Arudha Sthiti

Aus Yogawiki

Ârûdha - Sthiti - Jnâna: Entfaltetes Verharren in Erkenntnis

Dialog zwischen einem Schüler und seinem Meister Ramana Maharshi aus einer Nacherzählung von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Der Weg zum Selbst" 1944 erschienen im Rascher Verlag Zürich

Der Schüler: Was ist »Entfaltetes Verharren« (ârûdha-sthiti) in Erkenntnis (jnâna)?
Der Meister: Es ist der stete wandellose Stand völligen Eins- und Aufgesogenseins des Gemütes im Selbst. Es ist der Stand, aus dem das Gemüt nie wieder aufsprießt, nie wieder geboren wird, — wenngleich er sich ganz von selber ohne die leiseste Anstrengung einstellt. Wie jeder, der seinem leiblichen Bewußtsein verhaftet ist, aus ganz geläufiger, ihm angeborener Ueberzeugung sagt: »ich bin keine Ziege, kein Ochse oder sonst ein Tier, ich bin ein Mensch«, — so festgewurzelt ist im Erkenntnisvollen (jnânin) das Wissen, ganz natürlich und unwillkürlich des Selbst inne zu sein. Ein Innesein, dank dem er sagt: »ich bin nichts von meinem stofflichen Leibe außen bis hinein zu dem zarten singenden Laut im Innersten (nâda)1, sondern ich bin das Selbst (âtman), das seiend (sat), unstofflich-geistig (chit) und selig (ânanda) ist.
Der Schüler: Es gibt sieben Stufen der Erkenntnis (jnâna-bhûmikâ), — welche der sieben muß man wirklich erreicht haben, um als Erkennender zu gelten?
Der Meister: Die vierte.
Der Schüler: Warum werden dann noch drei weitere Stufen gelehrt?
Der Meister: Die Stufen vier bis sieben beziehen sich nur auf unterschiedliche Eigenschaften des bei Lebzeiten Erlösten (jîvanmukta), nicht aber auf den Stand der Befreiung durch :Erkenntnis. In bezug auf ihn besteht kein Unterschied zwischen ihnen.
Der Schüler: Wenn aber der Stand der Befreiung für alle vier gleichmäßig gilt, warum verweilt dann die heilige Ueberlieferung so ausgiebig bei der letzten?
Der Meister: Wenn die Ueberlieferung den besonders preist, der die höchste Stufe erreicht hat, so gilt das nur seiner besonders preiswürdigen Vergangenheit in früheren Leben, als deren Ergebnis er nunmehr beständige geistige Seligkeit genießt. Weiter ist kein Anlaß zu diesem Preisen.
Der Schüler: Es gibt keinen, der nicht nach dieser beständigen geistigen Seligkeit verlangte, Warum ringen nicht alle, die Erkenntnis erlangt haben (jnânin), nach dieser höchsten :Stufe?
Der Meister: Sie ist kein Ding, das sich erreichen läßt, weil einer danach verlangt oder darum ringt. Sie ist in Wirklichkeit ein Ergebnis angesponnenen Karman aus früheren Leben, das jetzt eben noch Frucht trägt (prârabdha karman); und so sagt die heilige Ueberlieferung, die den Erkennenden der letzten Stufe preist, nicht, daß wer eine andere der oberen Stufen erreicht hat, nicht ein Erkennender (jnânin) sei, Schon auf der Vierten Stufe ist das Ich völlig vernichtigt, — wie sollte da einer noch tätig sein mit Wünschen und Bemühungen nach einer anderen Stufe? Solange überhaupt noch Wunsch oder Bemühen da sind, ist einer überhaupt nicht in Erkenntnis vollendet.
Der Schüler: Einige heilige Texte sagen: der Stand, in dem alle Tätigkeit der Sinnesorgane und des Gemüts bezwungen und vernichtigt ist, stellt den höchsten, letzten Stand dar. Wenn dem so ist, wie verträgt sich dieser höchste Stand mit dem Zustand eines Menschen, der im Vollbesitz seiner Sinnes- und Gemütserfahrungen ist?
Der Meister: Wenn dies das Zeichen des höchsten Standes wäre, dann wäre an ihm wirklich nichts Ausgezeichnetes gegenüber dem Zustand traumlos tiefen Schlafs, in dem Sinne und Gemüt ihre Tätigkeit eingestellt haben. Weiter: wenn dieser Stand, wie es nicht anders sein kann, vorübergehend und nicht ununterbrochen ist, also nicht fortdauert, indes Sinne und Gemüt in Tätigkeit sind, — wie kann man da sagen, es sei der wahrhaft wirkliche und eingeborene (sahaja) Stand? Dank angesponnenen Karman aus früheren Leben (prârabdha) stellt er sich für begrenzte Zeitspannen ein, ja er kann bis an den Tod dauern, aber keinesfalls kann er der letzte, höchste Stand heißen. Wer ihn so nennt, behauptet, daß viele alte Verfasser von Vedântaschrif ten und anderen Werken über Erkenntnis (jiïâna), ja der höchste göttliche Herr des Alls die Wahrheit nicht wissen! Sagt einer, das sei allein der wahre, höchste Stand, wenn Sinne und Gemüt bar aller Betätigung sind, — wie kann dieser Stand »rund und vollkommen« (paripûrna) heißen? Nur das ausgeponnene Karman aus früheren Leben ist die Ursache für das Spiel der Betätigung (pravritti) im Erkennenden und für das Aufhören dieses Spiels (nivritti); daher haben die großen Weisen gelehrt, daß der naturhaft unwillkürlich wandellose Stand (sahaja-nirvikalpa-sthiti) der höchste und letzte ist,
Der Schüler: Was ist dann der Unterschied zwischen traumlos tiefem Schlaf (sushupti), in dem die Tätigkeit der Sinne und des Gemüts zur Ruhe gekommen ist, und des Standes »Wach in traumlosem Schlaf« (jâgrat-sushupti), wie man die vollkommene Stille des dem Selbst-Inneseins bezeichnet hat?
Der Meister: In der Leere des traumlos tiefen Schlafs ist nicht bloß die Tätigkeit der Sinne und des Gemüts abwesend, es fehlt auch jedes Innesein. Aber im Zustand »Wach in traumlos tiefem Schlaf« (jâgrat-sushupti) waltet reines Innesein. Darum wird er auch »Schlaf im Innesein« oder »Schlaf mit Innesein« genannt.
Der Schüler: Warum wird ein und dasselbe Selbst (âtman) der »vierte« Stand (turîya) und »über den Vierten hinaus« (turîya atîta) genannt?
Der Meister: Der »vierte« Stand heißt »turîya«, die drei anderen, die wechselnd kommen und gehen: Wachen, Traumschlaf, Tiefschlaf — letzterer auch »vishva«: all, »taijasa«: strahlend, »prâjfia«: erkennend, weise geheißen, -- sind nicht das Selbst. Um anzu¬deuten, daß das Selbst von diesen dreien verschieden ist, ihnen als unberührter Zeuge, als schauendes Auge zusieht, heißt es der »Vierte« (turîya) oder der »zuschauende Zeuge« (sâkshin). Wer Vollendung im vierten Stande erreicht, ist über die drei anderen hinaus, darum kann das Selbst nicht länger als »Vierter« bezeichnet werden, Die Haltung des zuschauenden Zeugen am Selbst ist dann Nicht-Sein (abhâva) : nicht-seiend samt den drei übrigen, In diesem Stande: über die drei anderen hinaus, rein in sich selber ruhend, heißt das Selbst »über den Vierten hinaus« (turîya-atita), — mehr will die Unterscheidung zwischen »Viertem« und »über den Vierten hinaus« nicht besagen.
Der Schüler: Was nützen die Schriften heiliger Offenbarung einem, der Erkenntnis erlangt hat (jnânin) ?
Der Meister: Der Erkennende strahlt den Besitz von alledem aus, was die heilige Offenbarung an Eigenschaften seines Standes verzeichnet. Darum haben die heiligen Schriften für ihn keinerlei Nutzen mehr.
Der Schüler: Besteht eine Wechselbeziehung zwischen Vollendung in Wunderkräften (siddhi) und Befreiung (mukti)?Der Meister: Nur das Erforschen des Selbst (âtma-vichâra) führt zur Befreiung. Alle Wunderkräfte sind Schöpfungen der Mâyâ, der weltweit Schein schaffenden Kraft. Vollendung im Selbst (âtma-siddhi) allein ist die ewige und wahre Wunderkraft; die Betätigung der Mâyâ als zeitweilige wunderwirkende Kräfte ist überhaupt keine wunderkräftige Vollendung (siddhi). Solche Wunderkräfte (siddhi) werden angestrebt und erlangt, um Aufsehen zu erregen, Ruhm zu gewinnen und sinnlichen Wünschen Befriedigung zu schenken. Aber manche Menschen besitzen sie rein auf Grund ihres angesponnenen Karman aus früheren Leben (prârabdha), ohne daß sie nach ihnen verlangt hätten. Wisse: die Einheit deines Selbst mit dem Unbedingten ist die wunderbarste Vollendung. Dies ist der höchste Stand des Eins-Seins (sâyujya): er ist Befreiung dank dem Erlebnis der wirklichen Einheit mit dem Unbedingten (aikya-mukti).
Der Schüler: Wenn das Erlebnis, daß wir völlig eines sind mit dem Unbedingten, als das wahre Wesen der Befreiung zu gelten hat, widerspricht das nicht manchen Sätzen der heiligen Überlieferung (shruti) und heiliger Weiser, daß Befreiung sich nur bei leiblichem Leben erreichen läßt, solange man die sterbliche Hülle nicht abgeworfen hat?
Der Meister: Alle Betrachtung über das Wesen der Befreiung und wie sie erlebt wird, setzt Bindung irgend einer Art und Gestalt voraus. Die Wirklichkeit aber liegt wo anders. Vom höchsten Blickpunkt aus betrachtet, vom reinen ewigen Geistwesen (pu¬rusha) her, hat es nie eine Bindung gegeben, noch gibt es eine jetzt oder künftig. Der Begriff »Bindung« ist völlig inhaltleer und bezieht sich auf nichts Wirkliches, — das ist die unzweideutige Feststellung eines Tatbestandes, den der Vedânta lehrt. Wie kann der Begriff »Befreiung«, der nur in Entsprechung zu »Bindung« Sinn hat, irgend eine Kraft besitzen, wenn es etwas wie »Bindung« vom höchsten Blickpunkt der Wahrheit her gesehen gar nicht gibt? Daher der endlose Streit über das Wesen von Bindung und Lösung, — und keiner begreift: was dem Gebrauch beider Begriffe zugrunde liegt, ist so leer und sinnlos, wie der Streit über den schlechten Charakter des Sohnes einer Frau, die nie geboren hat, oder über Form und Farbe von Hasengeweihen, — Dinge, die es gar nicht gibt.
Der Schüler: Dann wäre was die heilige Ueberlieferung (shruti) und Weise alter Zeiten des langen und breiten über das Wesen von Bindung und Erlösung lehren, ungereimt, belanglos und ganz unwahr, War es recht, daß sie so falsche Dinge lehrten?
Der Meister: Nein, diese Lehren sind weder ungereimt noch belanglos, sie sind auch nicht falsch oder unwahr. Der Begriff »Befreiung« ist von Erkenntnis und Wissen geprägt, sein Gebrauch ist gerechtfertigt, denn er dient dazu, die falsche, scheinhafte Vorstellung der »Bindung« zu zerstören, die im Gemüt des Menschen von vielen Leben her seit Weltaltern kraft Nichtwissen Wurzel gefaßt hat, Der Gebrauch der Wörter »Bindung« und »Befreiung« besagt so viel und nicht mehr. Schon der Umstand, daß verschiedene Menschen das Wesen der Befreiung verschieden umschreiben, erlaubt den Schluß, daß die Vorstellung »Befreiung« ein reines Geschöpf der Einbildung ist,
Der Schüler: Wenn »Bindung« und »Befreiung« reine Einbildungen sind, ist doch alles Bemühen geistlicher Adepten, die den Lehren ihres Guru lauschen (shravana), über sie nachsinnen und sie in ihrem Gemüt bewegen (manana) und durch zäh vertiefte Schau ins höchste Wirkliche einzudringen suchen (nididhyâsana), eitel und ohne wirkliches Ziel?
Der Meister: Nein, ihr Bemühen ist nicht eitel. Zu wissen — ohne einen Schatten von Zweifel —, daß es so etwas wie »Bindung« und »Befreiung« gar nicht gibt, ist das höchste Ziel, das es mit allen Mitteln zu erreichen gilt. Nur durch die Verfahren (sâdhanâ), von denen wir sprachen, läßt es sich erreichen: wirklich zu erfahren, daß beide auf der Ebene höchster Erfahrung nicht existieren.
Der Schüler: So gibt es einen Bereich der Erfahrung, aus dem man sprechen kann: eigentlich gibt es weder Befreiung noch Erlösung?
Der Meister: Allerdings: allein im Bereich der Erfahrung ist diese Erkenntnis gewonnen. Sie beruht nicht bloß auf heiliger Ueberlieferung.
Der Schüler: Wie soll man das erfahren?
Der Meister: Die Vorstellungen »Bindung« und »Befreiung« sind nichts als Wandlungsformen, wechselnde Gestalten (vikâra) des Gemüts. Sie haben kein eigenes Wesen, keinen eigenen Bestand und können nicht aus eigener Kraft wirken. Sie sind nur Veränderungen an einem anderen; es muß eine Größe da sein, die unabhängig von ihnen ist, die ihre Quelle ist und sie trägt. Forscht man dieser Quelle nach, um zu wissen, von wem eigent-lich Bindung und Befreiung gelten, so findet man, sie werden von »mir« ausgesagt: von einem selber, Wenn du dann ernstlich fragst »Wer bin ich?«, so wirst du sehen: etwas wie »Ich« oder »mir« gibt es nicht. Was übrig bleibt, wenn man erfährt, daß kein Ich da ist, wird zweifelsfrei und lebendig als Licht in sich selbst und allein in sich ruhend erlebt. Dieses lebendige Erlebnis, geradezu und unmittelbar als Erfahrung der höchsten Wahrheit, kommt ganz lautlos und von selber und hat gar nichts Außergewöhnliches und Befremdendes an sich, kommt jedem, der nur eben stillhält in einwärts gewendetem Fragen und sein Gemüt keinen Augenblick nach außen fließen läßt oder eine Zeit mit Geschwätz verbringt, Es ist nicht der leiseste Zweifel: wer diese Wirklichkeit erlebt hat und so in völliger Einheit mit dem Selbst verharrt, — für den gibt es nicht Bindung noch Befreiung.
Der Schüler: Wenn es also beides in Wahrheit nicht gibt, woher dann die unmißverständliche Erfahrung des Leidens in der Welt und das ahnungslos nichtwissende, verblendete Hangen an der Welt?
Der Meister: Diese beiden, das Leiden und Hangen an der Welt, werden erlebt, als seien sie wirklich, wenn einer sich vom eingeborenen ursprünglichen Stand des reinen Selbst hinweg verliert und nie darin verweilt.
Der Schüler: Kann jeder zweifelsfrei und unmittelbar erfahren, was er erkennt, sei wirklich der eingeborene ursprüngliche Stand? Der Meister: Ganz gewiß; das ist jedem ohne Zweifel möglich. Der Schüler: Wie kann man sagen, diese Erfahrung sei in jedermanns Reichweite?
Der Meister: Jedermann erfährt, daß er nicht aufhört zu sein, auch wenn die ganze Welt, Lebendiges und Lebloses, aufhört, da zu sein, sobald er in traumlos tiefen Schlaf versinkt, in Ohnmacht fällt oder andere Zustände erfährt, in denen das Bewußtsein schwindet, Unser eigenes Da-Sein, zu allein Zeiten und unabhängig von allem Uebrigen, ist ein Ding zweifelsfreier unmittelbarer Erfahrung. So ist das reine Sein, einig und gleich für alle, unmittelbar zu erfahren in ewiger Gegenwart als unser eingeborener urspünglicher Stand. Alles Uebrige, das vorderhand als Erfahrung der Erleuchtung oder des Nichtwissens umschrieben werden kann, sind bloße Veränderungen oder Wandlungsformen an der Zuständlich¬keit des Gemüts (bhâva-vikâra). Alle diese Erfahrungen und Erlebnisse sind unserem eingeborenen ursprünglichen Wesen völlig fremd, — das ist der Weisheit letzter Schluß.

Literatur

  • Der Weg Zum Selbst von Heinrich Zimmer, Rascher Verlag Zürich, 1944, 1. Auflage