, darum werden ihm Rätsel aufgegeben, denn alles ist Rätsel. Wir geben uns selbst die Rätsel auf, für die wir die Antwort finden müssen, — aber wer in uns gibt sie uns auf? — eine Geisterstimme. Die Rätsel, die uns vor Augen sind und die wir nicht gewahren, rührt sie nicht an, es sei denn gleichnisweise in Geschichten, die sie uns als Träume spinnt. Wenn sie uns wohl will, weil wir dem Spiele ihres dunklen Eigenwillens genügen und ihr grenzenlos lauschen mögen, gibt sie uns einen erleuchtenden Wink, der das Netz zerreißt, das wir uns selbst gewoben haben aus dem immer bereiten Stoffe unserer Welt: aus uns selbst.

Märchen und Mythos sind der Zauberspiegel, aus dem jeden, wenn er hineinblickt, sein eigenes Gesicht als Rätsel und Antwort anblickt. Wie unsere tieferen Träume sind sie beide Sinn und Chiffre um und um, ein jeder liest sie auf seiner Stufe und macht im Lesen seine Grenze und Berufung offenbar. An diese Geschichten aber knüpft der Dämon im Leichnam auf den Wunsch des Königs, der ihnen alles verdankt, die Verheißung: Wer sie vernimmt, soll sich gut stehen mit allen Geistern und Dämonen seiner Welt. Es ist nicht nötig, dass er was unausschöpflich sinnhaft bis ins Letzte an ihnen ist, sich zu deuten vermag, aber dass er was geheimnisreich aus ihnen spricht, begreife, indem es ihn geheim ergreift und ihn verwandelnd als ein Lebendiges aus seiner eigenen Tiefe leitet.

Wer solche Chiffren lesen könnte, aus den Mythen und Märchen der Völker, die wie die großen Träume ihrer Genien sind, oder aus eigenen und fremden Träumen, den kleinen Geschwistern jener großen, der brauchte eigentlich weiter nichts, seinen Weg durch Erde und Hölle zu finden, — wenig lernbares Wissen, keine Welt mit Büchern. Es gälte nur, die Kraft zu entwickeln, die uns befähigt, Chiffren zu lesen, — vielmehr die Kraft, dass Alles, was uns aus uns innen wie außen begegnet, uns Chiffre würde und lesbar für uns. Und dieses Lesen der Chiffren wäre der Weg, sich selbst und anderen Chiffre zu werden, der Weg zur Überwindung des Weltscheins der Wirklichkeit, — der Weg zu einer Daseinsform, für die der große indische Dichter die Chiffre der geheimen Einheit des Königs mit dem höchsten Gotte gebraucht, die Chiffre „Avatara" und das Sinnbild der Herrschaft über das Geisterreich.

Der König der Dunklen Kammer

In drei Verwandlungen vom Rigveda bis Tagore

aus « Die indische Weltmutter » von Heinrich Zimmer

Vor einigen Jahren, als er Mode war, erschien allerlei über Tagore im Druck. Inzwischen ist es stiller um ihn geworden. Die Indologie, als Spezialwissenschaft um Indiens geistige Vergangenheit und Gegenwart, hat zum Künder seiner gegenwärtigen Geisteswende bei uns nicht merklich das Wort ergriffen. Und doch liegt es ihr ob, die schillernde Erscheinung seiner Poesie, seines menschlich-politischen Führertums über ästhetische und ideologische Betrachtung des Augenblicks hinaus durch das jahrtausend alte Erbe, dessen Verständnis sie verwaltet, zu deuten und das einzigartige Ineinander uralter und junger, indischer und westlicher Motive wie Kunstformen zum Verständnis der epochalen Wende indischer Kultur zu klären, die in Tagore (wie Gandhi) weithin sichtbar sinnbildliche Gestalt annahm. Das hier ein altes Erbe Brechungen und Wandlungen verschiedenster Art erfährt, drängt sich dem Empfinden unmittelbar auf. Aber der Literarhistorie und Geistesgeschichte liegt es ob, diese Empfindung nach ihrem komplexen Gehalt zu bestimmen und zu begründen; hier erschließt sich ein selten dankbares Gebiet, Wandlungsfähigkeit und Lebenskraft des indischen Genius vergleichend zu überschauen. — An Stelle allgemeiner Betrachtungen und Vergleiche sei hier am bekanntesten Drama Tagores, das auch bei uns gespielt und vertont worden ist und in die Weltliteratur der Gegenwart einging, aufgezeigt, wie seine vielfach so stark ins Westliche gebrochene Kunst mit einem ihrer großen Motive unbewusst zu Überliefe-rungsschichten hinaufreicht, die im Frühlicht der uns erhaltenen altindischen Geistesgeschichte liegen. Der König der dunklen Kammer ist ein Mysterienspiel, in seiner Idee dem Lohengrin verwandt, wie Wagner ihn fasste: als Tragikomödie des Göttlichen, das ewig darum kämpfen muss, Raum in der Menschenwelt zu finden.

Aber Tagores Spiel ist von der Schwermut frei, die den Zauber der romantischen Oper ausmacht. In ihr endet die Sendung des göttlichen Heilsboten, der die Bösen entlarvt und vernichtet und die Unschuld vor ihnen errettet, damit, dass er unverweilt von hinnen muss, ohne sein heilig-segenvolles Herrscheramt ausüben zu können. Aber nicht die Bösen drängen das Göttliche so schnell aus der Welt, ihr Frevelmut gegen die Reinen ruft es ja zu rettendem Erscheinen in sie hinein; vielmehr ist die reine Seele ein zu kleines und schwaches Gefäß, um das Dasein des Übermenschlichen fraglos-gläubig in sich aufnehmen und beseligt tragen zu können. Sie erst macht den unendlichen Abgrund zwischen göttlicher Größe und menschlicher Unzulänglichkeit tragisch offenbar. Dem Gottgesandten ist kein Bleiben in dieser Welt gegönnt, wo selbst die reine Seele (Elsa), die sein wunderbares Erscheinen rettend begnadet, ihm nicht glauben und blind vertrauen kann, sondern zu wissen verlangt, sein Geheimnis lüften muss, um seine Nähe ertragen zu können. Anders, echt indisch: im Begreifen der Unnennbarkeit d. i. des völligen Anderssein göttlicher Unendlichkeit endet das indische Spiel: glaubensvoll und schwermutslos. Hier hat Tagore seine Erfahrung Gottes als des Ungeheuerlichen, des ewig Unfassbaren, uns nahen und wesensverschiedenen, des »Ewig Fliehenden«, wie er ihn in seiner Lyrik besingt — »deß' körperloses Dahinrauschen den wie Wasser stehenden Raum in strudelnde Blasen von Licht aufwirbelt« — breit und durchsichtig entfaltet. Was die Stimme des einsamen Sängers im Liede ausströmte, wird hier Gegenstand eines festspielhaften Gemeinschaftsakts.

Ein Rätselspiel, dessen unsichtbarer Held, der König der dunklen Kammer, die Kinder seines Reichs und die Könige der Fremde, wie seine eigene Gemahlin Sudarsana zu narren scheint und mit ihnen die Zuschauer seines Spiels. Nur ein Alter, das »Großväterchen« — eine Lieblingsgestalt Tagores seit dem frühen Roman Schiffbruch — und die verschwiegene Hüterin der dunklen Kammer, Surangama, scheinen um sein Geheimnis zu wissen. In seinem Reiche herrscht Glück und Frieden, seine Bürger spüren nicht die Hand, die sie lenkt, das alte indische Ideal vorbildlichen Königtums scheint hier Wirklichkeit, wo sittlich-geistige Vollendung des Herrschers allüberall hin Recht und Harmonie verbreitet. Aber es ist etwas Verwunschenes um dieses glückliche Land: niemand noch hat seinen König gesehen. Fremde, die zum Fest des Frühlings herbeiströmen, wundern sich, ein Bürger wagt die Vermutung, er sei hässlich und darum zeige er sich nicht; beinahe alle sind ungeduldig ihn endlich zu sehen, die fremden Monarchen, die sich von seiner Gleichgültigkeit missachtet wähnen, wie seine Gemahlin Sudarsana, der er nur in verschwiegener dunkler Kammer naht, ohne dass sie ihn erkennen könnte. Auf ihre Bitte hatte er nur die Antwort, »du wirst meinen Anblick nicht ertragen können; er wird dir nur Schmerz bringen, schneidend überwältigenden«. — Aber sie verlangt den geheimnisvollen Herrn ihres Herzens wie alle anderen Dinge der Welt im hellen Lichte draußen mit Augen zu sehen, »warum muss es immer dunkel sein in dieser Kammer?« fragt sie die Hüterin der stillen Zelle, und vernimmt, ihr dunkel, zur Antwort: »sonst würdest du nicht Licht noch Dunkel kennen«. Auch von dieser vertrauten Dienerin des rätselvollen Gatten, die mit dem Raume ein Stück seines Geheimnisses bewacht, vermag sie nicht zu erfahren wie er aussieht. Surangama meint, er sei nicht schön, das sei viel zu wenig. Er gewann ihre völlige Ergebenheit nicht durch Gunstbezeigung, sondern als er mit ordnender Machtgebärde hart an ihr vorbei griff und ihr Elternhaus zerstörte. Aus Erbitterung und Rasen kam sie zur Unterwerfung: »vielleicht konnte ich ihm vertrauen und in ihm Ruhe finden, weil er so hart und erbarmungslos war. — Ich sah, er war unvergleichlich in Schönheit wie in Schrecken.« 

Ihr genügt es, als Dienerin an seinem Geheimnis sein Wesen zu fühlen, sein Kommen zu ahnen, das sich ihr lautlos anzeigt, ohne ihn zu schauen, indes die Königin, die ihn besitzt, sich nach seinem Anblick verzehrt und den Dunklen darum drängt. Da gibt er ihr auf, ihn unter der bunten Menge des Festabends im blütenschweren Haine selbst zu erraten. Und ihr Blick vom Altan in die festliche Fülle fällt auf eine reizende Erscheinung von königlichem Gehaben, die, das Märchen der Unsichtbarkeit zerstörend, bereits den Tag über immer größere Scharen huldigenden Volkes angezogen hat. Aber für die Blumen, die sie ihm als Zeichen des Erkennens sendet, hat er keinen verstehenden Blick, erst der König von Kanci, der zu Gast erschienen ist und bei ihm steht, deutet ihm die Gabe. Er hat als ein echter König die überraschende Erscheinung des unsichtbaren Fürsten als Trug durchschaut, aber er zwingt den Betrüger, der sich die Leichtgläubigkeit und den Wunsch der vielen, zu sehen was man glauben will, zu Nutze gemacht hat, seine Rolle weiter zu spielen, um in den Besitz Sudarsanas, der schönsten Frau, zu kommen. Er heißt ihn, in der Nähe der Frauengemächer Feuer anlegen, damit er sich in der Verwirrung des Brandes unter dem Schein der Rettung ihrer bemächtigen könne, die augenscheinlich keinen Gatten und Beschützer hat. Aber er bekommt sie nicht.

Verzweifelt, ihren Blick an einem fremden Manne geweidet zu haben, mit den Augen treulos gewesen zu sein, ohne doch das lieblich trügerische Bild des Falschen aus den Sinnen bannen zu können, da sie kein anderes besitzt, das es verdrängen kann, stürzt sich die Königin, der Feuersbrunst entronnen, wieder in den Brand zurück, als sie des würdelosen Ziels ihrer Augen von nah ansichtig wird. In der dunklen Kammer, zu der nicht Lärm noch Feuer dringt, steht sie wieder dem unbegreiflichen König ihres Herzens gegenüber. Sie hat ihn gesehen im Wirrsal des Brandes, den er bändigte, und es graut sie, daran zu denken: schwarz war er und hässlich, gewaltig und grauenhaft, aber gar nicht schön. Sie schämt sich, ihn an die leere Lieblichkeit des Betrügers verraten zu haben, ohne die Erinnerung an sie auslöschen zu können, ihr graut vor seiner Unmenschlichkeit, dass er ihr nicht zürnt und nicht unter ihrem Abscheu leidet, ja, dass er sie nicht halten will, als sie es herausschreit, sie müsse fort von ihm, nach Hause fliehen. Wie ist Gemeinschaft mit seiner Hässlichkeit möglich und mit seiner fühllosen Gelassenheit, die es verschmäht, sie straf end oder verzeihend zu entsühnen, die ihr Freiheit gibt, zu gehen oder zu bleiben? Sie entflieht seiner leidenschaftslosen Reglosigkeit, die alles ihr selbst anheimgibt, die keinen Schuldigen bestraft und den König von Karla frei in sein Reich gesandt hat.

Aber die augenscheinliche Gleichgültigkeit des Gatten verfolgt sie auch in das Haus des Vaters, der sie grollend aufnimmt und der entlaufenen Frau ihren königlichen Rang versagt: keine Botschaft des Königs, kein Zeichen der Sehnsucht oder Ungeduld dringt in ihre erniedrigende Verlassenheit, — als sei sie nie etwas für ihn gewesen. Aber das Trugbild, dessen Liebreiz sie erlag und nicht aus der Erinnerung löschen kann, naht ihr wieder. Mit ihm kommt der König von Kancï, hier lockt Verlangen, und menschliche Bindung greift in das öde Nichts, dem sie wie ein Nichts anheimgegeben ist. Wie sollte die Verlassene ihn, der sie ganz entgleiten ließ, im Geiste nicht wieder verraten.

Um die schönste Frau entspinnt sich ein Kampf; der Betrüger ist nur eine Puppe in den Händen des Königs von Kanci, der sich seiner bedient, um durch seinen Anspruch die schöne Frau in seine Gewalt zu bekommen; aber noch sechs andere Könige rücken heran und machen ihm die Beute streitig. Der Vater versagt die Gattin des dunklen Königs allen und droht, die Entlaufene in sieben Stücke hauen zu lassen, damit jeder der Werber sein Teil an ihr habe, ehe ihr Ansturm sein Reich zerstört. Er zieht ihnen aber doch entgegen und wird vor seiner Stadt von ihnen besiegt und gefangen. Die Schönste ist in der Hand der sieben Könige und soll, um ihren Vater zu retten, nach adeligem Brauch selbst wählen, wem unter ihnen sie gehören will. Schmerzvoll gedenkt sie ihres Königs, dessen Kammer sie im Trotz verließ, und naht der strahlenden Versammlung verhasster Werber, die sie entehren wollen, mit dem Entschluss zu sterben, ehe ein anderer die dunkle Kammer ihres Herzens, deren Tor nur einer geöffnet hat, entweihen dürfte. Erwartend sitzen die Großen in ihrem Schmuck, nur der König von Kanci verzichtet auf allen Prunk, er rechnet darauf, dass ihr Blumenkranz, der den Erwählten unter ihnen bezeichnen wird, unter den Sonnenschirm fallen wird, den der liebreizende Betrüger, an den ihr Auge sich verlor, über sein Haupt halten muss. Aber es kommt nicht zum Letzten. Der unsichtbare König schickt Botschaft an seinesgleichen: das Großväterchen, das Lieder singend mit den Kindern seiner Stadt am Festtage umhertollte, erscheint als kriegerischer Herold und lädt die Könige vor seinen Herrn. Da kommt es zur Schlacht. Der Fürst von Kanc3 kämpft wie ein Löwe, aber die übrigen Könige, ihm verbündet, verraten sich untereinander durch lässige Tat, weil keiner sein Leben einsetzen will, dem anderen den Preis zu gewinnen. Sie fliehen, der Fürst von Kanci erliegt, und der König der dunklen Kammer behauptet das Feld. Sudarsana ist gerettet, in tiefster Demut und seliger Geschlagenheit erwartet sie den Helden ihres Herzens, aber er verzeiht. Er rettet sie und verschmäht den Dank wie das Bekenntnis ihrer Schuld. Sie begreift ihn nicht, und Surangama, die Hüterin der dunklen Kammer, die ihr als einzige auf ihren Leidensweg gefolgt ist, hat als Lösung seines Rätsels nur die Worte, »sagte ich dir nicht: mein König sei grausam und hart, — o wahrhaftig sehr hart?« — Vergeblich auf ihn zu warten, wer ihn finden will, muss ihn suchen. Denn so jäh er naht, mit seiner Glorie Verworrenes schlichtend, Wolken von Unrecht und Gewalt zerteilend, so schnell ist er entschwunden, und niemand weiß wohin. »Deshalb schmäht ihn das Volk und zweifelt an ihm. Aber das ist ihm einfach ganz gleichgültig. Er ist wie von Stein und hart wie Diamant.« Wie ehedem auf der Flucht vor ihm, zieht die Königin wandernd durch den Staub der Straßen, und, von Surangama begleitet, trifft sie ein andres Paar von Wanderern mit dem gleichen Ziel: das Großväterchen und den König von Känci, den ihr Gemahl frei ließ, ohne sich an ihm zu rächen. Ihn, der seiner Unsichtbarkeit trotzte, weil er nur an das Sichtbare glaubt, und ihn mit dem Kampfe um Sudarsana zwingen wollte, aus seinem Geheimnis herauszutreten, hat der dunkle König auf die Wanderschaft geschickt, ihn zu suchen. »Das macht er immer so«, sagt Großväterchen, »— das gehört mit zu seinen Scherzen; — aber ein so gewaltiger Herr er auch ist, er muss sich dem beugen, der sich ihm ergibt.« Und er singt sein Wanderlied: »dies ist meine fröhliche Pilger-schaft zum Lande „Alles verloren“, — alles zu verlieren hoffe ich mit aller Macht!«

Auch der Stolz der Demut, der die Schritte der Königin durch den Staub der Straßen trägt, kann nicht dauern, der Stolz der suchend Wandernden, die ihr Ich zerbrochen hat und sich der Überwindung freut, schmilzt in der Gewissheit, dass es der Ruf vom Ziele war, der sie auf den Weg gerissen hat: »Er kam, ehe du kamst. Wer anders hätte dich auf die Wanderung schicken können.« — »Ich fing an, ihn zu finden, sobald ich ihn suchte.« Zwei Wissende, zwei Neugeweihte kommen die Wanderer zur Stadt des dunklen Königs, »im gemeinen Grau des Staubes nahen wir unserem Herrn. Und werden auch ihn ganz mit Staub bedeckt finden. Denn glaubt ihr, sein Volk schont ihn? auch er kann ihren schmutzigen und staubbedeckten Händen sich nicht entziehen, und achtet's nicht einmal, sich dem Schmutz vom Gewande zu wischen.«

Wieder vereint die dunkle Kammer das Paar: »Wirst du mich jetzt ertragen können?« — »0 ja, ja. Dein Anblick stieß mich ab, denn ich dachte dich im Lusthain zu finden und im Prunkgemach. — Da ist noch dein geringster Diener gefälliger anzusehen als du. Doch diese Sehnsucht verließ meine Augen auf immer. Du bist nicht schön, mein Herr, du stehst über allem Vergleich.« — »Was mit mir vergleichbar ist, liegt in dir selbst.« — »Dann ist auch das unvergleichlich. Deine Liebe liegt in mir, — in der Liebe spiegelst du dich und siehst dein Antlitz in mir wieder — schimmern: nichts daran mein, alles ist dein o Herr.« — Der König der dunklen Kammer öffnet die Tür zum Tag, aber ehe das Licht hereinbricht, betet die Seele: »Ehe ich gehe, laß zu deinen Füßen mich neigen, o Herr des Dunkels, Grausamer, Furchtbarer, Unvergleichlicher DU!«

Der Stoff zu diesem Spiel kam Tagore von einer Geschichte, die schon mehr als zweitausend Jahre vor ihm das Gefallen buddhistischer Erzähler gefunden hatte und von ihnen aus dem Schatze weltlicher Überlieferung ihrer Zeit in den Kranz früherer Leben ihres Buddha geflochten worden ist. Sie ist in der Jataka-Sammlung der Ceylonesischen Schule aufbewahrt, wie in der großen Buddhalegende der Mönche des indischen Mittellandes, die der Lehre von der Überweltlichkeit der Buddhas anhängten: Es war einmal ein junger König von seltener Hässlichkeit. »Hässlich an Farbe und Aussehen, mit dicken Lippen, dickem Kopf und plumpen Füßen. Er hatte einen Bauch, war schwarz wie Tinte, unangenehm und widerwärtig anzuschauen.« Aber er war der Sohn der Hauptgemahlin seines Vaters und war klüger als alle seine Stiefbrüder. Seine Klugheit und Geschicklichkeit zu allen Dingen hatten etwas Übermenschliche§, denn Indra selbst, der Götterkönig, war gnädig bei seinem Werden im Spiel gewesen. Als sein armer Vater, der König über ein mächtiges Reich war, von allen seinen

fünfhundert Frauen keinen Sohn bekam, gab er, einer Sitte folgend, einmal seinen ganzen Harem frei, dass seine Frauen nicht unfruchtbar blieben, und er Erben bekäme. Da erbarmte sich Gott Indra seiner Lieblingsgemahlin, auf dass nicht Menschenhände sie entweihten, und forderte sie für sich in Gestalt eines alten und ekligen Brahmanen, — eisgrau aber noch geil. Um sein Wort zu erfüllen musste der König ihm die Widerstre-bende überlassen. Der Gott nahm sie mit sich, aber er berührte sie nicht. Er gab sich ihr zu erkennen in seiner Herrlichkeit und schenkte ihr Fruchtbarkeit.

Als Prinz Kusa den Thron seines Vaters bestiegen hatte, bat er seine Mutter, ihn zu vermählen. Er wollte aber keine Frau, die ihm ähnlich wäre, sondern es sollte das schönste Weib der Welt sein. Er bekommt es auch: Sudarsana, »Schön anzuschauen«, die Tochter des Königs von Kanyakubja wird ihm zugeführt.

Seine Mutter fürchtet, die Allerschönste werde seinen Anblick nicht ertragen können, und sorgt dafür, dass die in der Ferne am Hofe ihres Vaters ihm Vermählte, die ihn noch nie gesehen hat, dem jungen König nur in völlig dunklem Gemach begegne. Die junge Frau ist unzufrieden, dass sie ihren Herrn niemals zu sehen bekommt, aber die Königin-Mutter bedeutet sie, kein Lichtstrahl dürfe das Glück ihrer Nächte und die Schönheit ihres Gemahls verschwiegen beleuchten. Sie seien beide gleich und unvergleichlich schön und würden vom sündhaften Stolze übermannt werden, wenn sie ihre Augen aneinander weiden dürften. Sie habe diese dunkle Kammer den Göttern gelobt, und erst wenn die junge Königin Mutter geworden sei, erst wenn ihr Sohn das zwölfte Jahr erreicht habe, dürfe ein Lichtstrahl auf ihr Geheimnis fallen. Aber der Wunsch der jungen Frau, ihren Gemahl zu schauen, wird durch solche Worte nicht gestillt. Da sinnt die Mutter auf eine List. Der schönste seiner Stiefbrüder muss den Thron des Königs einnehmen, königlich geschmückt inmitten seiner schönen Brüder und des strahlenden Hofstaats, damit Sudarsana ihn einmal als ihren Gemahl erschaue. Sie ist geblendet von der göttergleichen Schönheit der Versammlung, und der Anblick des Königs entzückt sie. Nur Einer missfällt ihr im prangenden Kreise: König Kusa selbst, der zur Linken des Thrones steht, und den weißen Sonnenschirm, das Zeichen der Herrschaft, über den Bruder hält. »Ist denn in unserem weiten Reiche kein besserer Mann für dieses Amt zu finden, der ist ja gar nicht anzusehen, man hält seinen Anblick nicht aus«, bemerkt Sudarsana zur Königin-Mutter, aber sie wird bedeutet, dieser Mensch sei unvergleichlich an Trefflichkeit und Gaben, »seiner Macht verdanken wir es, wenn wir glücklich leben«. Denselben Bescheid erhält sie vom König, als sie ihn bittet, wenn er sie lieb habe, solle er dieses widerwärtige Wesen aus seiner Nähe entfernen.

Auch der König fühlt das Verlangen, das Glück seiner Nächte im Strahl des Tages zu sehen. Immer wieder muss seine Mutter ihm dazu verhelfen. Sie veranstaltet eine Lustfahrt des Harems in den königlichen Park vor der Stadt, um seine Teiche in der Pracht ihrer Lotosblüte anzuschauen. Kusa geht verkleidet vorauf und verbirgt sich in einem Teich unter den breiten Blättern der Blumen, und als Sudarsana kommt und herabsteigt, um von den schönen Lotosblumen zu pflücken, packt sie der König plötzlich und umschlingt sie. Wie er sie in seine Arme schließt, schreit sie laut um Hilfe, »o weh, ein Wasserunhold will mich fressen« ! Aber die anderen Frauen erkennen König Kusa und hüten sich sein Spiel zu stören. Erst als er von ihr ablässt und verschwindet, bemühen sie sich um die Entsetzte und beglückwünschen sie, dass sie lebendig aus den Klauen des Unholds entronnen sei. Als die dunkle Kammer die Gatten wieder vereint, fragt der Gemahl, »Du gingst in den Park, die Lotosblumen zu schauen, hast Du mir keine mitgebracht? Liebste, liebst du mich nicht?« Darauf erzählt sie ihr Abenteuer und wie sie gerade noch mit dem Leben davon gekommen sei, und er sagt ihr, »geh' nicht wieder zum Lotosteich, die Blumen zu schauen; auch ich wäre dort einmal um ein Haar von einem Wasserunhold gefressen worden«. Bald gelüstet es den König wieder, der Geliebten bei Tage nahe zu sein, und die gleiche Szene wiederholt sich im Mangohain. Der Königin aber entgeht es nicht, wie ähnlich der Waldunhold, der sie hier überfiel und zu fressen drohte, als der König sich über sie warf und mit Küssen bedeckte, jenem anderen Unhold im Wasser war, und wie beide dem hässlichen Schirmträger glichen, »als habe eine Mutter sie geboren«. Und wieder treibt es Kusa, der Schönen außerhalb der dunklen Kammer zu begegnen, sich für den Abscheu zu rächen, den sie vor seiner Erscheinung empfindet, und ihre Ahnungslosigkeit zu necken, dass sie nächtlich in ihre Arme schließt, was ihr im Tageslicht ein Greuel ist. Sudarsana geht mit den anderen Frauen, die Elefantenställe des Königs zu besehen, und Kusa ist ihr in der Tracht eines Wärters nahe. Wie sie sich zum Gehen wendet, wirft er ihr einen Klumpen Elefantenkot in den Rücken, der ihr Gewand beschmutzt. Aufgebracht beklagt sie sich bei der Königin-Mutter, die an ihrer Seite geht, über die Frechheit dieses Burschen, dass man so etwas der ersten Gemahlin des großen Königs bieten dürfe und verlangt eine Bestrafung. Aber die Mutter beruhigt sie und sagt, dieser Elefantenwärter könne nicht bestraft werden, da sei nichts zu machen. Ebenso geht es ihr zu anderen Malen, als sie die Pferdeställe und den königlichen Wagenpark betritt, unerkannt bewirft König Kusa sie jedes mal beim Weggehen mit Kot.

Eine zufällige Begegnung zerreißt das Netz des Truges, mit dem der König spielt. In den Elefantenställen bricht Feuer aus, und so viele Hofleute und Bürger auch zu Hilfe eilen, sie können seiner nicht Herr werden. Der Harem gerät in Aufregung, das Feuer droht auf die Gebäude des Schlosses überzugreifen. Da eilt König Kusa, der gerade außerhalb der Residenz weilte, herbei, legt selbst Hand an, und seine Kraft und Unerschrockenheit meistern in Kürze die Gefahr. Das Feuer wird bezwungen und von den wertvollen Tieren, denen der Tod in den Flammen drohte, kommt auch nicht eines um. Jubelnd umdrängt die Menge den König, Hofleute, Bürger und Frauen des Harems, und eine von ihnen redet ihn preisend an. Sudarsana vernimmt ihre Worte und erkennt, wer ihr König der dunklen Kammer ist. In seiner ganzen Hässlichkeit steht Kusa vor ihren Augen. Die göttergleiche Pracht ihres Daseins ist ihr verleidet, »ich will nichts essen und nichts trinken; was fang ich mit dem Leben an, wenn ich mit diesem Teufel zusammen sein muss«. Sie ging zur Königin-Mutter: »Lass mich frei, ich will nach Kanyakubja zu Vater und Mutter. Lässt du mich nicht ziehen, so lege ich Hand an mich und bringe mich um.« Da dachte die Königin-Mutter, »Besser ist es, diese Königstochter lebt, als dass sie stirbt«, und sagte zu ihr, »Geh, wohin du willst«.

Ohne Abschied vom König eilt sie hinweg. Kusa ist über ihre Flucht untröstlich. Keine andere Frau seines Harems kann ihn reizen. Er muss Sudarsana wieder haben. Er überträgt die Regierung einem seiner Stief-brüder und wandert verkleidet nach Kanyakubja. Unerkannt tritt er dort bei einem Kranzwinder als Geselle ein und übertrifft mit seiner Kunstfertigkeit die Arbeiten des Meisters und alles, was man bisher an Werken dieser Art gesehen hat. Seine Stücke erregen bei Hof Bewunderung, die Frauen des Harems sind entzückt, nur Sudarsana will von ihnen nichts wissen: sie bemerkt an ihnen den Namen Kusas, den ihr Gemahl heimlich angebracht hat. Sie entnimmt daraus, dass er unerkannt in der Stadt weilt, dass er sie verfolgt, um sie wieder zu bekommen. Aber sie hütet sich, das Geheimnis zu verraten; sie will nichts mehr von ihm wissen. Als dieser Weg der Annäherung versagt, geht Kusa als Geselle zu einem Töpfer, und wieder erregen seine Arbeiten das Entzücken von Hof und Harem; nur vor den Augen Sudarsanas, die erkennt, wessen Händen sie entstammen, finden sie keine Gnade. Aber der standhafte König lässt nicht ab; nachdem er noch in verschiedenen Handwerken fruchtlos mit Meisterstükcken um die entflohene Gattin geworben hat, findet er seinen Weg schließlich in die Küche des Königs und, wie in allen anderen Fertigkeiten leistet er hier in der Kochkunst Bewundernswertes. Der König — sein Schwiegervater — ist begeistert und macht ihn zum Leibkoch der königlichen Familie. Er bekommt Zutritt zum Harem, um seine Speisen auszutragen. Sudarsana kann einer Begegnung mit Kusa nicht mehr ausweichen. Es kommt zu einem Wiedersehen der Gatten, bei dem der Mann werbend der Frau gegenüber tritt, deren Bann ihn nicht los lässt, während von ihr nur Kälte, Abweisung und Hohn ausgehen. Beide stehen einander gegenüber, wie jener königliche Mann Purfiravas, der Erdensohn, und das lustvolle Weib aus dem Götterhimmel, Urvasi, deren bitteres Wiedersehen nach jäher Trennung alte Verse eines vedischen Zwiegespräch-Liedes berichten. Verließ Urvase den »König ihres Leibes«, der dreimal des Tages mit der übermenschlich Schönen der Liebe pflegen durfte, nicht ebenso erbarmungslos und geschwind wie Sudarsana ihren Gatten? Verließ sie ihn nicht, weil ein Pakt gebrochen war, weil das Geheimnis ihrer dunklen Kammer jäh erhellt wurde? Sie hatte ihn gewarnt: Ihre Augen durften nicht auf seine Nacktheit fallen, die sie im Spiel und Liebeskampf genoss. Aber wie er sich nächtlich schnell erhob, um die beiden Lieblingslämmer der Geliebten zu retten, deren klagendes Blöken durch das Dunkel scholl, als himmlische Gesellen des Götterweibes sie raubten, und in Hast und Zorn verschmähte, sein Gewand überzuwerfen, erhellte Lichtschein wie ein Blitz die dunkle Kammer, und die Göttliche sah den Erdensohn in seiner Nacktheit. Jäh verließ sie den Buhlen. So hatten es ihre himmlischen Gesellen gewollt, für deren Neid das Glück des Menschenkindes in den Armen der Göttlichen schon allzu lange gewährt hatte. Sie schufen den jähen Schein im dunklen Gemach der Liebenden, der die Ungleichheit des Paares offenbar machte.

In liebestoller Verzweiflung irrt der Verlassene umher und sucht die Entwichene. Im wilden Walde findet er sie schließlich wieder, schwanengleich in einem Teich mit anderen Götterfrauen spielend. Wie Kusa und Sudarsana reden sie miteinander: Liebe heischend und kalt versagend. Aber während Pururavas sich in wilden Klagen, Bitten und Beschwörungen ausströmt und verzweifelt sich zu töten droht, als Urvasi in höhnischer Abweisung unerbittlich bleibt, steht Kusa gelassen vor der widerspenstigen Geliebten.

Gewiss: er zog ihr nach und will nicht ohne sie heimkehren, aber er ist gefasst; bereit ein Leben lang dienend um sie zu werben. Kein anderes Weib kann ihn verlocken, dem daheim 'ein Harem erwartend blüht, und auch das Aussichtslose seines Werbens schreckt ihn nicht, das Ende wird es lehren, ob er ein Tor war oder weise in seiner Unbeirrbarkeit. Sudarsana überschüttet ihn mit Hohn und bitteren Worten : nie wieder will sie mit ihm zusammen leben, tausend Frauen kann er in einer Nacht haben, was ist er so auf sie allein versessen, dass er soviel Pein um ihretwillen auf sich nimmt, die ihn nicht ertragen kann. Lieber will sie sich in Stücke hacken lassen, so schwört sie ihm, als wieder die seine werden. Er mag sich eine Hündin oder ein Schakalweib zur Liebe suchen. — Ihr Schwur wird schneller auf die Probe gestellt, als sie ahnen konnte. Sieben Königen von Nachbarreichen ist es zu Ohren gekommen, die allerschönste sei ihrem Gemahl davongelaufen; sie rücken mit Heeresmacht heran und wollen sie jeder für sich zum Weibe. Ihr Vater verzweifelt, wie er sein Reich vor ihrem Ansturm retten soll. Gibt er die Tochter einem von den sieben, werden die sechs Enttäuschten über ihn herfallen und seiner Herrschaft den Garaus machen, gibt er sie keinem, so hat er sie allesamt gegen sich. Er droht, die Tochter, deren pflichtvergessene Flucht das ganze Unheil heraufgebracht hat, in Stücke hacken zu lassen, damit jeder der ruchlosen Freier sein Teil an ihr bekomme. Sudarsana sieht sich schon tot und klagt der Mutter ihr Leid: Sie soll auf ihr Grab einen Karnikarabaum pflanzen und, wenn er im Frühling goldgelb wunderbar in Blüte steht, der Schönheit ihres Kindes gedenken, über die Sudarsana so eifersüchtig wachte und die ihr den Tod gebracht hat. Ihrer gedenkend soll sie bei sich sprechen, »so schön war auch Sudarsana«. — Die Verzweiflung treibt sie zu König Kusa, der im Schmutz des Küchenhofes steht und Schüsseln spült; mit zitternden Gliedern tritt sie zu ihm und spricht ihn an. Die Mutter sieht, wie die Königliche unten mit dem Knecht redet und schilt sie. Da löst die Not ihr die Zunge, und sie bekennt sich zu ihrem Gemahl. Er wird der Retter in der Not. An der Spitze des Heeres zieht er vor die Stadt, ins Angesicht der Feinde und besiegt ihre Übermacht im Augenblick ohne Schwertstreich. Auf seinem Kriegselefanten sitzend stößt er, während die Seinen sich alle die Ohren verschlossen haben, seinen furchtbaren Kriegsschrei aus, den Löwenruf, vor dem die Heere der Feinde entsetzt auseinanderstieben. Die Könige, die nach seiner Gemahlin lüstern waren, fallen lebend in seine Hand. Er schont sie und heißt seinen Schwiegervater sie mit sieben andern seiner Töchter vermählen. Siegreich kehrt er, Sudarsana neben sich, in sein Königreich zurück.

Aber noch liegt der Fluch der Hässlichkeit auf ihm. Ward sie ihm zuteil, weil seine Mutter den Götterkönig in Gestalt des ekligen Brahmanen verschmäht hat und ihn eine ganze Nacht, ehe er sich in seiner himmlischen Glorie ihr offenbarte, um Liebe winseln ließ, unfähig sich ihm hinzugeben? — Unterwegs badet Kusa in einem Teiche und sieht sich selbst in seiner ganzen Missgestalt. Es ekelt ihn, er will ein Ende mit sich machen. Da naht der Götterkönig ihm in seinem Himmelsglanz und beschenkt ihn mit einem Lichtjuwel. Wenn er es an seiner Stirn trägt, verklärt ihn sein Glanz zum Schönsten aller Sterblichen, bedeckt er es, erscheint er in seiner früheren Gestalt. Begeistert grüßen alle dieses Wunder der Verwandlung. Sudar-sanà flüstert, »mein König, bedecke das Juwel niemals, lass mich Dich immer so in deiner Herrlichkeit erschauen«. Über vier Jahrtausende und wohl noch länger ist die Geschichte vom König der dunklen Kammer auf mehr als einem Wege in Indien gewandert, ehe sie in Tagores zarten Fingern zu einem Symbol des Kampfes der Seele mit der unergründlichen schauervollen Tiefe Gottes ward. Ihr Ursprung ist Vergessenheit.

Aus der mythischen Welt des Altertums ward als ihre früheste Form bewahrt, was in das sakrale Liederbuch magischer Priesterschaft und in die Deutungen des Rituals einging. — Pururavas und Urvasi sind große Bilder der beiden Geschlechter, der ewigen Zeugungskraft und Empfängnislust, auf deren zitternden Wellen alles Leben tanzt. Mit ihren Namen nannten die Priester das Holzbrett von einem weiblichen und den Stab von einem männlichen Baume, die sie quirlend ineinander führten, dass der Glut ihres Liebestanzes der göttliche Funke heiligen Feuers entspränge.

Im Rig-vedischen Liede wendet das Schicksal des Königs der dunklen Kammer sich nicht so glücklich wie in der Geschichte der buddhistischen Mönche. Er führt die Geliebte nicht wieder heim, um, von ihr anerkannt, an ihrer Seite zu leben, von übermenschlicher Schönheit verklärt, die allen Unterschied zwischen Beiden löscht. Die Kluft zwischen Göttin und Mensch klafft unüberbrückbar, nachdem ein grelles Licht sie der nachtwandelnden Liebe offenbar gemacht hat. Pururavas findet Urvasi am Teiche nur wieder, um zu vernehmen, dass er sie lebenslang verloren hat. Einsam kehrt er vom Zwiege spräch am Waldsee heim. Aber Trost wird ihm zuteil: Ober ein Jahr wird Urvasi auf eine einzige Nacht in seine Arme zurückkehren. Und wird ihm den Sohn bringen, den sie von ihm empfangen hat.

Dann, nach Jahresfrist, wird ihm Hoffnung zuteil: die Geliebte verkündet ihm, dass die himmlischen Wesen, die durch ihre List das Geheimnis der dunklen Kammer zerstörten, ihm einen Wunsch gewähren werden. Da spricht er die Bitte aus, die sie ihm eingab: »Ich will einer der Euren sein.« Und die Wesen der höheren Welt schenken ihm himmlisches Feuer zum Opfer, durch das er einer der ihren werden kann, auf immer mit Urvasi im Himmel vereint.

Die Weisheit der Priester lehrt in den Brahmanas der hundert Pfade, wo die Strophen des Rig-vedischen Liedes gedeutet werden, dass die Gabe der Himmelswesen, der himmlische Feuerbrand und die Schale, in der er lohte, in einem Augenblick, da Pururavas nicht acht auf sie hatte, verschwanden, als er sie kaum erhalten hatte. Er ward belehrt, sie seien in Bäume eingegangen: der Feuerbrand in einen männlichen, die Schale, die ihn barg, in einen weiblichen. Die Erörterung der Frage, wie er aus ihnen beiden das himmlische Feuer wiedergewinnen soll, des-sen Glut seinem Opfer die Kraft verlieh, ihm die Pforte des Himmels zu entriegeln, schließt die Erzählung. Hier lag für das ritualistische Denken der Priester der Sinn der Geschichte von Pururavas und Urvasi. Hier fanden sie Ursprung und Erklärung ihres Ritus der Feuererzeugung und in Pururavas später Vereinigung mit Urvasi das Unterpfand and der hohen magischen Wirkung seines Gebrauchs auf das Schicksal des Opfernden jenseits des Todes.

Der Dichter des alten Liedes, das die Priester in den Schatz kultischer Formeln retteten, weil sie es verstanden, wie es ihrer Sphäre gemäß war, sagt Tieferes von der Bedeutung der dunklen Kammer, die Pururavas und Urvasi vereinte. Er lässt Urvasi selbst an den Sinn der grausamen Trennung von dem Geliebten rühren, an die bittere Wahrheit, die ihrer Flucht und Kälte Recht gibt. Wohl war Pururavas den Unsterblichen gleich an unerschöpflicher Manneskraft, er war ein Gott, wenn ihre Umarmungen ihn zu immer neuer verschwenderischer Glut entfesselten, und sie im Spiel der Seligen in eins verschmolzen. Vier Jahre lang verbrachte sie Nacht um Nacht mit ihm. Aber er ist ein Sterblicher, dem Tode unterworfen. Keine dauernde Gemeinschaft ist möglich zwischen den Kindern der Erde und den Himmelsbewohnern. An Allem sind sie wesensverschieden.

Urvag spricht:
»Als ich verstellt unter Sterblichen weilte
vier Herbste Nacht um Nacht mit dir vereint,
aß ich einzig ein Stückchen Butter
des Tags, — und bin noch immer davon satt.«

Aller Wunsch und alle Kunst, die Grenze zwischen Mensch und Gott auszulöschen, scheitert am ewigen Unterschied göttlichen und irdischen Wesens. Einst waren die Menschen Gefährten der Götter und halfen ihnen als Priester und Helden die Weltherrschaft gewinnen im Kampf mit den Dämonen, halfen ihnen zum Besitz der Sonne, dem Kern ewigen Lebens. Der Heilige Vasigha war dem königlichen Gotte Varuna befreundet, dem Könige der Götter, Indra, verband sich ein Ahn des ältesten Priestergeschlechts, Brihaspati, mit seiner magischen Kunst, wie seine Enkel irdischen Königen, und ward selbst zum Gott unter Göttern, — nicht der einzige Mensch, der zu den Unsterblichen aufstieg und ihresgleichen ward. So war es im ersten der Weltalter, als das göttliche Element der Wahrheit und die wahrhafte Ordnung aller Dinge, die auf ihr beruht, noch unvermindert in das Gewebe menschlichen Daseins eingehen konnte, ehe die Dämmerung des zweiten Weltalters anbrach, die den Menschen ein erstes Viertel des Göttlichen entzog, und der vertraute Umgang von Göttern und Menschen, gewohntes Auf und Ab zwischen Himmel und Erde, ein Ende nahm. Zu Ende ging die Zeit übermenschlicher

Seher, die von Angesicht zu Angesicht den Göttern gegenüber traten und ihre Schau in Hymnen fassten. Jetzt ward das Ritualwissen wichtig, magische Kunst schlug geheimnisreiche, gefahrvolle Brücken über den Abgrund zwischen Gott und Mensch, die Weisheit der Alten vom Wesen der Götter dem Spätergeborenen wahrend und dem getrübten Menschen deutend. Wie ein schwermutsvoller Liebesblick auf die Zeiten hoher Ahnen ist das Lied von Pururavas und Urvag, ein spätes Glied der alten Hymnendichtung, das mit tragischem Ernst die Grenze des Menschtums zieht. Sein Ausklang verflicht unerbittliche Bescheidung des Menschen in den ihm zugemessenen Bereich mit magischem Trost und Verheißung göttlichen Lebens nach dem Tode:

Urvasi spricht:
»So sprechen die Götter zu Dir: es ist einmal so,
du bist dem Tode verwandt.
Dein Geschlecht soll den Göttern opfern, du selbst im Himmel selig sein.«

Die Seligkeit des Himmels in Urvag verkörpert, lässt sich nicht auf die Erde bannen, aber Verehrung der Götter, Opfer frommer Enkel, führen nach dem Tode zu ihren seligen Höhen. Ein weiter Weg durch die Zeiten von dem unbekannten großen Schöpfer des alten Liedes zum Erzähler angloindischer Prosa, zum Lyriker des Brahma Samaj, — ungefähr so weit wie das Feld, das im Lichte der Überlieferung indischen Geistes liegt. Es ist nicht leicht, einen völligeren Wandel der Bedeutung zu denken, als er über das Symbol der dunklen Kammer im Wandel der Jahrtausende gekommen ist. Mit dem Sinn seiner Teile hat sich auch die Spannung seiner Kräfte, die Lagerung seiner Gewichte völlig verschoben. Eine entscheidende Veränderung, die Tagore den Weg für seine neue Form freigab, war bereits eingetreten, als die Buddhisten den Stoff aus dem Strome weltlicher Erzählung schöpften. Das himmlische Weib war zum Men-schenkind geworden. Da wurde der Mann, der es nur in dunkler Kammer erleben durfte, mit unholdhafter Hässlichkeit beladen, um die Kluft tiefer Ungleichheit zwischen den Nahegerückten zu wahren. Aber des Mannes Missgestalt ist nun nichts Allgemeines mehr, ist nicht mehr Natur, wie das Menschtum des Pururavas.

Darum bedarf sie einer Erklärung. Es muss etwas geschehen sein, was sie verursacht hat. Weil die Mutter vor der ekligen Scheingestalt des Götterkönigs Abscheu empfand, wird ihr ein ungestalter Sohn geboren, vor dem die Frau, die er liebt, erschaudert, wie einst die Mutter vor dem Gotte, wenn das Dunkel der Kammer seine Gestalt nicht mehr verhüllt. Aber was nur dank einer seltsamen Begebenheit vor seiner Geburt über Ku§a verhängt worden ist, kann durch ein zweites Wunder von ihm gewonnen werden. Gott Indra darf und muss den Makel tilgen, an dem der König schuldlos ist. Nachdem der alte Mythos zur volkstümlichen Wundergeschichte geworden ist, fordert das die Logik seines neuen Stils. Die Form einer rechten Wundergeschichte ist der Ring; das Ende muss sich zum Anfang finden und die Knoten lösen, die er geknüpft hat. Milder Schimmer der Verheißung verklärt Purruravas den abendlichen Horizont der Hoffnung. Dem Tode verwandt wartet er gläubig gewiss, aber in einsamer Sehnsucht, der Stunde, die durch das Tor des Todes ihn zum Glück der Unsterblichen aufwärts geleitet, das er einst in seiner dunklen Kammer mit Urvasi vereint auf Erden kostete. In der Wundergeschichte von König Kusa folgt der notwendige Schlussakkord, der ihr Grundmotiv, die große Dissonanz, beglückend auflöst, ihrer breiten Entfaltung, ohne dass eine Fermate von unbestimmter Dauer sich dazwischen schöbe. Hier konnte allmählich die völlige Verschiebung der Gewichte im Grundgefüge der Fabel einsetzen. Der glückliche Ausgang, das Unverdiente des Verhängnisses, die Beziehung seines Ursprungs zum König der Götter statteten den Helden bei seiner Missgestalt mit Zuversicht und heiterem Siegesgefühl aus, die dem tragischen Symbol der Grenzen menschlicher Natur versagt sein mussten. Die Huld des Gottes hatte ja in Kusa ein Wunder von Mensch geplant, als Geschenk an den frommen Vater und seine Königin, deren Hoheit den Gott rührte, als sie nicht wie die übrigen Frauen des Harems sich der unverhofften Freiheit freute und wie die andern von Umarmung zu Umarmung schwärmte. Es war nicht Indras Schuld, dass dem göttlichen Elixier, mit dem er die Königin beschenkte, in ihrem Leibe ein so hässlicher Sohn entspross. Sie hatte in der Stunde der Prüfung vor dem Scheine seiner Missgestalt versagt, so blieben ihrem Sohne zwar übermenschliche Gaben an Klugheit und Kraft, aber die himmlische Schönheit fehlte. Nun sind die Gewichte vertauscht. Das Weib der dunklen Kammer ist bei aller Schönheit nur ein Erdenkind, aber der werbende Mann, den es verabscheut, nachdem es ihn im grellen Lichte seiner nackten Hässlichkeit gesehen hat, kommt vom Himmel her. Tagore vollendet nur diese Umkehrung, wenn er den König der dunklen Kammer zum Sinnbild Gottes macht und seine Königin zum Zeichen für die Menschenseele.

Vielleicht erweist man dem Spätgeborenen keinen großen Liebesdienst, wenn man sein silbermattes lyrisches Schat-tenspiel in die lebensträchtige herbe Nähe des schwermutvollen alten Liedes und neben die launige, farbenfrische und tiefsinnige Wunderwelt der buddhistischen Erzählung stellt. Aber sein Verdienst um das alte Symbol der dunklen Kammer wird dabei offenbar. Er hat ihr wieder einen Sinn gegeben, wie sie zur Zeit des alten Liedes einen besaß, während sie im Munde der Mönche zu einem bloßen Fabelstück geworden war. Sie griffen neben anderen die prachtvolle Erzählung unbedenklich auf, um fromme Weltkinder, die Buddhas Lehre anhingen, damit zu unterhalten. Mehr noch als die Entfernung über viele Jahrhunderte trennte sie die geistige Welt des Ordens, in dem sie lebten, von den Gedanken des verschollenen Dichters, dessen großes Lied kaum einer von ihnen vernommen haben kann, keinem von ihnen zu deuten aufgegeben war. Sie begnügten sich, den dankbaren Stoff mit einer leichten Floskel äußerlich in ihr großes Repertoire der früheren Leben des Buddha einzufügen. Die ceylonesische Überlieferung erzählt, man brachte einen Mönch vor den Erleuchteten, dem war das Ordensleben leid geworden.

Auf einem der täglichen Bettelgänge in die Stadt hatte er gegen die Regel den Blick erhoben und ein schön geschmücktes Weib betrachtet. Da sehnte er sich wieder ins Weltleben zurück. Der Meister redete ihm sein Gelüsten aus, indem er ihm erzählte, wie viel Leid vor Zeiten über König Kusa gekommen sei um eines schönen Weibes willen. Und deutend schloss er, dass niemand anderes als er selbst damals Kuga gewesen sei. — Auch die Mönche des indischen Mittellandes, die der Lehre von der Überweltlichkeit der Buddhas anhangen legen dem Meister diese Gleichung zwischen sich und König Kusa in den Mund. Nur der Anlass für den Erhabenen, von diesem seiner früheren Leben zu erzählen, war nach ihrer Überlieferung ein anderer. Der Buddha spricht zu den Mönchen von den großen Ereignissen und Kämpfen, die seine sieghafte Erleuchtung begleiteten. Als in der Dämmerung des Morgens unter dem Baume der Erleuchtung das Licht der Wahrheit ihm aufgegangen war, und alle Fesseln des Lebens zerrissen lagen, jagte er mit einem kleinen Laut seines Mundes, — es war noch nicht einmal ein Wort, — das Heer des Versuchers, des Herrn der Welt des Scheins, der mit der Lockung der Lebenslust und mit Drohung der Vernichtung alle Geschöpfe im Kreise von Geburt und Tod gefangen hält, in die Flucht. Das unabsehbare Heer dräuender Unholde, scheußlicher Fratzen, die ihn im Dunkel der Nacht vom Sitze der Erleuchtung hatten schrecken wollen, zerstob in Nichts. Die Mönche sind von Staunen bewegt über die Wunderkraft des Erleuchteten. Aber der Erhabene bedeutet sie, dass schon früher einmal vor einem Laut seines Mundes ein großes feindliches Heer zerstoben sei. Und erzählt die Geschichte von König Kusa.

Die buddhistische Überlieferung war für Tagore verschüttet, als er dem Symbol der dunklen Kammer seine neue Bedeutung gab. Immerhin hat der wandlungsreiche Stoff auf seinem Fluß bis in die Gegenwart ihn in einer Form erreicht, die der buddhistischen eng verwandt war.

Enger als die Gestaltungen, die in der späteren brahmanischen Überlieferung: in Mahabharata und stilverwandten epischen Texten der Sektenliteratur bewahrt worden sind. Hier schützte priesterliche Tradition, die ohne abzubrechen durch die Jahrtausende lief, nicht nur die Namen von Held und Heldin, sondern auch ihren alten himmlisch-irdischen Gegensatz. Auch von Kalidasa, dessen lyrisches Schauspiel Urvasa der brahmanischen Überlieferung entwächst, aber sie ins Untragisch-Idyllische umbiegend freier verwertet, als Tagore seinen unbekannten wild wachsenden Schössling vom alten Stamme, trennt ihn hier eine Welt. Das Motiv des Brandes, den der König meistert und der ihn vor der Geliebten entlarvt, — ein Knoten im Gewebe Tagores — findet sich nur in der Erzählung der Mönche des Mittellandes. Die ceylonesische Überlieferung kennt ihn nicht. Sie verlegt die Erkennungsszene an den Lotosteich und macht dieses Zusammentreffen zur letzten Abwandlung des Begegnungsthemas. Aber eben dieses Motiv des Brandes ist alt. Es gehört zusammen mit der Rettung der wertvollen Tiere, die in den brennenden Elefantenställen durch ein von außen überraschend kommendes Unheil bedroht sind. Beides sind durchsichtige Wandlungsformen des verhängnisvollen Lichtscheins im Liebesgemach des Pururavas und der schon verlorenen aber noch geretteten Lämmer. Beide Paare von Zeichen hier und dort sind einander so unähnlich und sind dabei in der Funktion so identisch wie wechselnde Symbole in verschiedenen Szenen einer zusammenhängenden Traumfolge, die in der Welt des gleichen Triebes dieselben Wunschziele oder Hemmungen verschleiert ausdrücken, deren nacktes Auftreten das Bewusstsein missbilligt. Ein wandlungsvolles Zeichen in den älteren Fassungen der Fabel ist bei Tagore verschwunden: das Geschenk des

himmlischen Feuerbrandes, das Pururavas Unsterblichkeit verleihen soll, und das Lichtjuwel, das Kusa überir-dische Schönheit schenkt. Beide gehören zueinander als Wandlungsformen eines Wertes, wie die eben genannten Zeichenpaare. In der Tradition der Mönche des Mittellandes heißt das Juwel jetzt »Jyotirasa«, »dessen Essenz himmlisches Licht ist«, und die ceylonesische Überlieferung nennt es »Verocana«. Verocana ist ein Name der Sonne, und die Sonne ist in der alten Zeit die Stätte der Unsterblichkeit, ihr Besitz Unterpfand todentrückter Göttlichkeit, zu ihr steigen die Seligen auf. Wenn Indra dieses Juwel Kusa verleiht, verklärt er ihn zum Unsterblichen. Aber sein Schein an der Stirn des Königs, der seine angeborene Unvollkommenheit schimmernd verhüllt, strahlt für unseren wissenden Blick auch auf die Königin Sudarsana und verrät ihre vergessene himmlische Abkunft. Um ihr ganz gleich zu sein, bedurfte Kusa des Sonnenjuwels der Unsterblichkeit. Hier ragt der himmlisch-irdische Gegensatz von Götterweib und Menschenkönig des rig-vedischen Liedes in die verwandelte Fabelwelt der frei weiter gewachsenen Wundergeschichte hinein, wie Sudarsanas elementarer Widerstand gegen Kusas Hässlichkeit — eine Art Naturgewalt in seiner Unbeirrbarkeit — als verwandelte Auswirkung des unüberwindlichen Gegensatzes zwischen Gott und Mensch seine Erklärung findet. Tagore kennt keinen himmlischen Feuerbrand und hat auch keinen Raum für das Sonnenjuwel der Unsterblichkeit.

Gott und Mensch, der Unendliche und das Unendlich-Kleine sind einander nah und fern, sind eines und voneinander geschieden, wie der Strom, der von den Bergen kommt und breite Ebenen durchfließt, und das Meer, in das er mündet, um Name und Gestalt zu verlieren. Aber der Weg ist weit und währt unendlich lange, so lange wie das Fließen des Stromes, dessen Mund das Weltmeer küsst, indes sein Wellenleib ewig und ewig nach ihm hinverlangt. Auch wer um Gott weiß und in ihm mündend sich schon in ihn verliert, bleibt ein ewiger Wanderer zu ihm hin. Ein Zwiegespräch unter den späten Liedern, die »Zum anderen Ufer« drängen, zieht die Grenze des Menschtums, wie Tagore sie fühlt: Bescheidung und Verheißung flechten sich in eins:

»Wanderer, wohin geht dein Weg?«
-baden geh ich im Meer beim Morgenrot entlang dem baumbesäumten Weg. —
»Wanderer, wo ist das Meer?«
-wo der Lauf des Flusses endet, Dämmerung sich in Morgen wendet, wo der Tag ins Dunkel rollt. —
»Wanderer, ziehen viele mit dir?«
-weiß nicht, wie ich sie zählen sollt.
sie wandern alle Nächte
mit Lampen in der Hand,
sie singen alle Tage
auf den Wassern und über Land. —
»Wanderer, wie weit ist das Meer?« — das ist unser aller Frage: wie weit?
seiner Fluten Steigen
dröhnt bis an die Sterne,
wenn unsere Stimmen schweigen
-nah erscheint es und ist ferne. —
»Wanderer, wie die Sonne sengt!«
-Ja, der Weg ist lang und schwer, singe, wem das Herz bedrängt, singt, wenn eure Seele leer. —
»Wanderer, überfällt euch Nacht?«
-liegen schlafend wir umher, bis des Tages Lied erwacht und der Ruf vom Meer. —

Kein Gnadengeschenk Gottes, dessen Wesen für die Vielen schonendes Dunkel umgibt, enthebt die Seele mit einem Wunderakt ihrem Menschtum, erhebt sie über den Abgrund der Vergänglichkeit, in den mit dem Tode der Gattin und blühender Kinder dem Dichter jäh die Idylle eines reichen Lebens versank. Irrtum und Trotz, Leiden und Einkehr reifen die Seele dazu, Gott zu ertragen, wie er ist in seiner Unfassbarkeit. Aber auch wer Gott ergriffen hat und verwandelt ihm geweiht ist, bleibt Mensch, ein Pilger unendlichen Wegs, wie der Strom ewig zum Meere wallt, —

»Nah erscheint es und ist ferne« —
erfahrbar und unfassbar: das ist Gott.
Endliches und Ewiges stehen einander gegenüber,
und ihre Vereinigung ruht im Schoße
der Ewigkeit.

Im letzten seiner Lieder »Zum andren Ufer« ruft Tagore noch einmal die ganze Zerbrochenheit und kalte Ode auf, deren Überwindung die Totenlieder versuchen. In einsamen dunklen Tönen, die wie fahle Garbenbündel auf nächtlichem Feld sich aneinander halten, steigt der Schmerz der Kreatur, die leidvoll sich in das verhängte Opfer des Liebsten fügt, zum wolkenschweren Abendhimmel eines Lebens auf :

»Mein Weggesell,
nimm meinen Gruß eines Wandernden an,
meines gebrochenen Herzens Herr,
Herr über Verlust und Abschied schwer,
Herr des schweigenden Abendgrau's
nimm meinen Gruß aus verödetem Haus.«

In die versammelte Schwere dieser dunklen Klänge jagen jäh sie durchbrechend, einer oberen Mitte entquellend, Fanfaren hellen Lichtes und zerschneiden sie kreuz und quer, dass vor ihrer Macht Seufzer verstummen und Tränen versiegen. Unvermittelt wie ein Wunder brechen sie herein, unverbunden und selbstherrlich sich über-strahlend:

»0 Licht am neuen Morgen!
Sonne am ewigen Tag!
dich grüßt die Hoffnung, die nicht sterben kann!
Wegweisender, ich bin ein Wandernder
endlosen Wegs,
nimm meinen Gruß eines Wandernden an!«

Eben der Glaube des unendlich Kleinen, der die unendliche Weite zu Gott hin überfliegt, der die unendliche Entfernung von Mensch zu Gott in sich aufzunehmen vermag, ohne daran zu zerbrechen, gibt dem Menschen die Würde und die Kraft, in seiner Sphäre der Preisgegebenheit dem Unzerbrechlichen ins Angesicht zu schauen und ihn zu ertragen. Das Wissen um die Ewigkeit des Weges und das Ja zu diesem Wege sind das unendliche Teil am Menschen, das ihn dem Unendlichen in aller Demut und Entfernung verwandt macht. Es ist der selige Weg zum Lande »Alles verloren«, den die Königin zu ihrem König der dunklen Kammer geht.

In der Kurve vom rigvedischen Liede zum Spiele Tagores spiegelt sich die Wandlung indischen Lebens- und Gottes-gefühls, von den »Göttern auf Erden«, wie sich die vedischen Brahmanen fühlten und nannten, zur demütigen Hingabe an Gott (bhakti) des Hinduismus, deren Klänge Tagore aus indischem Volksgesang und Sektenlehren in die Weltliteratur der Gegenwart hinübergetragen hat.

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