Herr

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Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993

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Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken

Teil 4: Der große Oberherr

Dieselbe Polarität der männlichen und weiblichen Prinzipien hat in einem der großartigsten Dokumente symbolischer Hindukunst Ausdruck gefunden: der großen Shiva-Trinität von Elephanta, einem im achten Jahrhundert nach Christus geschaffenen Meisterwerk der klassischen Periode. Es ist nicht das zentrale Bildwerk des Tempels, weil der Hauptgegenstand der Verehrung hier ein Stein-Lingam ist. Es ist nur eines aus einer Zahl dekorativer Reliefs, in der riesigen unterirdischen, aus dem Felsen gehauenen Halle, die den Schrein in der Mitte umgibt. Dennoch handelt es sich um ein Werk, das kaum seinesgleichen haben dürfte. Was es darstellt, ist eben das Mysterium der Entfaltung des Absoluten in die Dualitäten der Erscheinungswelt, Dualitäten, die für die menschliche Erfahrung sich in der Polarität des Männlichen und Weiblichen personifizieren und in ihr gipfeln.

Das mittlere Haupt des dreifaltigen Bildwerks stellt eine Repräsentation des Absoluten dar. Majestätisch und sublim ist es die göttliche Wesenheit, aus der die beiden anderen hervorgehen.

Über der rechten Schulter der göttlichen Erscheinung zeigt sich, beständig aus der mittleren Gestalt herauswachsend, das männliche Profil Shivas, des »Großen Gottes« (Mahadeva). Virilität, Willenskraft und Herausforderung wohnen in seinen erzenen Umrissen, Hochmut, Tapferkeit, und wilde Laune blitzen um Kinn, Stirn und Nasenwurzel, und der gezwirbelte Schnurrbart offenbart männliches Selbstbewusstsein. Entsprechend erscheint zur Linken des mittleren Antlitzes das Profil des weiblichen Prinzips — unbeschreiblicher Reiz, verführerische Gewalt der Natur, Blüte und Frucht, sanfter Charme, schwellend von der Verheißung aller Süße. In dieser lockenden Maske der Weiblichkeit erscheinen alle Wonnen der Sinne: das »Ewig-Weibliche« (dieser unübersetzbare Begriff, für den Gérard de Nerval, der als erster den »Faust« ins Französische übertrug, das entzückende französische Äquivalent »le charme éternel« prägte).

Aber das mittlere Haupt ist in einer erhabenen, träumerischen Entrücktheit in sich selbst verschlossen. Mit seiner Bewegungslosigkeit bringt es die beiden Gebärden rechts und links zum Schweigen, das Spiel ihrer antagonistischen Züge nicht im geringsten beachtend. Während diese beiden differenzierten Profile, die beständig aus der Personifikation in der Mitte auftauchen und hervorwachsen, im Relief wiedergegeben sind, ist das mittlere Haupt, dem sie entblühen, in voller plastischer Rundung dargestellt. Als die unbewegliche, massive Zentralgestalt, erhaben und selbstversunken in stolzem, steinernem Schweigen, überwältigt sie die charakteristischen Züge der zwei Seitenphysiognomien, Kraft und Süße, angreiferische Energie und erwartende Empfänglichkeit, löst sie auf und schmilzt sie in sich selbst zurück. Groß in seiner transzendentalen Ruhe, umfassend, rätselhaft, unterwirft es sie und zernichtet die Wirkungen ihrer schöpferischen Gespanntheit in ewige Ruhe. Ungewahr ihrer Polarität, gleichgültig gegen ihr substanzloses Gewicht hebt dieses mächtige Mittlere, diese großartige Erscheinung des Bindu heiter die primitive, archetypische Zweiheit auf, die ewig die Maya der Welt hervorbringt. Offenbar fühlt es niemals die Freuden und Leiden ihres Ineinanderwirkens. Von den Lebensprozessen des Alls und des irdischen Individuums, wie sie sich im menschlichen Bewußtsein spiegeln, weiß diese doppeldeutige Gewalt augenscheinlich nichts. Wenigstens bleibt sie unberührt, in souveräner Indifferenz. — Nicht anders bleibt auch des Menschen innerstes Selbst, der Atman, unbetroffen inmitten der Leiden und Entzückungen, organischen und psychischen Vorgänge in den Schichten, die sein diamantenes Sein wie in Leichentücher einhüllen.

Das mittlere Haupt ist das Antlitz der Ewigkeit. Auf nichts was immer beharrend enthält es zu transzendentaler Harmonie verschmolzen alle die Kräfte der paargewordenen Existenzen zu beiden Seiten. Aus seinem dauerhaften Schweigen strömen ständig die Zeit und das Leben — oder vielmehr: sie scheinen zu strömen. Denn von der Mitte aus gesehen strömt nichts. In der hehren Gegenwart des Gesichtes der Ewigkeit bekommen die zwei ausdrucksvollen Reliefprofile etwas Wolkenhaftes. Ihr Drama auf der Bühne von Raum und Zeit wird zu einem so unsubstantiellen Eindruck wie ein Spiel von Licht und Schatten. Sich zur Rechten und zur Linken beständig geltend machend und doch von demselben Wesen, aus dem sie unaufhörlich hervorgehen, völlig unbeachtet, sind sie die Regisseure und Direktoren des Welttheaters, die sich selbst zu einer unendlichen Menge von Schauspielern vervielfältigen. Die von ihnen gegebene Vorstellung aber wird nur von unserer »Unwissenheit« (Avidya) erblickt; vor dem erwachten Auge verschwindet sie. Sie sind und sie sind nicht; wie Dunst kommen sie und ihre Schöpfungen, schweben umher und verschwinden wieder. Das ist Mayas wahre Beschaffenheit, dieser bloße Erscheinungscharakter des Lebensvorganges, mag er persönlich oder kollektiv, historisch oder kosmogonisch sein, wie er von uns mit unserem individualisierten, begrenzten und vergänglichen Bewußtsein erfahren wird — wenn wir schlafen oder wachen, erinnern oder vergessen, unsere Hand auf die Dinge legend, aber uns selbst aus dem eigenen Griff entschlüpfend.

Die beiden Profile »geschehen«; das All »geschieht«; das Individuum »geschieht«. Aber in welchem Sinne geschehen sie? Geschehen sie wirklich? Das Antlitz in der Mitte soll die Wahrheit des Ewigen ausdrücken, in dem nichts geschieht, nichts entsteht, nichts sich verwandelt und nichts sich wieder auflöst. Die göttliche Wesenheit, das einzig Wirkliche, das Absolute in sich selbst, unser eigenes innerstes Höheres Selbst, wohnt in sich, in seiner eigenen erhabenen Leere versunken, allwissend und allmächtig, alles und jedes enthaltend. Dies ist das Bildnis des Atman-Brahman. Und dies das Paradox der Maya: das All und unsere Persönlichkeiten sind so wirklich — aber nicht wirklicher — als die Erscheinungen dieser männlichen und weiblichen Profile, wie sie der Mitte enttauchen, aber von ihr ignoriert werden. Brahman und Maya existieren miteinander. Maya ist die kontinuierliche Selbstmanifestation und Selbstverstellung Brahmans — seine Selbstenthüllung und zugleich sein vielfarbiger, verdeckender Schleier. Daher die Würde aller vergänglichen Dinge, auf allen Stufen. Und daher die Verehrung ihrer summierten Gesamtheit als der höchsten Göttin, der Mutter und Lebensenergie der Götter und Kreaturen, unter der Formel Maya-Shakti-Devi.

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
2.1 Vishnus Maya
2.2 Die Wasser des Daseins
2.3 Die Wasser des Nichtseins
2.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
3.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
3.2 Gottheiten und ihre Träger
3.3 Schlange und Vogel
3.4 Vishnu als Besieger der Schlange
3.5 Der Lotos
3.6 Der Elefant
3.7 Heilige Flüsse
Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
4.1 Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen
4.2 Das Phänomen der expandierenden Gestalt
4.3 Shiva-Shakti
4.4 Der große Oberherr
4.5 Shivas Tanz
4.6 Das Antlitz der Glorie
4.7 Der Zerstörer der drei Städte
Kapitel 5: Die Göttin
5.1 Die Entstehung der Göttin
5.2 Die Juweleninsel

Literatur

Seminar

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