Goraksha Paddhati

Aus Yogawiki

Goraksha Paddhati (Sanskrit: गोरक्षपद्धति gorakṣa-paddhati f.) der Leitfaden ("Weg" Paddhati) des Goraksha; Titel eines Werkes zum Hatha Yoga, das eine Zusammenstellung (Samhita) von Versen darstellt, die dem Yogameister Goraksha Natha zugeschrieben werden. Das Werk ist auch unter den Namen Goraksha Samhita und Mukti Sopana bekannt. Auszüge der Goraksha Paddhati, die im Wesentlichen aus zwei Teilen zu je 100 Versen (Shataka) besteht, sind wiederum unter verschiedenen Namen bekannt, darunter als Goraksha Shataka, Yoga Martanda, Viveka Martanda und Yogachudamani Upanishad.

Einführende Bemerkungen zur Goraksha Paddhati

Bedeutung des Textes

Die Goraksha Paddhati bzw. Goraksha Samhita ist für die Erforschung der Hatha Yoga-Texte, die im engeren Zusammenhang der Tradition der Natha-Yogis stehen, von außerordentlichem Interesse. Nach bisherigem Erkenntnisstand gehört sie zur ältesten Schicht (ca. 10.-12. Jh.) von in enger Beziehung zu Goraksha Natha stehenden Yogatexten, in denen die verschiedenen Glieder des Hatha Yoga gelehrt werden. Selbst der bekannteste Hatha-Yoga-Text, die Hatha Yoga Pradipika (ca. 15. Jh.), zitiert bzw. übernimmt viele Verse, teilweise wortwörtlich oder abgewandelt, aus der Goraksha Paddhati.

Der Name Goraksha (Natha) wird bereits zu Beginn der HYP zweimal erwähnt (vgl. Hatha Yoga Pradipika 1.4-5). Auch im Zusammenhang mit der im vierten Kapitel gelehrten Meditation über den als Anahata Nada bekannten inneren Klang (Nadopasana) stellt sich Svatmarama einmal mehr ausdrücklich in die Traditionslinie Goraksha Nathas (Hatha Yoga Pradipika 4.65):

aśakya-tattva-bodhānāṃ mūḍhānām api saṃmatam |
proktaṃ gorakṣa-nāthena nādopāsanam ucyate || 4.65 ||

"Nun wird die von Goraksha Natha gelehrte (Prokta) Methode der Konzentration auf den inneren Klang (Nadopasana) erklärt, die selbst von den Unerfahrenen (Mudha), denen die Erkenntnis (Bodha) der (höchsten) Wahrheit (Tattva) noch unmöglich (Ashakya) ist, geschätzt (Sammata) wird." (HYP 4.65)

Nahezu alle Teile der Version 1 bzw. 2 des Goraksha Shataka und der größte Teil der Yogachudamani Upanishad sind der Goraksha Paddhati entnommen, teilweise in derselben, teilweise in geänderter Versfolge. Dabei bieten diese Versionen häufig interessante Lesarten und Varianten, die für das Gesamtverständnis dieser Textgruppe sehr hilfreich sind. Für ein besseres Textverständnis sind im Rahmen der Übersetzung daher einige textkritische Anmerkungen und Bezüge zum Goraksha Shataka, zur Yogachudamani Upanishad sowie zur Hatha Yoga Pradipika unerlässlich.

Goraksha Natha und Matsyendra Natha

Goraksha Natha (Gorakhnath) gilt als der Begründer der Tradition der Nath Yogis, die auch als Kanphata Yogis bekannt sind. Obwohl an seiner Historizität nicht gezweifelt werden kann, so ist doch wenig Gesichertes von ihm bekannt, und seine Gestalt wird von einer Unmenge von Mythen und Legenden umwoben. Seine Lebenszeit wird in verschiedenen Quellen zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert angegeben, wobei das 10. Jahrhundert, nicht zuletzt aus den weiter unten zu erörternden Gründen, als ziemlich wahrscheinlich angesehen werden kann. Sein Wirkungsbereich erstreckte sich auf das nördliche Indien, möglicherweise auch auf das heutige Nepal und Tibet, wo er als Schutzgottheit bzw. buddhistischer Magier verehrt wurde. Sein Lehrer war Matsyendra Natha bzw. Mina Natha, der seinerseits ein mythenumwobener Yogi war, der von Shiva persönlich die Yogalehren erhalten haben soll.

Häufig wird davon ausgegangen, dass Minanatha und Matsyendranatha sich auf ein und denselben Yogameister beziehen, da beide Namen "Herr der Fische" bedeuten, der im 7. oder 10. Jahrhundert n. Chr. gelebt haben soll. Dagegen weist die in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 1.5-9) gegebene Liste der Schülernachfolge darauf hin, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Meister der sogenannten Natha-Tradition handelt, die bis auf Adinatha, den "uranfänglichen Herrn" (ein Name Shivas), zurückgeht.

Als zweiter Meister nach Adinatha wird der legendäre Matsyendra ("Herr der Fische") genannt, der auch Matsyendranatha heißt, da an jeden Namen dieser Liste die Bezeichnung Natha "Herr, Meister" gehängt werden kann. Dieser habe als Fisch (oder im Bauch eines Fisches) Shivas Yogaunterweisung belauscht und sei dann von diesem als Yogameister initiiert worden. Dann folgen drei weitere Meister mit den Namen Shabara (Natha), Anandabhairava (Natha) und Chaurangin (Natha). Danach wird Mina ("Fisch"), d.h. Minanatha genannt, gefolgt von Goraksha ("Kuhhirt") bzw. Gorakshanatha, dem Verfasser der Verse des Goraksha Shataka und somit der vorliegenden Goraksha Paddhati:


śrī-ādinātha-matsyendra-śābarānanda-bhairavāḥ |
cauraṅgī-mīna-gorakṣa-virūpākṣa-bileśayāḥ || 1.5 ||
...
ity ādayo mahā-siddhā haṭha-yoga-prabhāvataḥ |
khaṇḍayitvā kāla-daṇḍaṃ brahmāṇḍe vicaranti te || 1.9 ||


"Adinatha (Shiva), Matsyendra, Shabara, Anandabhairava, Chaurangin, Mina, Goraksha, Virupaksha, Bileshaya, ... - diese und weitere vollendete Meister (Mahasiddha), die durch die Macht (Prabhava) des Hatha Yoga den Stab (Danda) des Todes ("der Zeit", Kala) zerbrochen haben, wandeln in der Welt (Brahmanda) umher." (HYP 1.5-9 )

Mina bzw. Minanatha wird nun im zweiten Vers der Version 2 des Goraksha Shataka als der Meister des Goraksha (der im darauffolgenden Vers 3 genannt wird) gepriesen (śrī-mīna-nāthaṃ bhaje), was durch die unmittelbare Aufeinanderfolge dieser beiden Meister in der Liste der HYP (1.5) gestützt wird. Somit wären Matsyendra bzw. Matsyendranatha dem 7. Jahrhundert, und Mina bzw. Minanatha sowie dessen Schüler Goraksha Natha dem 10. Jahrhundert n. Chr. zuzuordnen.

Goraksha Paddhati Übersetzung, Sanskrit Text Devanagari und Umschrift, Wort-für-Wort-Übersetzung

Shataka 1 Vers 1: Verehrung des Meisters

Ich verehre den ehrwürdigen Lehrer, der die höchste Glückseligkeit ist, dessen Natur die Wonne im Selbst ist, und in dessen bloßer Anwesenheit der Körper zu Bewusstsein und Wonne wird.


श्रीगुरुं परमानन्दं वन्दे स्वानन्दविग्रहम् |
यस्य सान्निध्यमात्रेण चिदानन्दायते तनुः || १ ||
śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham |
yasya sānnidhya-mātreṇa cid-ānandāyate tanuḥ || 1.1 ||
shri-gurum paramanandam vande svananda-vigraham |
yasya sannidhya-matrena cid-anandayate tanuh || 1.1 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śrī-gurum : den ehrwürdigen (Shri) Lehrer, Meister (Guru)
paramānandam : die höchste Glückseligkeit, Wonne (Paramananda)
vande : ich verehre (vand)
svānanda-vigraham : dessen Natur ("Gestalt", Vigraha) die Wonne im Selbst (Svananda) ist
yasya : (in) dessen (Yad)
sānnidhya-mātreṇa : bloßer (Matra) Anwesenheit, in der Nähe Sein (Sannidhya)
cid-ānandāyate : zu Bewusstsein und Wonne wird (Chidananday)
tanuḥ : der Körper (Tanu)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 1 der Version 2 des Goraksha Shataka, die im Wesentlichen dem ersten Shataka der Goraksha Paddhati entspricht. In einem diesem vorgeschalteten, vermutlich auf einen Kommentator der Goraksha Paddhati zurückgehenden Vers heißt es, sie sei ein Kommentar eines Mahidhara zur (Yoga-)Lehre des Goraksha (vgl. auch Hatha Yoga Pradipika 1.1, die ebenfalls mit einer Verneigung vor Adinatha/Shiva als Begründer des Hatha Yoga beginnt):

śrī-ādināthaṃ sva-guraṃ hariṃ muniṃ
gorakṣa-śāstrasya praṇamya yoginam |
bhāṣā-vivṛttiṃ kurute mahī-dharo
yoge su-bodhaḥ khalu jāyate yayā || GP 1.0 ||

"Nachdem er sich vor Adinatha, (und) seinem eigenen Meister (Sva-Guru) Hari, dem Weisen (Muni) und Yogin verbeugt hat, verfasst Mahidhara den Bhashavivritti (genannten Kommentar) zur Lehre (Shastra) des Goraksha, durch den ein richtiges Verständnis (Subodha) in Bezug auf den (Hatha-)Yoga entsteht."

Shataka 1 Vers 2: Verehrung des Meisters

Nachdem er hingebungsvoll (seinen) Meister verehrt hat, verkündet Goraksha das höchste Wissen, das von den Yogis ersehnt wird, das die höchste Glückseligkeit bewirkt.


नमस्कृत्य गुरुं भक्त्या गोरक्षो ज्ञानमुत्तमम् |
अभीष्टं योगिनां ब्रूते परमानन्दकारकम् || २ ||
namas-kṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam |
abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam || 1.2 ||
namas-kritya gurum bhaktya goraksho jnanam uttamam |
abhishtam yoginam brute paramananda-karakam || 1.2 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

namas-kṛtya : nachdem er verehrt hat (Namas-Kritya)
gurum : den Lehrer, Meister (Guru)
bhaktyā : hingebungsvoll, mit Hingabe (Bhakti)
gorakṣaḥ : Goraksha
jñānam : Wissen (Jnana)
uttamam : das höchste (Uttama)
abhīṣṭam : das ersehnt wird ("gewünscht", Abhishta)
yoginām : von den Yogis (Yogin)
brūte : verkündet, lehrt (brū)
paramānanda-kārakam : das die höchste Glückseligkeit (Paramananda) bewirkt (Karaka)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 3 der Version 2 des Goraksha Shataka. Der Meister Gorakshas war Minanatha (Matsyendranatha). Dieser wird in Vers 2 der Version 2 des Goraksha Shataka als eine Verkörperung Shivas (Adinatha) gepriesen:

antar-niścalitātma-dīpa-kalikāsv ādhāra-bandhādibhir
yo yogī yuga-kalpa-kāla-kalanāt tattvena jegīyate |
jñānāmoda-mahodadhiḥ samabhavad yatrādi-nāthaḥ svayaṃ
vyaktāvyakta-guṇādhikaṃ tam aniśaṃ śrī-mīna-nāthaṃ bhaje || 2, 2 ||

"Ich verehre ohne Unterlass den ehrwürdigen Minanatha, den Yogi im Glanz des inneren unbewegten Lichtes (Dipa) des Selbst (Atman), (das er) durch (die Praxis von) Wurzelverschluss (Adharabandha) usw. (erlangt hat), ihn, in dem sich der ursprüngliche Herr (Adinatha) selbst verkörpert hat, der infolge (seiner) Erschaffung (Kalana) der Zeit (Kala in Form) der Weltzeitalter (Yuga) und Weltschöpfungszyklen (Kalpa) als das Grundprinzip (Tattva) gepriesen wird, diesen Ozean (Mahodadhi) der Wonne (Amoda) der Erkenntnis (Jnana), der gegenüber den Eigenschaften (Guna) des Manifesten (Vyakta) und Unmanifesten (Avyakta) erhaben ist." (GŚ 2, 2)

Shataka 1 Vers 3: Einleitung

Er lehrt (nun) mit dem Wunsch den Yogis zu nützen die (Vers-)Sammlung des Goraksha, durch deren Verständnis der höchste Zustand (des Yoga) gewiss entsteht.


गोरक्षसंहितां वक्ति योगिनां हितकाम्यया |
ध्रुवं यस्यावबोधेन जायते परमं पदम् || ३ ||
gorakṣa-saṃhitāṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā |
dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam || 1.3 ||
goraksha-samhitam vakti yoginam hita-kamyaya |
dhruvam yasyavabodhena jayate paramam padam || 1.3 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gorakṣa-saṃhitām : die (Vers-)Sammlung des Goraksha (Goraksha Samhita)
vakti : er lehrt, verkündet (vac)
yoginām : der Yogis (Yogin)
hita-kāmyayā : mit dem Wunsch für den Nutzen (Hitakamya)
dhruvam : gewiss, sicherlich (Dhruva)
yasya : dessen (Yad)
avabodhena : durch das Verständnis (Avabodha)
jāyate : entsteht (jan)i
paramam : der höchste (Parama)
padam : Zustand, Bewusstseinszustand ("Ort", Pada)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint mit einer interessanten Lesart als Vers 4 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im ersten Pada gorakṣaḥ śatakaṃ vakti "Goraksha lehrt (eine Sammlung von) einhundert (Versen, Shataka)" statt gorakṣa-saṃhitāṃ vakti. Obwohl der Text hier als Goraksha Samhita bezeichnet wird, ist er genauso als Goraksha Paddhati bekannt. Aus dem vorangehenden Vers 2 ergibt es sich, dass der Verfasser der Verse dieser "Sammlung" (Samhita) Goraksha ist: gorakṣo jñānam uttamam ... brūte.

Der "höchste Zustand" (paramaṃ padam) ist laut Hatha Yoga Pradipika (4.3-4) identisch mit dem Rajayoga, Samadhi oder Jivanmukti genannten Bewusstseinszustand und somit gleichbedeutend mit der Erfahrung der Nichtdualität (Advayatva), der immerwährenden Identität von "Selbst" (Atman) und Brahman, dem "Absoluten".

Shataka 1 Vers 4: Einleitung

Dies ist eine Leiter zur Befreiung. Es bedeutet das Überlisten des Todes. Denn, wenn der Geist von der Sinneserfahrung abgewandt ist, richtet er sich auf das höchste Selbst.


एतद्विमुक्तिसोपानमेतत्कालस्य वञ्चनम् |
यद्व्यावृत्तं मनो भोगादासक्तं परमात्मनि || ४ ||
etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |
yad vyāvṛttaṃ mano bhogād āsaktaṃ paramātmani || 1.4 ||
etad vimukti-sopanam etat kalasya vanchanam |
yad vyavrittam mano bhogad asaktam paramatmani || 1.4 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

etat : dies (Etad)
vimukti-sopānam : ist eine Leiter (Sopana) für die Befreiung (Vimukti)
etat : dies
kālasya : des Todes ("der Zeit", Kala)
vañcanam : ist das Täuschen ("Hintergehen, Entrinnen", Vanchana)
yat : weil (Yad)
vyāvṛttam : abgewandt (Vyavritta)
manas : der Geist, das Denken (Manas)
bhogāt : von der Sinneserfahrung, vom Genuss (der Sinnesobjekte, Bhoga)
āsaktam : gerichtet ist ("hängend an", Asakta)
paramātmani : auf das höchste Selbst (Paramatman)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 5 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 2 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 4. Pada mohāt "von der Täuschung" statt bhogāt. Der Geist, der sich in der Meditation von der äußerlichen Erfahrung (Bhoga) abwendet, erreicht den Zustand des Yoga, die Erfahrung der Identität mit dem höchste Selbst.

Die Wissenschaft des Hatha Yoga wird - vielleicht als Referenz an den vorliegenden Vers der Goraksha Paddhati - im ersten Vers der Hatha Yoga Pradipika (1.1) ebenfalls als eine Leiter bezeichnet:

śrī-ādi-nāthāya namo’stu tasmai yenopadiṣṭā haṭha-yoga-vidyā |
vibhrājate pronnata-rāja-yogam āroḍhum icchor adhirohiṇīva || 1.1 ||

"Verehrung (Namas) sei dem verehrungswürdigen (Shri) uranfänglichen Herrn (Adinatha), von dem die Wissenschaft (Vidya) des Hatha Yoga gelehrt wurde (Upadishta), die wie eine Leiter (Adhirohini) für denjenigen erstrahlt, der den äußerst erhabenen (Pronnata) königlichen Yoga (Rajayoga) zu erklimmen wünscht (Ichchhu)." (HYP 1.1)

Shataka 1 Vers 5: Einleitung

Ihr Besten (der Menschen), praktiziert Yoga! - den Vernichter des Leidens der weltlichen Existenz, der die Frucht des Wunschbaums der heiligen Überlieferung ist, dessen Zweige von den Vögeln, den Zweimalgeborenen, besucht werden.


द्विजसेवितशाखस्य श्रुतिकल्पतरोः फलम् |
शमनं भवतापस्य योगं भजत सत्तमाः || ५ ||
dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |
śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajata sattamāḥ || 1.5 ||
dvija-sevita-shakhasya shruti-kalpa-taroh phalam |
shamanam bhava-tapasya yogam bhajata sattamah || 1.5 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvija-sevita-śākhasya : dessen Zweige (Shakha) von Vögeln, Zweimalgeborenen (Dvija) besucht (Sevita) werden
śruti-kalpa-taroḥ : des Wunschbaums (Kalpataru) der heiligen Überlieferung (Shruti)
phalam : die Frucht (Phala)
śamanam : den Vernichter ("Beruhiger", Shamana)
bhava-tāpasya : des Leidens (Tapa) der weltlichen Existenz (Bhava)
yogam : Yoga
bhajata : betreibt (bhaj)
sattamāḥ : ihr Besten (der Menschen, Sattama)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 6 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 3 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 4. Pada bhajati saj-janaḥ "ein guter Mensch praktiziert" statt bhajata sattamāḥ.

Dvija (dvi-ja) "zweimal geboren" bedeutet sowohl "Vogel" als auch die Mitglieder der drei oberen Kasten bzw. Stände (Varna). Shakha (śākhā) bedeutet auch einen "Zweig" im Sinne einer Schule bzw. Überlieferungstradition (Rezension) des Veda.

Shataka 1 Vers 6: Die sechs Glieder des Hatha Yoga

Körperstellung, Atemkontrolle, das Zurückziehen (der Sinne bzw. das Zurückhalten des inneren Nektars), Konzentration, Meditation und Versenkung - diese nennt man die sechs Glieder des Yoga.


आसनं प्राणसंरोधः प्रत्याहारश्च धारणा |
ध्यानं समाधिरेतानि योगाङ्गानि वदन्ति षट् || ६ ||
āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |
dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || 1.6 ||
asanam prana-samrodhah pratyaharash cha dharana |
dhyanam samadhir etani yogangani vadanti shat || 1.6 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanam : Körperstellung, Sitzhaltung (Asana)
prāṇa-saṃrodhaḥ : Atemkontrolle (Pranasamrodha)
pratyāhāraḥ : das Zurückhalten (der Sinne bzw. des inneren Nektars, Pratyahara)
ca : und (Cha)
dhāraṇā : Konzentration (Dharana)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
etāni : diese (Etad)
yogāṅgāni : Bestandteile, Glieder des Yoga (Yoganga)
vadanti : nennt man (vad)
ṣaṭ : die sechs (Shash)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 7 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 4 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 1. Pada prāṇa-saṃyāmaḥ statt prāṇa-saṃrodhaḥ, und im 4. Pada bhavanti "sind" statt vadanti. Auch in der Yogachudamani Upanishad (Vers 2) erscheint dieser programmatische Vers mit der Variante bhavanti.

Pranasamrodha (prāṇa-saṃrodhaḥ) ist ein Synonym für Pranayama. Es bedeutet soviel wie "Kontrolle über den Atem bzw. die Lebensenergie Prana", wörtlich jedoch das "Anhalten (Samrodha) des Atems (Prana)", und bezieht sich folglich insbesondere auf die Atemverhaltungen (Kumbhaka).

Der Begriff Pratyahara wird in der Goraksha Paddhati in zweifacher Weise gebraucht: Einmal wird es im Vers 2.22 im traditionellen Sinne des "Zurückziehens der Sinne von ihren äußeren Sinnesobjekten (Vishaya)" definiert (vgl. auch Yogasutra 2, 54). Im Vers 2.30 erfolgt dann eine Definition als "Zurückhalten des inneren Mondnektars (Chandramrita)", welches in Zusammenhang mit der Praxis von Viparita Karani steht (2.34).

In der Hatha Yoga Pradipika (1.58) werden vier Glieder bzw. Bestandteile der Hatha Yoga-Praxis genannt:

āsanaṃ kumbhakaṃ citraṃ mudrākhyaṃ karaṇaṃ tathā |
atha nādānusandhānam abhyāsānukramo haṭhe || 1.58 ||

"Körperstellungen (Asana), die verschiedenen Atemverhaltungen (Kumbhaka), ebenso die Mudra genannten Stellungen (Karana), sowie die Konzentration auf den (unangeschlagenen) Klang (Nada Anusandhana) - so lautet die Abfolge (Anukrama) der Übungspraxis (Abhyasa) im Hatha (Yoga)." (HYP 1.58)

In dieser Aufzählung erscheint Kumbhaka im Sinne von Pranayama bzw. Pranasamrodha, und die Bezeichnungen Mudra und Karana beziehen sich in der Goraksha Paddhati auf die Praxis von Pratyahara (Vers 2.30 ff.). Die hier mit Nada Anusandhana erwähnte Meditationspraxis schließt die Schritte Dharana, Dhyana und Samadhi ein, so dass die in der GP aufgezählten sechs Glieder des Yoga (Yoganga) sich auch in der HYP wiederfinden.

Die im achtgliedrigen (Ashtanga) Yoga des Yogasutra gelehrten beiden Glieder Yama und Niyama werden somit in der Goraksha Paddhati nicht ausdrücklich erwähnt. In der Hatha Yoga Pradipika (1.17-18) werden wiederum zehn Yamas und zehn Niyamas gelehrt (bei Patanjali sind es jeweils nur fünf). Diese müssen allerdings textgeschichtlich als spätere Einschübe betrachtet werden (Hatha Yoga Pradipika 1.17).

Shataka 1 Vers 7: Anzahl der Asanas

Es gibt soviele Körperstellungen, wie es (Arten von) Lebewesen gibt. Maheshvara kennt all deren Unterscheidungen.


आसनानि च तावन्ति यावन्तो जीवजन्तवः |
एतेषामखिलान्भेदान्विजानाति महेश्वरः || ७ ||
āsanāni ca tāvanti yāvanto jīva-jantavaḥ |
eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 1.7 ||
asanani cha tavanti yavanto jiva-jantavah |
etesham akhilan bhedan vijanati maheshvarah || 1.7 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanāni : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
ca : und (Cha)
tāvanti : (gibt es) soviele (Tavat)
yāvantaḥ : wie (Yavat)
jīva-jantavaḥ : lebendige (Jiva) Wesen (Jantu), Lebewesen
eteṣām : davon, von diesen (Etad)
akhilān : alle (Akhila)
bhedān : Arten, Unterscheidungen (Bheda)
vijānāti : kennt (vi + jñā)
maheśvaraḥ : Maheshvara, der große Herr (Shiva)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint nahezu wortwörtlich als Vers 8 der Version 2 des sowie als Vers 5 der Version 1 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada jīva-jātayaḥ "Arten (Jati) von Lebewesen (Jiva)" statt jīva-jantavaḥ, das wörtlich "lebendige (Jiva adj.) Wesen (Jantu)", also "Lebewesen" bedeutet.

Wieviele Arten von Lebewesen (und folglich Körperstellungen) es nach der traditionellen indischen Anschauung gibt, wird im nächsten Vers ausgeführt.

Shataka 1 Vers 8: Anzahl der Asanas

Aus diesen 8,4 Millionen Körperstellungen wurde von Shiva jeweils eine (stellvertretend für jeweils 100 000) ausgewählt, und somit 84 Körperstellungen zusammengestellt.


चतुराशीतिलक्षाणामेकैकं समुदाहृतम् |
ततः शिवेन पीठानां षोडशोनं शतं कृतम् || ८ ||
catur-āśīti-lakṣāṇām ekaikaṃ samudāhṛtam |
tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 1.8 ||
catur-ashiti-lakshanam ekaikam samudahritam |
tatah shivena pithānām shodashonam shatam kritam || 1.8 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-āśīti-lakṣāṇām : aus 8,4 Millionen ("84 x 100 000", Chaturashiti-Laksha)
ekaikam : jeweils ein (100 000, Eka)
samudāhṛtam : wurde als Beispiel ausgewählt ("genannt", Samudahrita)
tataḥ : daraus, davon (Tatas)
śivena : von Shiva
pīṭhānām : der Körperstellungen, Sitzhaltungen (Pitha)
ṣoḍaśonam : um 16 (Shodasha) vermindert (Una)
śatam : ein Hundert (Shata)
kṛtam : wurde zusammengestellt ("gemacht", Krita)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 9 der Version 2 sowie mit einer Lesart als Vers 6 der Version 1 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada ekam ekam udāhṛtam statt ekaikam samudāhṛtam.

Die Zahl 84 heißt im Sanskrit catur-aśīti. Man kann sie aber auch indirekt ausdrücken, indem man von 100 (Shata) 16 (Shodasha) subtrahiert, was hier der Fall ist: ṣoḍaśonaṃ śatam, "ein um 16 vermindertes Hundert".

In der Gheranda Samhita (2.1-2) wird sinngemäß dasselbe gesagt, wobei GhS 2.1 abc und 2.2 b mehr oder weniger wortwörtliche Übernahmen aus GP 1.7 ab bzw. GP 1.8 a,d sind. Von den besagten 84 Stellungen werden in der Gheranda Samhita lediglich 32 gelehrt:

āsanāni samastāni yāvanto jīva-jantavaḥ |
catur-aśīti lakṣāṇi śivena kathitaṃ purā || 2.1 ||
teṣāṃ madhye viśiṣṭāni ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam |
teṣāṃ madhye martya-loke dvā-triṃśad āsanaṃ śubham || 2.2 ||

"Sämtliche Körperstellungen (Asana) zusammengenommen sind soviele wie es (Arten von) lebenden (Jiva) Wesen (Jantu) gibt. 8,4 Millionen Körperstellungen wurden einst von Shiva gelehrt. Aus deren Mitte (Madhya) wurden die 84 hervorragendsten (Vishishta) Körperstellungen zusammengestellt. Von diesen sind in der Welt der Sterblichen (Martyaloka) 32 Körperstellungen von Nutzen (Shubha)." (GhS 2.1-2)

Shataka 1 Vers 9: Siddhasana und Kamalasana

Von allen Körperstellungen werden zwei (besonders) genannt: die eine wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt, die andere Lotussitz (Kamalasana).


आसनेभ्यः समस्तेभ्यो द्वयमेतदुदाहृतम् |
एकं सिद्धासनं प्रोक्तं द्वितीयं कमलासनम् || ९ ||
āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam etad udāhṛtam |
ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam || 1.9 ||
asanebhyah samastebhyo dvayam etad udahritam |
ekam siddhasanam proktam dvitiyam kamalasanam || 1.9 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanebhyaḥ : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
samastebhyaḥ : von allen (Samasta)
dvayam : zwei ("eine Zweiheit", Dvaya)
etad : diese (Eva)
udāhṛtam : werden genannt (Udahrita)
ekam : die eine (Eka)
siddhāsanam : perfekter Sitz (Siddhasana)
proktam : wird genannt (Prokta)
dvitīyam : die andere ("zweite", Dvitiya)
kamalāsanam : Lotussitz (Kamalasana)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint mit einigen Lesarten als Vers 10 der Version 2 sowie als Vers 7 der Version 1 des Goraksha Shataka. In beiden Versionen heißt es im 2. Pada dvayam eva viśiṣyate "zeichnen sich zwei besonders aus (vi + śiṣ)" statt dvayam etad udāhṛtam.

Kamalasana (kamalāsana) ist ein Synonym für Padmasana (padmāsana).

Shataka 1 Vers 10: Siddhasana (perfekter Sitz)

Man lege eine Ferse fest an den Beckenboden und den anderen Fuß fest oberhalb des Genitals, und presse (mit Jalandhara Bandha) das Kinn ganz fest gegen die Brust. Dann schaue man, unbeweglich und mit gesammelten Sinnen, mit unverwandtem Blick auf die Mitte zwischen beiden Augenbrauen. Diese Sitzhaltung, die das Öffnen der Tür zur Befreiung bewirkt, wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt.


योनिस्थानकमङ्घ्रिमूलघटितं कृत्वा दृढं विन्यसे-
न्मेढ्रे पादमथैकमेव नियतं कृत्वा हनुं सुस्थिरम् |
स्थाणुः संयमितेन्द्रियोऽचलदृशा पश्येद्भ्रुवोरन्तरं
ह्येतन्मोक्षकपाटभेदजनकं सिद्धासनं प्रोच्यते || १० ||
yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen
meḍhre pādam athaikam eva hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram |
sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyed bhruvor antaraṃ
hy etan mokṣa-kapāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 1.10 ||
yoni-sthanakam anghri-mula-ghatitaṃ kritva dridham vinyasen
medhre padam athaikam eva hridaye kritva hanum su-sthiram |
sthanuh samyamitendriyo'chala-drisha pashyed bhruvor antaram
hy etan moksha-kapata-bheda-janakam siddhasanam prochyate || 1.10 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-sthānakam : den Ort, die Stelle (Sthanaka) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
aṅghri-mūla-ghaṭitam : an die Ferse ("Fuß-Wurzel, Ursprung des Fußes", Anghrimula) angelegt, verbunden Ghatita)
kṛtvā : habend ("machend", kṛ)
dṛḍham : fest (Dridha)
vinyaset : man lege (vi + ni + as)
meḍhre : oberhalb des Gliedes, über das Glied (Medhra)
pādam : Fuß (Pada)
atha : und, nun, dann (Atha)
ekam : einen (Eka)
eva : wahrlich, nur (Eva)
hṛdaye : auf die Herz(gegend, Brust, Hridaya)
kṛtvā : machend
hanum : das Kinn (Hanu)
su-sthiram : ganz fest (Susthira)
sthāṇuḥ : aufrecht, unbeweglich (Sthanu)
saṃyamitendriyaḥ : mit gesammelten, kontrollierten ("bezwungenen", Samyamita) Sinnen (Indriya)
acala-dṛśā : mit unverwandtem, unbeweglichem (Achala) Blick ("Auge", Drish)
paśyet : man schaue (paś)
bhruvoḥ : beide Brauen (Bhru)
antaram : zwischen (Antara)
hi : gewiss (Hi)
etat : diese (Sitzhaltung, Etad)
mokṣa-kapāṭa-bheda-janakam : die das Aufbrechen, Öffnen (Bheda) der) Tür (Kapata) zur Befreiung (Moksha) bewirkt, verursacht (Janaka)
siddhāsanam : Sitzhaltung der Vollkommenen, perfekter Sitz (Siddhasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (1.37) und mit einigen Lesarten als Vers 11 der Version 2 sowie als Vers 8 der Version 1 des Goraksha Shataka. Auch in der Gheranda Samhita (2.7) wird er - mit einigen größeren Abweichungen im ersten Halbvers - überliefert.

In der Variante des Goraksha Shataka steht im 2. Pada niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham "nachdem man den Körper (Vigraha) aufgerichtetet hat" statt hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram, welches auf das Setzen von Jalandhara Bandha verweist.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, ergänzt zur Ausführung von Siddhasana, dass die linke Ferse an den Beckenboden und der rechte Fuß über das Genital, wörtlich "über das Glied" (meḍhre), gelegt wird.

Das Kompositum mokṣa-kapāṭa-bheda-janakam versteht Brahmananda in dem Sinne, dass Siddhasana die Zerstörung (Nasha) der Hindernisse (Pratibandhaka) der Erlösung (Moksha) bewirkt (janayati): mokṣasya yat kapāṭaṃ pratibandhakaṃ tasya bhedaṃ nāśaṃ janayati. Man könnte unter der Tür zur Befreiung (Moksha-Kavata) auch die Sushumna verstehen, deren Öffnung durch die schlafende Kundalini versperrt wird.

Shataka 1 Vers 11: Padmasana (Lotussitz)

Man lege den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel und den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Dann ergreife man mit beiden Händen, indem man diese hinter dem Rücken über Kreuz hält, fest die beiden großen Zehen. Dann schaue man, das Kinn auf die Brust drückend, auf die Nasenspitze. Diese Sitzhaltung, die körperliche Krankheiten und geistige Störungen vernichtet, wird Lotussitz (Padmasana) genannt.


वामोरूपरि दक्षिणं च चरणं संस्थाप्य वामं तथा
दक्षोरूपरि पश्चिमेन विधिना धृत्वा कराभ्यां दृढम् |
अङ्·गुष्ठौ हृदये निधाय चिबुकं नासाग्रमालोकये-
देतद्व्याधिविकारनाशनकरं पद्मासनं प्रोच्यते || ११ ||
vāmorūpari dakṣiṇaṃ ca caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā
dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |
aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed
etad vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ padmāsanaṃ procyate || 1.11 ||
vamorupari dakshinam cha charanam samsthapya vamam tatha
dakshorupari pashchimena vidhina dhritva karabhyam dridham |
angushthau hridaye nidhaya chibukam nasagram alokayed
etad vyadhi-vikara-nashana-karam padmasanam prochyate || 1.11 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāmorūpari : auf (Upari) den linken (Vama) Oberschenkel (Uru)
dakṣiṇam : den rechten (Dakshina)
ca : und, aber (Cha)
caraṇam : Fuß (Charana)
saṃsthāpya : legend ("gelegt habend", sam + sthā)
vāmam : den linken (Fuß, Vama)
tathā : und, ebenso (Tatha)
dakṣorūpari : auf (Upari) den rechten (Daksha) Oberschenkel (Uru)
paścimena : auf die hintere (hinter dem Rücken, Pashchima)
vidhinā : Art und Weise (Vidhi)
dhṛtvā : haltend, ergreifend (dhṛ)
karābhyām : mit beiden Händen (über Kreuz, Kara)
dṛḍham : fest (Dridha)
aṅguṣṭhau : beide großen Zehen (Angushtha)
hṛdaye : an die Brust (die "Herzgegend", Hridaya)
nidhāya : legend ("gelegt habend", ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
nāsāgram : auf die Nasenspitze (Nasagra)
ālokayet : schaue man (ā + lok)
etat : das, diese (Sitzhaltung, (Etad)
vyādhi-vikāra-nāśana-karam : die (körperliche) Krankheiten (Vyadhi) und (geistige) Störungen (Vikara) vernichtet ("zunichte macht", Nashanakara)
padmāsanam : Lotussitz (Padmasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 12 der Version 2 sowie mit einigen Lesarten als Vers 9 der Version 1 des Goraksha Shataka. Auch in der Gheranda Samhita (2.8) ist dieser Vers mit wenigen Abweichungen überliefert, ebenso in Hatha Yoga Pradipika (1.46), deren Wortlaut im letzten Versviertel etwas stärker abweicht. Dort heißt es etad vyādhi-vināśa-kāri yaminām "diese (Sitzhaltung) bewirkt (Karin) bei den sich selbst beherrschenden (Yamin) die Vertreibung (Vinasha) von Krankheiten (Vyadhi)" statt etad vyādhi-vikāra-nāśana-karam, was sinngemäß auf dasselbe hinausläuft.

Die hier gelehrte Variante des Lotussitzes entspricht bereits dem "gebundenen Lotussitz" (Baddha Padmasana), bei dem die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten.

Der Ausdruck "das Kinn auf die Brust drückend" (hṛdaye nidhāya cibukam) verweist - wie schon im vorangegangenen Vers 10 - auf das Setzen von Jalandhara Bandha und damit auf die Praxis der Atemverhaltung (Kumbhaka). Das Fixieren (Dharana) des Blickes (Dhrishti), dass der Sammlung des Geistes und damit der Einstimmung auf die Meditationspraxis dient, ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der Beschreibung dieser beiden Sitzhaltungen. Während jedoch in Siddhasana der Blick auf die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya) gerichtet wird, soll er in Padmasana auf die Nasenspitze gerichtet werden.

Shataka 1 Vers 12: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die die sechs Energiezentren, die sechzehn Stützen, die zwei Arten von Meditationsobjekten, und die fünf Räume in ihrem Körper nicht kennen, ans Ziel gelangen?


षट्चक्रं षोडशाधारं द्विलक्ष्यं व्योमपञ्चकम् |
स्वदेहे ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १२ ||
ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ dvi-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.12 ||
shat-chakram shodashadharam dvi-lakshyam vyoma-panchakam |
sva-dehe ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 1.12 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-cakram : die sechs (Shash) Energiezentren ("Räder", Chakra)
ṣoḍaśādhāram : die sechzehn (Shodasha) Stützen, Konzentrationspunkte Adhara)
dvi-lakṣyam : die zwei Arten von Meditationsobjekten (Dvilakshya)
vyoma-pañcakam : die fünf Räume (Vyoma Panchaka)
sva-dehe : im eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint beinahe wortwörtlich als Vers 13 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada tri-lakṣam "die drei (Tri) Zielpunkte (der Visualisierung, Laksha)" statt dvi-lakṣyam. Auch die Yogachudamani Upanishad (3 cd / 4 ab) liest tri-lakṣyam "die drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya)".

Ein ganz ähnlicher Vers wird in der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.31) überliefert, wo allerdings von neun statt sechs Chakras die Rede ist:

nava-cakraṃ kalādhāraṃ tri-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
samyag etan na jānāti sa yogī nāma-dhārakaḥ ||

"Einer, der die neun (Nava) Energiezentren (Chakra), die sechzehn (Kala) Stützen (Adhara), die drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya), und die fünf Räume (Vyoma Panchaka) nicht vollständig kennt, der ist nur dem Namen nach (Namadharaka) ein Yogi."

Die neun Chakras, sechzehn Adharas, drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya) und fünf Räume (Vyoma Panchaka) werden im Artikel Siddha Siddhanta Paddhati ausführlicher beschrieben.

Bei den sechs Chakras der Goraksha Paddhati dürfte es sich um die bekannten sechs unteren feinstofflichen Energiezentren Muladhara Chakra, Svadhisthana Chakra, Manipura Chakra, Anahata Chakra, Vishuddhi Chakra und Ajna Chakra handeln.

Im Falle von tri-lakṣyam (statt GP dvi-lakṣyam) handelt sich um drei Arten von Meditationsobjekten bzw. Visualisierungsweisen: "innerlich", innerhalb des Körpers (antar-lakṣyam Antarlakshya), "äußerlich", außerhalb des Körpers (bahir-lakṣyam Bahirlakshya) und "neutral, mittel" (madhyamaṃ lakṣyam Madhyama Lakshya), d.h. weder innerlich noch äußerlich: man visualisiere im Geiste eine bestimmte Farbe bzw. Form, ohne sie im Körper oder außerhalb desselben zu verorten.

Sollte es sich im vorliegenden Vers der Goraksha Paddhati tatsächlich nicht um einen Überlieferungsfehler handeln (in dem dvi- für tri- verlesen wurde), so liegt die Vermutung nahe, dass mit dvi-lakṣyam die ersten beiden der in der SSP beschriebenen Visualisierungsweisen gemeint sind, nämlich Antarlakshya und Bahirlakshya. Dies bestätigt auch der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers, wobei sich die inneren (Abhyantara) Konzentrationspunkte (Lakshya) auf die Chakras wie Muladhara und Anahata Chakra (Hritpadma) beziehen. Mit den äußeren (Bahya) Konzentrationspunkten sind solche wie die Nasenspitze (Nasagra) und die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya) gemeint.

Die "fünf Räume" (Vyoma Panchaka) werden in der SSP wie folgt benannt: ākāśa (Akasha), parākāśa (Parakasha), mahākāśa (Mahakasha), tattvākāśa (Tattvakasha) und suryākāśa (Suryakasha). Es handelt sich dabei nicht um die im Advaita Vedanta bekannten "fünf Hüllen" (Pancha Kosha), sondern um bestimmte Weisen der Visualisierung des Raumes, der sowohl das Innere als auch das Äußere umfasst.

Shataka 1 Vers 13: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die ihren eigenen Körper nicht als ein auf einem Pfeiler ruhendes Haus kennen, mit neun Türen und fünf Schutzgottheiten, ans Ziel gelangen?


एकस्तम्भं नवद्वारं गृहं पञ्चाधिदैवतम् |
स्वदेहे ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १३ ||
eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam |
sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.13 ||
eka-stambham nava-dvaram griham panchadhidaivatam |
sva-dehe ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 1.13 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

eka-stambham : ein auf einem Pfeiler ruhendes (Ekastambha)
nava-dvāram : mit neun (Nava) Türen (Dvara)
gṛham : Haus (Griha)
pañcādhidaivatam : mit fünf (Pancha) Schutzgottheiten (Adhidaivata)
sva-dehe : in Bezug auf ihren eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint bis auf eine abweichende grammatische Form wortwörtlich als Vers 14 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 3. Pada sva-deham (Akk.) "den eigenen Körper" "" statt sva-dehe (Lok.) "im eigenen Körper". Der Akkusativ sva-deham ist in diesem Satz syntaktisch als logisches Objekt des Verbs jānanti etwas schlüssiger, der Lokativ ist eine Übernahme aus dem gleichlautenden zweiten Halbvers des vorangehenden Verses 12.

Der Körper wird gern mit einem Haus mit neun "Türen" bzw. Öffnungen verglichen, womit die beiden Augen, die beiden Ohren, die beiden Nasenlöcher, der Mund, der Anus und die Geschlechtsöffnung bzw. Harnröhre gemeint sind. Der "eine Pfeiler", auf dem das Haus ruht, könnte sich auf die Wirbelsäule beziehen und die fünf "Schutzgottheiten" auf die fünf Sinne bzw. Wahrnehmungsorgane (Jnanendriya) Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers gibt allerdings eine andere Erklärung: Der "eine Pfeiler" ist der Geist bzw. das Denken (Manas), der Ort aller Wünsche und latenten Prägungen (Vasana). Die fünf "Schutzgottheiten" sind den (grobstofflichen) Elementen ([[]]) zugeordnet: Brahma (Erde), Vishnu (Wasser), Rudra (Feuer), Ishvara (Luft) und Sadashiva (Äther/Raum).

Shataka 1 Vers 14: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Adhara, "die Grundlage", hat vier Blütenblätter, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", hat sechs Blütenblätter. In der Nabelgegend ist ein Lotus mit zehn Blütenblättern, und in der Herzgegend ein Lotus mit einer Anzahl von zwölf Blütenblättern.


चतुर्दलं स्यादाधारं स्वाधिष्ठानं च षड्दलम् |
नाभौ दशदलं पद्मं सूर्यसङ्ख्यादलं हृदि || १4 ||
catur-dalaṃ syād ādhāraṃ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaḍ-dalam |
nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi || 1.14 ||
chatur-dalam syad adharam svadhishthanam cha shad-dalam |
nabhau dasha-dalam padmam surya-sankhya-dalam hridi || 1.14 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-dalam : vierblättrig (Chaturdala)
syāt : ist ("sei", as)
ādhāram : die Grundlage, Stütze (Adhara)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
ca : und (Cha)
ṣaḍ-dalam : sechsblättrig (Shaddala)
nābhau : in der Nabelgegend ("am Nabel", Nabhi)
daśa-dalam : zehnblättriger (Dashadala)
padmam : (ist ein) Lotus (Padma)
sūrya-saṅkhyā-dalam : mit einer Anzahl von zwölf ("Sonnen-Zahl", Surya-Sankhya) Blütenblättern (Dala)
hṛdi : in der Herzgegend ("im Herzen", Hrid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird bis auf eine abweichende grammatische Form wortwörtlich als Vers 15 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einigen Lesarten im vierten Pada als Vers 4cd-5ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. Dort heißt es hṛdaye dvā-daśārakam "in der Herzgegend (Hridaya) ist ein (Rad mit) zwölf (Dvadasha) Speichen (Araka)" statt sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi.

Es handelt sich der Reihe nach um das Muladhara Chakra, Svadhishthana Chakra, Manipura Chakra und Anahata Chakra. Die Sonne (Surya) steht symbolisch für die Zahl zwölf, weil das Sonnenjahr zwölf Monate (Masa) bzw. zwölf Tierkreiszeichen (Rashi) hat.

Shataka 1 Vers 15: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Im Kehlbereich (ist ein Lotus) mit sechzehn Blütenblättern, und in der Mitte der Augenbrauen ein zweiblättriger (Lotus). An der Öffnung zum Absoluten (Brahmarandhra), am großen Weg (d.h. an Sushumna gelegen), wird ein tausendblättriger (Lotus) gelehrt.


कण्ठे स्यात्षोडशदलं भ्रूमध्ये द्विदलं तथा |
सहस्रदलमाख्यातं ब्रह्मरन्ध्रे महापथे || १५ ||
kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvi-dalaṃ tathā |
sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe || 1.15 ||
kanthe syat shodasha-dalam bhru-madhye dvi-dalam tatha |
sahasra-dalam akhyatam brahma-randhre maha-pathe || 1.15 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kaṇṭhe : im Kehlbereich ("in der Kehle", Kantha)
syāt : ist ("sei", as)
ṣoḍaśa-dalam : (ein) sechzehnblättriger (Lotus, Shodashadala)
bhrū-madhye : in der Mitte der Augenbrauen (Bhrumadhya)
dvi-dalam : (ein) zweiblättriger (Lotus, (Dvidala)
tathā : und (Tatha)
sahasra-dalam : (ein) tausendblättriger (Lotus, Sahasradala)
ākhyātam : wird gelehrt ("angegeben", Akhyata)
brahma-randhre : an der Öffnung zum Absoluten, an der Fontanelle (Brahmarandhra)
mahā-pathe : am großen Weg (Mahapatha); oder: an bzw. entlang der Sushumna

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 16 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einigen Lesarten im 1., 3. und 4. Pada als Vers 5cd-6ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. Dort heißt es im 1. Pada ṣoḍaśāraṃ viśuddhākhyam "(im Kehlbereich ist ein Rad mit) sechzehn (Shodasha) Speichen (Ara) mit der Bezeichnung (Akhya) das Reine (Vishuddha)" statt kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalam.

Das Wort padmam "Lotus" (Padma) wird im Einklang mit der syntaktischen Konstruktion (Anvaya) des vorangehenden Verses (14) mitverstanden.

Es handelt sich um das Vishuddha Chakra, Ajna Chakra und Sahasrara Chakra. Damit wurden in diesem und dem vorangehenden Vers die sieben Haupt-Chakras genannt. Interessanterweise hieß es in Vers 12 "Wer die sechs Energiezentren ... in seinem Körper nicht kennt ...", was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, dass das Sahasrara Chakra genannte siebte Chakra sich außerhalb bzw. oberhalb des physischen Körpers befindet.

Mahapatha ist hier möglicherweise nur ein Synonym für Brahmarandhra. In der Hatha Yoga Pradipika (3.4) werden brahma-randhra und mahā-patha allerdings auch als zwei Synonyme für die Sushumna erwähnt (vgl. die Anm. zu Vers 56 der 1. Version des Goraksha Shataka). Man könnte daher mahā-pathe auch als "am großen Weg" im Sinne von "entlang der Sushumna" verstehen und auf beide Verse 14 und 15 beziehen. Dies wäre ein Hinweis darauf, dass sich alle Chakras entlang der Sushumna befinden, die am Brahmarandhra endet.

Sanskrit Text Goraksha Paddhati

(Version Divine Yoga Institute, Kathmandu 2017, Druckfehler korrigiert nach der Edition der Laxmi-Venkateshwar Press, Bombay)

śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham |

yasya sānnidhya-mātreṇa cid-ānandāyate tanuḥ || 1.1 ||

namas-kṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam |

abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam || 1.2 ||

gorakṣa-saṃhitāṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā |

dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam || 1.3 ||

etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |

yad vyāvṛttaṃ mano bhogād āsaktaṃ paramātmani || 1.4 ||

dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |

śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajata sattamāḥ || 1.5 ||

āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |

dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || 1.6 ||

āsanāni ca tāvanti yāvanto jīva-jantavaḥ |

eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 1.7 ||

catur-āśīti-lakṣāṇām ekaikaṃ samudāhṛtam |

tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 1.8 ||

āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam etad udāhṛtam |

ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam || 1.9 ||

yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen

meḍhre pādam athaikam eva hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram |

sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyed bhruvor antaraṃ

hy etan mokṣa-kapāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 1.10 ||

vāmorūpari dakṣiṇaṃ ca caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā

dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |

aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed

etad vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ padmāsanaṃ procyate || 1.11 ||

ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ dvi-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |

sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.12 ||

eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam |

sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.13 ||

catur-dalaṃ syād ādhāraṃ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaḍ-dalam |

nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi || 1.14 ||

kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvi-dalaṃ tathā |

sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe || 1.15 ||

Konkordanz der Verse der Goraksha Paddhati, des Goraksha Shataka (Version 1 und 2), der Yogachudamani Upanishad, der Hatha Yoga Pradipika und weiterer Texte

Diese Übersicht betrachtet die Verse der Goraksha Paddhati (Shataka 1 und 2) im Vergleich mit identischen oder ähnlich lautenden Versen der Versionen 1 und 2 des Goraksha Shataka, der Yogachudamani Upanishad, des Viveka Martanda, des im Yoga Tarangini Tika gannten Kommentar überlieferten Textes, der Hatha Yoga Pradipika, der Gheranda Samhita sowie der Siddha Siddhanta Paddhati.


Abkürzungen:

  • GP Goraksha Paddhati (Shataka 1 und 2)
  • GŚ 1 Goraksha Shataka (Version 1)
  • GŚ 2 Goraksha Shataka (Version 2)
  • YCU Yogachudamani Upanishad
  • VM Viveka Martanda
  • YTT Yoga Tarangini Tika
  • HYP Hatha Yoga Pradipika
  • GhS Gheranda Samhita
  • SSP Siddha Siddhanta Paddhati
  • ab / cd erstes und zweites / drittes und viertes Versviertel (Pada)
  • ef fünftes und sechstes Versviertel
  • = ist identisch mit
  • ist nahezu identisch mit
  • ~ ist ähnlich, weicht mehr oder weniger stark ab von


GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTT HYP weitere Texte GP (Shataka 2) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTT HYP weitere Texte
1.1 = 1 = 1 = 1 2.1
1.2 = 3 = 3 = 3 2.2
1.3 (ab) ~ 4 ~ 1ab ~ 4 2.3
1.4 ~ 2 = 5 = 4 = 5 2.4
1.5 ~ 3 = 6 ~ 5 = 6 2.5
1.6 ~ 4 = 7 ~ 2 ~ 6 = 7 2.6
1.7 (ab) ~ 5 ~ 8 ~ 10 = 8 ~ GhS 2.1ab 2.7
1.8 (a/d) ~ 6 = 9 ~ 11 = 9 ~ GhS 2.1c/ = 2.2b 2.8
1.9 (cd) ~ 7 ~ 10 = 3ab ~ 12 = 10 2.9
1.10 ~ 8 ~ 11 ~ 13 ~ 11 = 1.37 ~ GhS 2.7 2.10
1.11 ~ 9 = 12 ~ 14 = 12 ~ 1.46 ~ GhS 2.8 2.11
1.12 ~ 13 ~ 3cd/4ab = 13 ~ SSP 2.31 2.12
1.13 ≃ 14 = 14 2.13
1.14 ≃ 15 ~ 4cd/5ab ≃ 17 = 15 2.14
1.15 = 16 ~ 5cd/6ab = 18 = 16 2.15
1.16 2.16
1.17 2.17
1.18 2.18
1.19 2.19
1.20 2.20
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTT HYP weitere Texte GP (Shataka 2) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTT HYP weitere Texte
1.21 2.21
1.22 2.22
1.23 2.23
1.24 2.24
1.25 2.25
1.26 2.26
1.27 2.27
1.28 2.28
1.29 2.29
1.30 2.30

Siehe auch